Der grausame Tod von George Floyd hat in weiten Teilen der russischen Gesellschaft weniger für eine Debatte gesorgt als vielmehr die Ausschreitungen und Proteste danach. „Seit zwei Wochen gibt es in den USA Massenproteste gegen Polizeigewalt und Rassismus – und etwa genauso lang gehen in Russland die Debatten darüber, ob die systemische Ungerechtigkeit des Staates einzelne Gewaltakte seitens der Randalierer rechtfertigt“, schreibt etwa Meduza. Und in der Moskauer Ausgabe von The Village heißt es: „Die Bilder von eingeschlagenen Schaufenstern und umgekippten Autos waren bei manchen Russen eher Thema als Rassismus oder Polizeigewalt.“
Warum ist das so? Beide Medien befragten dazu den russischen Historiker und USA-Experten Ivan Kurilla, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg. dekoder bringt Ausschnitte aus beiden Interviews.
Meduza: Warum herrscht in Russland solch große Aufregung ob der Unruhen in den Vereinigten Staaten?
Für Russland sind die Vereinigten Staaten traditionell der „Significant Other“. Darauf, was in den USA passiert, schauen sowohl die Regierung als auch die Gesellschaft. Doch in einer Krisensituation sucht sich (auf der Erfahrungsgrundlage jenes Anderen) jeder das aus, was ihm nah und wichtig erscheint. In diesem Sinne offenbart die Masse an Kommentaren zu Amerika nicht nur, was man derzeit in Russland über die USA weiß – sondern auch die Spaltung in Russland selbst.
Wenn die Menschen über die Vereinigten Staaten sprechen, müssen sie sich nicht zensieren. Wobei die Überlegungen über die amerikanischen Proteste ein kompliziertes Bild der russischen Gesellschaft zeigen: Rassistische Ausbrüche, eine Spaltung in Rechts und Links, Unterstützung für die Polizei – all das wird weitaus offener ausgesprochen, als dieselben Leute dies tun würden, wenn es um Ereignisse im eigenen Land ginge.
Wenn die Menschen über die Vereinigten Staaten sprechen, müssen sie sich nicht zensieren
Die Russen reproduzieren die wesentlichen Spaltungen, die auch innerhalb der USA charakteristisch sind. Doch typisch in Russland ist, dass nur ganz wenige die gewalttätige Komponente des Aufruhrs rechtfertigen. Eingeschlagene Schaufenster und geplünderte Läden gelten als offensichtliche Verbrechen, die durch keinen guten Zweck geheiligt werden.
Tatsächlich besteht ein heftiger Kontrast zwischen betont friedlichen Protestversuchen in Russland in den letzten zehn Jahren und den Bildern aus US-amerikanischen Städten.
Kommentatoren aus Staatsmedien verweisen gerne darauf, dass jeglicher Protest gesetzeswidrig ist und dass friedliche Demonstranten Plünderungen den Weg ebnen. Diese Idee fügt sich gut ein in die alte Anti-Maidan-Sichtweise des Kreml.
Die Fernsehbilder könnten bei den Menschen jedoch auch einen anderen Effekt haben: So also kann politischer Protest auch aussehen! Und sollten wir als Folge der Aufstände ernsthafte Veränderungen in der amerikanischen Politik sehen, so wird auf die Frage „Wollt ihr die gleichen Zustände haben wie in New York?“ die Antwort vielleicht lauten: „Ja, das wollen wir.“
The Village: Könnte es Aufstände wie in den USA auch in unserem Land geben?
100-prozentig ausschließen kann man nichts, aber in Russland ernsthafte Massenproteste vorherzusagen, ist quasi unmöglich. Bisher sind solche Vorhersagen immer missglückt. Das gegenwärtige System hat immer noch ein Sicherheitspolster, und das ist dicker, als Beobachter manchmal denken.
Die moderne russische Polizei ist gewappnet, Menschen zu verjagen, die auf die Straße gehen. Sowohl die technische Ausstattung als auch die Ausbildung der Nationalgarde und Polizei ist darauf ausgerichtet Massenunruhen niederzuschlagen, die es in Russland derzeit nicht gibt und schon recht lange nicht mehr gegeben hat. Im Fall der amerikanischen Polizei dagegen sind Massenunruhen nicht das Problem Nummer eins, auf das man sich vorbereitet.
Mit Blick auf Amerika sieht unser Regime jetzt, wie Protest-Szenarien Wirklichkeit werden können. Und das kann seine Angst verstärken
In Russland haben die Menschen Angst vor der Nationalgarde und der Polizei. Eine der Strategien des Regimes besteht darin, dem Volk zu zeigen, wie viele Polizisten es gibt, wie stark sie bewaffnet sind und wie sie Demonstranten auf den Kopf schlagen. Die Nationalgarde und die russische Polizei sind quasi ausgebildet für das, was in den USA jetzt gerade vor sich geht.
Doch Angst haben beide Seiten: Dass unser Regime die Polizei derart trainiert, zeigt, wie sehr es solche Ereignisse wie in den USA fürchtet. Und mit Blick auf Amerika sieht unser Regime jetzt, wie solche Szenarien Wirklichkeit werden können. Und das kann die Angst verstärken (aber vielleicht sind das nur meine Mutmaßungen).
Meduza: Ist Trump an allem Schuld?
Man hört oft, dass die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten die Spaltung vertieft hat. Mir scheint aber vielmehr, dass Trump nur ein Symptom für die Spannungen war, die die amerikanische Gesellschaft schon lange vor 2016 erlebte.
Diese Spannungen in Amerika werden gemeinhin als Culture Wars bezeichnet: Dazu gehören Religionskonflikte oder Konflikte in Familienfragen, das Recht auf Abtreibung, die Einstellung zu Feminismus und zu neuen Geschlechterrollen, zu leichten Drogen, zu Klimawandel und natürlich zur Frage der Hautfarbe.
Trump war nur ein Symptom für die Spannungen, die die amerikanische Gesellschaft schon lange vor 2016 erlebte
Aber die Krise, in der sich Amerika seit einigen Jahren befindet, hat gezeigt, dass die Annahme, während der Culture Wars würden sich gesamtgesellschaftliche Grundwerte herausbilden, illusorisch war. Ein großer Teil der Amerikaner war nicht bereit zu solch einem raschen Diskurswandel und wurde allmählich unzufriedener. Trumps Erfolg hat diesem Teil der Amerikaner lediglich ermöglicht, aus dem Schatten zu treten.
Für die Organisation des Aufruhrs gibt er weiterhin den linken Antifa-Genossen die Schuld, und er droht, sie als terroristisch einzustufen. Dabei ist das Problem nicht nur, dass es wahrscheinlich überhaupt keine monolithische Antifa gibt. Viel schlimmer ist vielleicht, dass diese Anschuldigungen nur die Rhetorik einiger Politiker der Demokraten widerspiegeln, die den gegenwärtigen Konflikt ebenfalls aus dem Handeln externer Kräfte heraus erklären – am ehesten aus Russland. Keine der beiden Seiten blickt der Realität in die Augen.
The Village: Warum wittert man in den USA schon wieder eine russische Spur?
Das ist nichts Neues: Für ein politisches System ist es sehr bequem, die Verantwortung für eine Krise im Land zu exportieren. Denn wenn die Verantwortlichen im eigenen Land sind, dann wird das wahrgenommen als Krise der politischen Elite, und die muss gelöst werden. Wenn es aber ein äußerer Feind ist, dann muss man eh nicht mit ihm verhandeln – man muss ihn anprangern und politisch ausgrenzen.
Es ist eine nahezu instinktive Reaktion der Eliten in beiden Ländern – sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben
Es gibt einen alten Diskurs aus Zeiten des Kalten Krieges, der nach Trumps Wahl wiederbelebt wurde: Jeder in Amerika weiß, dass Russland böse ist, und dass es alles Böse in Amerika nur deshalb gibt, weil Russland sich wieder eingemischt hat. Gleichzeitig grassiert in Russland der Antiamerikanismus: Amerika ist schlecht und will Böses. Wenn in Russland jetzt etwas losbricht, dann hören wir sofort, dass das an den Amerikanern liegt. Es ist eine nahezu instinktive Reaktion der Eliten in beiden Ländern – sich gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben.