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Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

Knapp acht Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine eskaliert Russland die Situation weiter: In einer TV-Ansprache hat Wladimir Putin am 21. September eine „Teilmobilmachung“ verkündet. Offiziell 300.000 Reservisten will der Kreml in den Krieg schicken. Der Begriff „Teilmobilmachung“ ist im Gesetzestext allerdings dehnbar, was die Drohkulisse noch zusätzlich verstärkt. 

Hinzu kam aus Moskau am Dienstag die Ankündigung, die russisch (teil)besetzten Gebiete der Ukraine durch sogenannte „Referenden“ quasi zu annektieren. Damit würde Russland insgesamt rund ein Fünftel des ukrainischen Territoriums zum eigenen Staatsgebiet erklären. Sollte die NATO (durch ihren Helfershelfer Ukraine) das selbsterklärte russische Territorium angreifen, würde Russland sich notfalls auch mit Atomwaffen verteidigen, warnte Putin in seiner TV-Ansprache – das, so der Kreml-Chef, sei kein Bluff.

Manche Beobachter bewerten diese Schritte als Bereitschaft zu einem „totalen Krieg“, andere verweisen auf militärische Erfolge der Ukraine und sehen Putin in die Ecke gedrängt: Die Eskalation sei eigentlich ein Signal zur Verhandlungsbereitschaft und der Versuch, eine für Russland möglichst günstige Position zu schaffen. 

Auf dem Portal Carnegie politika fragt der Analyst Alexander Baunow, warum Putin die neue Eskalationsstufe zündet und welche Folgen sie womöglich nach sich ziehen wird.

Quelle Carnegie

Innerhalb eines Tages hat die Duma [am 20. September] ohne jede Vorbereitung oder Ankündigung in zweiter und dritter Lesung Änderungen im Strafgesetzbuch eingeführt. Diese sehen harte Strafen während einer Mobilmachung vor, falls sich jemand dem Wehrdienst entzieht, sich nicht meldet, sich dem Feind ergibt oder Befehlen verweigert.

Gleichzeitig haben alle ganz oder teilweise durch russische Truppen besetzten ukrainischen Gebiete die Bitte geäußert, umgehend „Referenden“ über eine Angliederung an Russland durchzuführen. Bereits jetzt – ebenso rasant – werden konkrete Daten genannt: schon Ende dieser Woche.

Die inoffiziell für den Abend [des 20. Septembers] angekündigte Ansprache von Wladimir Putin wurde auf den Morgen verschoben. Dahinter könnten die letzten Zuckungen eines Apparat-internen Tauziehens gestanden haben, oder die letzten diplomatischen Bemühungen der westlichen Regierungschefs angesichts des Übergangs in ein neues Stadium – nächtliche Anrufe aus Berlin, Paris, Washington. Oder bloß die Arbeit an der Rede [ausgestrahlt am Morgen des 21. Septembers], die Putin für historisch hält und die dennoch förmlich und trocken geriet, bedrohlich und beschwichtigend zugleich – mit einem Feind, der vor den Toren steht, einer Mobilmachung, die nur in Teilen stattfindet, und einem Verteidigungsminister Schoigu, der schon alles irgendwie erklären wird.

„Referenden“ und „Teilmobilmachung“: Wozu?

Die Kombination aus all dem ist eine Botschaft an den Westen: Ihr habt es gewagt, in der Ukraine gegen uns zu kämpfen, dann versucht jetzt mal, in Russland selbst gegen uns zu kämpfen (besser gesagt, in dem Gebiet, das wir zu russischem Gebiet erklären). In der Hoffnung, dass er es nicht wagen wird.

Gleichzeitig ist es ein Angebot, den Konflikt dort oder in etwa dort zu beenden oder einzufrieren, wo die Frontlinie jetzt verläuft: Ihr wolltet die alten, milderen Bedingungen nicht akzeptieren, also müsst ihr nun mit den harten leben, und die, die dann folgen, werden noch härter sein. In der Hoffnung, dass sie Angst bekommen.

Innenpolitisch bewirken diese drei Ereignisse, dass aus einer „Spezialoperation“ auf fremdem Territorium die Verteidigung russischen Bodens wird. Das verleiht den Machthabern traditionell fast unbegrenzte Rechte gegenüber der Bevölkerung. Auch wenn dieser Abklatsch von einem allumfassenden Volkskrieg, für den es keinen ersichtlichen Grund gibt, ein riskantes Unternehmen bleibt, wird man die entsprechenden Instrumente zunächst nur sparsam einsetzen.

Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe

Das Überschreiten der russischen Grenze durch ausländische Truppen, wo immer sie verläuft (auch wenn sie morgen woanders verlaufen sollte als gestern), gibt Putin sicherlich das formale Recht und quasi die moralische Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe. Die „Spezialoperation“ zum Krieg zu erklären, Maßnahmen zur Mobilmachung zu ergreifen, ukrainische Objekte zu attackieren, die man vorher nicht zu attackieren gewagt hat, und überzeugender mit Atomwaffen zu drohen.

Diese Entscheidung führen viele auf die angebliche Unterstützung und Zustimmung zurück, die Putin von den großen nicht-westlichen Ländern beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand bekommen habe. Wahrscheinlich war es jedoch eher umgekehrt: Putin hat von den größten nicht-westlichen Ländern das Signal bekommen, [den Krieg] möglichst schnell zu beenden. Und aufzuhören, in ihrem Namen zu sprechen, da er sie damit mit jener Schwäche und Inkompetenz beschmutzt, die Russland demonstriert hat, das sich zur militärpolitischen Avantgarde der nicht-westlichen Welt erklärt.

Wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg

Alles deutet darauf hin, dass die zeitlichen, personellen, materiellen und diplomatischen Ressourcen der „Spezialoperation“ zur Neige gehen. Putin unternimmt nun einen entschlossenen Schritt, um alles schnell zu beenden, indem man Gewinne und Verluste festhält. Und wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg, in der Hoffnung, dass die Bürger diesen für legitimer halten und man freie Hand für alle weiteren Entscheidungen hat. Das Problem ist, dass Russlands Gegenspieler nicht finden, dass Russland aus diesem Krieg überhaupt mit einem Gewinn hervorgehen sollte.

„Spezialoperation“ vs. Krieg

Seit Anbeginn des Krieges wurde der wesentliche Konflikt innerhalb der russischen Staatsmacht nicht zwischen einer Friedens- und einer Kriegspartei ausgetragen – die Stimmen gegen den Krieg und sogar die zugunsten eines Kompromisses wurden schnell zum Schweigen gebracht. Der Konflikt bestand zwischen der Kriegspartei und der Partei der Spezialoperation. Man könnte auch sagen, die Parteien des kleinen vs. großen Erfolgs, oder die Parteien des professionellen Kriegs vs. die Parteien des Volkskriegs.

Die Partei der Spezialoperation orientierte sich an den Erfahrungen Russlands in Südossetien, der Krim und Syrien und richtete sich darauf, das Kämpfen um den Erfolg den Profis zu überlassen. Der Krieg sollte an der Peripherie des nationalen Lebens verbleiben, während das Leben innerhalb des Landes insgesamt so weitergehen sollte wie zuvor.

Lange Zeit erschien es der russischen Führungsriege günstiger, den Anschein des normalen Lebens zu wahren und die Marktwirtschaft und die Konsumgesellschaft als beste Garanten für die Überwindung der Sanktionen anzusehen. Das könnte sich nun ändern.

Russische Offizielle sagen recht häufig, was sie tatsächlich denken. Wenn Putin behauptet, Russland führe gegen die Ukraine keinen Krieg, sondern unternehme dort eine begrenzte „Spezialoperation“, hat er im Rahmen seines Koordinatensystems nicht gelogen. Russland hat mit einem Teil seiner Streitkräfte Kriegshandlungen unternommen, nicht durchweg alle Ziele angegriffen, hat Flächenbombardements vermieden und vor allem nicht seine Wehrpflichtigen-Armee hinzugezogen.

Beim Wort Krieg erscheinen in den Köpfen der Durchschnittsrussen, zu denen auch Putin gehört, Bilder aus den Filmen und Wochenschauen über den Zweiten Weltkrieg. Daher dachte die russische Führung nach wie vor, dass sie etwas anderes macht, auch wenn die Folgen der Spezialoperation immer mehr an jene Bilder erinnern.

Das ist die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job

Bis vor Kurzem noch konnte man Putin als Vertreter, wenn nicht gar als Chef der Partei der Spezialoperation bezeichnen. Nachdem er sämtliche früheren Gleichgewichte zerstört hat, sorgt er jetzt, auf den Ruinen der Apparate, für ein Gleichgewicht zwischen denen, die übrig blieben. Sein ganzer Hintergrund als ehemaliger Geheimdienstler hat ihn zu einer „Spezialoperation“, und nicht zum Krieg greifen lassen. Schließlich ist das die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job.

Die Invasion in die Ukraine wurde auch deshalb nicht als Krieg, sondern als „Spezialoperation“ bezeichnet, weil sie nicht auf mehrere Jahre angelegt war. Wir haben gesehen, dass Putin in den verschiedensten Situationen nicht in Jahren denkt, sondern in „Spezialoperationen“, gewöhnlich mit einem Zeitrahmen von maximal ein paar Monaten. Da gab es die „Spezialoperation“ um seinen Einzug in den Kreml 1999/2000, die Operationen zur Vernichtung von NTW und YUKOS, die „Operation Nachfolger“ 2008, die Rückkehr an die Macht 2011/12, die „Nullsetzung“ seiner früheren Amtszeiten sowie der Zweite Tschetschenienkrieg und die Annexion der Krim. All diese „Spezialoperationen“ fanden in einem Zeithoritonz von höchstens einem halben Jahr statt. Es gibt keinerlei Zweifel, dass der Zeitraum für die Invasion in die Ukraine ähnlich geplant war; das haben Regierungsvertreter offen angedeutet.

Im Sommer war ein halbes Jahr vorbei, der Erfolg jedoch ausgeblieben. Das hat ganz von selbst eine Suche nach neuen Lösungen in Gang gesetzt, die über eine „Spezialoperation“ hinausgehen. Doch selbst in dem Moment, da die Schwierigkeiten an den Fronten offensichtlich wurden, hatte es Putin nicht eilig, den Krieg ganz nach oben auf die Agenda des russischen Staates zu setzen und ihn auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten – und hat ihn der operativen Peripherie überlassen.

Die Niederlage gegen die ukrainische Armee bei Charkiw gab den Anstoß zum Sieg der Partei einer allgemeinen Mobilmachung und eines Volkskriegs. Diese Niederlage hätte dazu nötigen können, die „Referenden“ über eine Angliederung der eroberten Gebiete an Russland aufzuschieben oder gänzlich abzusagen. Schließlich ist der Verlust eines Teils des eigenen Landes eine sehr viel größere Schmach als der Verlust fremder Gebiete mit unbestimmtem Status.

Putin hat sich aber für das Gegenteil entschieden. Die allgemein verbreitete Sicht der Bevölkerung in Russland auf die eigene Geschichte besagt, dass Russland zwar einen militärischen Misserfolg erleiden könnte, wenn es mit begrenzten Kräften jenseits seiner Grenzen kämpft, dass es aber in einem Volkskrieg auf eigenem Boden stets siegreich ist. Das ist der Kerngedanke dieses simplen Kniffs: Wir machen die eroberten Gebiete juristisch zu unserem Land, es war ja eh einst unser Land, und der Sieg wird unser sein.

Nicht die Beute ist das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen

Russische Stimmen haben verkündet – und je militanter sie sind, desto häufiger war das der Fall –, dass die Ziele der „Spezialoperation“ auf jeden Fall erreicht werden. Diese Formulierung ist deshalb bequem, weil die genannten Ziele derart schwammig und unbestimmt sind, dass man sie flexibel ändern kann. Wenn es nicht gelingt, die ganze Ukraine einzunehmen, kann man sich auch mit dem Süden und Osten begnügen. Wenn es dort nicht klappt, kann man sich auf das Territorium der Gebiete Donezk und Luhansk beschränken. Gelingt auch das nicht, und so stellt sich die Lage gerade dar, muss man das nehmen, was man hat, indem man den Status seiner Beute anhebt und sie zu neuen Regionen Russlands erklärt. Schließlich ist nicht die Beute das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen, also zu demonstrieren, dass mit Russland nicht zu scherzen ist und dass Russland darauf ein Anrecht hat.

In den letzten Wochen ist selbst diese fiktive Errungenschaft verloren gegangen. Um sie wiederzuerlangen, legt Putin wieder einmal die Latte höher und hofft, dass die anderen aussteigen und nicht so hoch gehen. Wenn er damit wiederum falsch liegt, wird er beweisen müssen, dass er auch dieses Mal nicht geblufft hat. Das könnte er möglicherweise auf noch zerstörerischere Weise tun.

 

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Die Geschichte der NATO-Osterweiterung

30 Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion ist ein alter „Krieg der Narrative”1 neu entfacht: Gab es in den 1990er Jahren ein Versprechen an die Sowjetunion beziehungsweise an Russland, dass sich die NATO nicht weiter Richtung Osten ausdehnt? Inmitten erneuter Spannungen durch einen massiven russischen Truppenaufmarsch an der Ostgrenze der Ukraine präsentierte Russlands Präsident Wladimir Putin im Dezember 2021 auf seiner alljährlichen Pressekonferenz weitreichende Forderungen an die USA und die NATO nach verbindlichen Sicherheitsgarantien. Kurz danach veröffentlichte die Regierung in Moskau Entwürfe für zwei Abkommen mit dem Ziel, eine weitere Öffnung der Atlantischen Allianz nach Osten sowie die Errichtung von US-Militärstützpunkten in früheren Sowjetrepubliken, die nicht der NATO angehören, zu verhindern. Auch müsse die NATO ihre Truppen auf die Positionen von 1997 zurückziehen und die USA müssten ihr Nukleararsenal aus Westeuropa entfernen. Die NATO und die USA hatten Ende Januar jeweils schriftlich auf die Forderungen Moskaus geantwortet, wobei sie klar machten, dass es in den großen Prinzipienfragen keinen Verhandlungsspielraum gibt. Zugleich boten sie jeweils weitere Gespräche an.

Für die NATO (und die EU) gilt: Jeder Staat ist frei, seine Bündnisse selbst zu wählen. Wer mit wem verbündet ist, liegt in der souveränen Entscheidung einzelner Staaten. Das ist die Grundbedingung der europäischen Sicherheitsordnung. Die russische Absicht: ein Ausdünnen der US-amerikanischen Präsenz in Europa und eine Neuaufteilung des Kontinents in Einflusszonen. Dies weist die Allianz strikt zurück.

Aus russischer Sicht liegt aber genau hier die Crux. Die europäische Sicherheitsordnung, wie sie sich seit 1992 herauskristallisiert und entwickelt hat, ist für den Kreml unter Putin nicht akzeptabel. Russland will einen cordon sanitaire, eine Pufferzone, zwischen sich und dem Westen schaffen.

Der Kreml ist nicht nur der Ansicht, dass die NATO-Erweiterung eine Bedrohung für Russland darstellt – sondern auch, dass sie im Widerspruch zu westlichen Zusicherungen steht, die Russland beziehungsweise der sowjetischen Führung 1990 im Zuge der deutschen Einheitsdiplomatie und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 gegeben wurden. Die NATO habe seit dem Kalten Krieg sein Land mit „fünf Erweiterungswellen“ ohne Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen „dreist betrogen“, behauptete Putin zuletzt im Dezember 2021. Zur Zeit der Krim-Annexion, im März 2014, sprach er gar vom „Verrat von 1990“ – der Westen habe Russland „viele Male belogen, Entscheidungen hinter unserem Rücken getroffen … Das ist [auch] bei der NATO-Osterweiterung passiert“. Sieben Jahre vorher, auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, beklagte er: „Was wurde aus den Zusicherungen unserer westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Paktes?“ 

Putins Vorgänger Boris Jelzin nannte die NATO-Osterweiterung schon 1993 „illegal“ – und bezog sich dabei auf den 2+4 Vertrag von 1990. 1997 erklärte Außenminister Jewgeni Primakow, ehemaliger Gorbatschow-Berater und Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes, dass mehrere westliche Führer „Gorbatschow gesagt hätten, dass kein einziges Land, das den Warschauer Pakt verlässt, der NATO beitreten würde“.

Haben die NATO-Partner eine verbindliche Zusage gemacht, auf eine Osterweiterung zu verzichten, um dann irgendwann eine klandestine Kehrtwende zu vollziehen? 

Laut Jelzin und Putin gab es nach dem Fall der Berliner Mauer fixe Zusagen des Westens bezüglich einer territorialen Ein- oder Selbstbegrenzung der NATO. Der Kontext hierzu ergab sich aus dem Umstand, dass Deutsche und Sowjets im Zuge der deutschen Wiedervereinigung aushandeln mussten, was genau und in welchem Zeitraum mit den 380.000 Soldaten der Roten Armee, die in der (ehemaligen) DDR stationiert waren, geschehen würde, und wie die UdSSR die ihr vorbehaltenen (Alliierten-)Rechte aufgeben würde. Moskau stimmte schlussendlich sowohl dem Rückzug seiner Truppen zu als auch dem Ende seiner alliierten Kontrollrechte. Außerdem erlangte das vereinigte Deutschland seine volle Souveränität und konnte frei seine Bündniszugehörigkeit wählen: die nun größere Bonner Republik blieb Mitglied der NATO. 

„Keinen Zoll ostwärts“: Was war gemeint?

Laut Putin hatte Moskau in diesen Fragen nur nachgegeben, weil die NATO dem Kreml zugesichert habe, sich künftig „keinen Zoll ostwärts“ auszudehnen. Dieses Versprechen sei später immer wieder gebrochen worden. Dass der Westen damit durchkam, liege vor allem daran, dass es nie eine verbindliche Vereinbarung oder ein schriftliches Abkommen zu diesem Punkt gegeben hatte. 

Dieser Teil der Erzählung, mit Bezug auf 1990, beruht jedoch sowohl auf einem Missverstehen der diplomatischen Prozesse auf verschiedenen Ebenen als auch auf der Missinterpretation des 2+4 Vertrags. 

Bei der viel-zitierten „keinen Zoll ostwärts“-Aussage vom 9. Februar 1990 handelt es sich um eine Formel des US-Außenministers Baker, und nicht (wie mitunter kolportiert) des US-Präsidenten George H.W. Bush, dem die außenpolitische Richtlinienkompetenz und Entscheidungsgewalt letztlich unterlag. Baker benutzte jenen Wortlaut in einem frühen Stadium der Sondierungsgespräche mit dem sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow, die bei der Lösungsfindung zur deutschen Frage in einer sich stetig verändernden europäischen Sicherheitsordnung helfen sollten. Hier ging es vor allem darum, der Sowjetunion die Angst vor einem sich vergrößernden Deutschland zu nehmen, indem man zusicherte, weder integrierte NATO-Kommandostrukturen auf das „Territorium der vormaligen DDR“ zu verlegen noch NATO-Truppenstationierungen dort vorzunehmen. 
Da Bakers Formulierung „keinen Zoll ostwärts“ es allerdings verunmöglicht hätte, die Sicherheitsgarantien der NATO gemäß Artikel 5 auf Gesamtdeutschland anzuwenden, schlug Bush Bundeskanzler Helmut Kohl in einem Brief am selbigen Tag vor, künftig von einem „speziellen Militärstatus“ für die DDR zu sprechen. Dieser Wortlaut wurde am 24./25. Februar 1990 von beiden bei ihrem Treffen in Camp David bestätigt und fand auch Eingang in den späteren 2+4 Vertrag. 

Bei den Gesprächen im Februar 1990 ging es also nie um die Erweiterung der Mitgliedschaft der NATO, sondern einzig um die Ausdehnung der integrierten NATO-Verteidigungsstrukturen nach Ostdeutschland. Dabei ist auch zu bedenken, dass zu diesem Zeitpunkt der Warschauer Pakt noch bestand und es somit gar keinen Anlass gab, sich mit der Sowjetunion über zukünftige NATO-Osterweiterungen auszutauschen oder sich gar auf mögliche territoriale Einschränkungen einzulassen.

Bei aller Unsicherheit, wie die Sowjetunion mit der deutschen Frage umging, standen im Winter/Frühjahr 1990 natürlich auch andere europäischen Sicherheitsmodelle im Raum und hinter verschlossen Türen wurden vielerlei diplomatische Versuchsballons gegenüber Moskau gestartet, um die politischen roten Linien der sowjetischen Führungsriege in Erfahrung zu bringen. 

So träumte nicht nur Michail Gorbatschow vom „gemeinsamen europäischen Haus“, sondern unter anderem der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher schon lange von einer pan-europäischen, institutionalisierten KSZE-Option, die möglicherweise nun im Zuge des geopolitischen Umbruchs umgesetzt werden könnte. Dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand dagegen schwebte eine europäische Konföderation ohne die USA vor, die sich in konzentrischen Kreisen um die Kernstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) entwickeln würde. Von den sich überschlagenden Ereignissen überholt, wurden diese Optionen aber schon bald als unrealisierbar ad acta gelegt. Anders als ursprünglich angenommen, vollzog sich die deutsche Einheit, und im Zuge dessen die Lösung der Bündnisfrage, aber viel schneller. Damit lagen sie zeitlich vor – und nicht nach – allen anvisierten europäischen Integrationsprozessen. Die damaligen Protagonisten US-Präsident Bush, der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl gaben dabei die Richtung vor: Am 12. September 1990 unterzeichneten sie das Endergebnis ihres gemeinsam ausgearbeiteten und von allen Seiten getragenen Kompromisses im 2+4 Vertrag – „über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“. 

Zusammengefasst: Der Vertrag ermöglichte schlicht, dass die NATO die Sicherheitsgarantie gemäß Artikel 5 auf die ehemaligen Gebiete der DDR ausdehnte. Die Zukunft Mittel- und Osteuropas blieb dabei unberücksichtigt.Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und US-Präsident George Bush bei einem Gipfeltreffen in den USA, Juni 1990. / RIA Novosti archive / Yuryi Abramochkin / CC-BY-SA 3.0Damit erlangte das Bündnis zwar die Handlungsfähigkeit östlich der alten Trennlinie des Kalten Krieges. Doch lag diese in keinem neuen Mitgliedsstaat, sondern in einer einfach vergrößerten Bundesrepublik – und auch erst nach dem vollständigen sowjetischen Truppenabzug, der auf 1994 terminiert wurde. Des Weiteren wurden erhebliche Einschränkungen beim Einsatz ausländischer NATO-Truppen und Nuklearwaffen auf ostdeutschem Boden vereinbart. Als Gegenleistung für seine Kompromissbereitschaft hatte Kohl Gorbatschow in bilateralen Gesprächen ein Geldpaket von insgesamt rund 100 Milliarden DM angeboten: als Kredite, Wirtschaftshilfe und zur Finanzierung des Abzugs der Rotarmisten. 

Der 2+4 Vertrag stellte also eine friedliche Übereinkunft aller Parteien zur Lösung der deutschen Frage dar. Im Kontext der großen politischen Veränderungen von Polen bis Bulgarien agierte Gorbatschow allerdings keineswegs blauäugig. Wie er schon im Mai 1990 erklärte, war er sich, was die mögliche „Absicht einer Reihe von Vertretern osteuropäischer Staaten“ betraf, „aus dem Warschauer Pakt auszutreten“ um „anschließend der NATO beizutreten“, völlig bewusst. Dennoch gehörten diese Entwicklungen damals noch einer Zukunft an, die noch nicht scharf umrissen war, und Gorbatschow selbst war zu diesem Zeitpunkt völlig auf sein politisches Überleben und auf das Lösen der vielen inner-sowjetischen Probleme fixiert.

Entscheidend ist, dass der 2+4 Vertrag die NATO-Osterweiterungsfrage in keiner Form tangierte, auch nicht indirekt dadurch, dass dieser ein späteres Öffnen der Allianz nach Osten gar nicht ansprach oder gar ausdrücklich ausschloss.

Der Wendepunkt: Auflösung des Warschauer Pakts 1991

Der eigentliche Wendepunkt, der später dazu führte, dass sich die Beziehungen zwischen dem Kreml und dem Westen verschlechterten und jene Verschlechterung den „Krieg der Narrative“ heraufbeschwor, lag im Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 und in der vorausgegangenen Auflösung des Warschauer Pakts. Denn mit dem Verschwinden des Sowjetimperiums veränderten sich die sicherheitspolitischen Parameter in Europa grundsätzlich. Es entstand ein Sicherheitsvakuum im sogenannten „Zwischeneuropa“ – den Ex-Satellitenstaaten und Ex-Sowjetrepubliken zwischen Ostsee und Schwarzem Meer. 

Die Tragik der russischen Situation nach Ende des Kalten Krieges war weniger dem US-amerikanischen Triumphalismus oder dem Überleben der NATO im Zentrum der neuen Sicherheitsarchitektur in Europa geschuldet als Jelzins Scheitern bei der Demokratisierung Russlands, bei den Marktwirtschaftsreformen, bei der Einführung von Recht und Ordnung und beim Versuch, eine Partnerschaft mit den USA und der NATO aufzubauen. Tatsächlich hatten sich die USA und NATO seit dem Sommer 1990 dem Osten und der UdSSR konstruktiv zugewandt und ihnen über den neuen Nordatlantischen Kooperationsrat (NAKR) „die Hand der Freundschaft“ ausgestreckt – ein Prozess der Annäherung, der auch nach plötzlicher sowjetischer Implosion 1991, mit allen neuen unabhängigen Staaten, inklusive Russlands, beibehalten wurde.   

Mit dem Moment allerdings, mit dem Russland 1993 im politischen Chaos versank und revisionistische Stimmen anfingen, Gehör zu finden, begann die aktive Suche nach Sicherheit der Zwischeneuropäer, die nun immer dringlicher den Anschluss an die westlichen Institutionen suchten. Dieser Druck von außen auf die NATO war maßgeblich für die Entwicklungen und Entscheidungsfindung um den Osterweiterungsprozess in den 1990ern und 2000ern. Zwar haben viele der damaligen US-Politiker tatsächlich das Diktum vom „Ende der Geschichte“ beherzigt, für ein immanent betriebenes Expansionsbestreben der Allianz (mit dem Ziel der „Einkreisung“ Russlands) – so wie es heute in der russischen Propaganda dargestellt wird – gibt es aber keine Belege.

„Geist des Vertrags“

In jener innen- wie außenpolitischen Defensivlage Russlands begann Jelzin 1993, den 2+4 Vertrag als Verbot der NATO-Erweiterung östlich Deutschlands auszulegen – weil der Vertrag, wie er (und später Putin) betonte, explizit nur Bündnisaktivitäten auf ostdeutschem Gebiet erlaubte. Die Nichterwähnung Osteuropas zusammen mit den festgeschriebenen Beschränkungen in Bezug auf die ehemalige DDR wurden nun also post-hoc als eine implizite westliche Absage an die Osterweiterung interpretiert. Es sei der „Geist des Vertrags“, so schrieb Jelzin dem neuen US-Präsidenten Bill Clinton im September 1993, der „die Option, das NATO-Gebiet nach Osten auszudehnen“, ausschließe.

Außenminister Jewgeni Primakow erklärte 1997, „die wahre rote Linie“ Moskaus sei, „wenn sich die Infrastruktur der NATO in Richtung Russland bewegt“. Dies sei „inakzeptabel“. Um Russland die bittere Pille ihrer Erweiterung nach Osteuropa zu versüßen, hat die NATO aber gleichzeitig mit dem Kreml die NATO-Russland-Grundakte ausgehandelt. Diese wurde am 27. Mai 1997 in Paris unterzeichnet – noch vor dem Madrider Erweiterungsgipfel. Auf Jelzins Forderung nach bindenden Beschränkungen für die Errichtung einer NATO-Sicherheitsinfrastruktur in neuen Mitgliedsstaaten ging Bill Clinton bei ihren bilateralen Vorgesprächen in Helsinki im März erst gar nicht ein. Und auch Jelzins Versuch, ein russisches Veto gegen eine zukünftige Expansionsrunde, gerade auch in die sowjetischen Ex-Republiken „insbesondere die Ukraine“, in das Abkommen einzubringen, scheiterte.  

Dass Boris Jelzin, nach allem öffentlichen Einklang vor der Weltpresse, den Inhalt der NATO-Russland-Grundakte in seiner Radioansprache an das russische Volk am 30. Mai 1997 wohlwissentlich falsch beschrieb, nämlich als „Befestigung des Versprechens der NATO, keine Atomwaffen auf den Territorien ihrer neuen Mitgliedsländer zu stationieren – weder ihre Streitkräfte in der Nähe unserer Grenzen aufzubauen […] noch Vorbereitungen für eine relevante Infrastruktur zu treffen“ – das musste in Russland das Gefühl erwecken, einer wiederholten westlichen Täuschung erlegen zu sein. Diese wissentliche Falschaussage verstetigte sich seit Ende der 1990er Jahre zu einem zentralen Propagandamotiv russischer Staatsmedien. 

Die historischen Akten in Ost und West jedoch beweisen, dass solche Narrative von gebrochenen Versprechen so nicht stimmen. 
 


Zum Weiterlesen:
Adomeit, Hannes, NATO-Osterweiterung: Gab es westliche Garantien?, Berlin: Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 3 (2018).
Kramer, Mark, “The Myth of a No-NATO-Enlargement Pledge to Russia”, The Washington Quarterly 32, 2 (2009), S. 39-61.
Radchenko, Sergey, “‘Nothing but Humiliation for Russia’: Moscow and NATO’s Eastern Enlargement, 1993-1995,” Journal of Strategic Studies 43, 6-7 (2020), S. 769-815
Sarotte, Mary Elise, “Perpetuating U.S. Preeminence: The 1990 Deals to Bribe the Soviets Out and Move NATO, International Security 35, 1 (2010), S. 110-37.
Shifrinson, Joshua R. Itzkowitz, “Deal or No Deal? The End of the Cold War and the U.S. Offer to Limit NATO Expansion”, International Security 40, 4 (2016),S. 7-44.
Spohr, Kristina, “Precedent-setting or Precluded? The “NATO Enlargement Question” in the Triangular Bonn-Washington-Moscow Diplomacy of 1990–1991,” Journal of Cold War Studies 14, 4 (2012), S. 4-54
Trachtenberg, Marc, “The United States and the NATO Non-extension Assurances of 1990: New Light on an Old Problem?”, International Security 45, 3 (2020), pp. 162-203
 

1. Nünlist, Christian, Krieg der Narrative, in: SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Bd. 2/4 (2018), (abgerufen am 01.02.2022) 
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