Medien

Krieg der Sprache

Es ist Tag sechs im russischen Krieg gegen die Ukraine. Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es seit Donnerstag mehr als 100 getötete Zivilisten und mehr als 300 Verletzte in der Ukraine; mehr als 660.000 Menschen sind auf der Flucht. Die ukrainische Regierung geht von mehreren hundert Toten aus. 

Von russischen Medien angesprochen auf die UN-Angaben zu Opfern unter der Zivilbevölkerung, hält Kreml-Sprecher Dmitri Peskow weiter an der Darstellung fest, wonach lediglich militärische Anlagen das Ziel seien. Statt von einem Krieg spricht er, wie es das offizielle Russland seit Beginn der Angriffe insgesamt tut, von einer „militärischen Spezialoperation“, von so genannter „Demilitarisierung“ und „Entnazifizerung“ der Ukraine. Die verbliebenen unabhängigen Medien innerhalb Russlands haben den Krieg dagegen von Beginn an Krieg genannt – und berichten außerdem von ersten Opfern auf der russischen Seite, die am Sonntag auch erstmals das russische Verteidigungsministerium bekannt gab (ohne allerdings Zahlen zu nennen). 
Bei der The New Times wurde ein solcher Artikel nach Anordnung durch den russischen Generalstaatsanwalt blockiert, den Medienberichten zufolge außerdem zahlreiche ukrainische Medien und diese gleich vollständig. 
Verschiedene Medien, darunter die renommierte Novaya Gazeta, der Telekanal Doshd und das Portal Mediazona, berichten, Anordnungen der Medienaufsicht erhalten zu haben. Ihnen wurde mitgeteilt, angeblich „unzuverlässige Information“ zu verbreiten. Welche Begriffe die Behörde darunter versteht, ließ sie ebenfalls offiziell wissen: „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“.
Auch die Nutzer sozialer Netzwerke berichten gegenüber russischen Journalisten von Problemen: Demnach laufen Twitter, Facebook und Instagram langsamer. 

Der Druck, im Internet blockiert zu werden, wird einigen Redaktionen mittlerweile zu groß: Die Novaya Gazeta etwa schrieb am Dienstag (heute, 1. März) in einer Hausmitteilung, nach Aufforderung durch die Generalstaatsanwalt drohten „gigantische Strafen“ bis hin zu „der Aussicht einer Liquidierung der Medien“. Deshalb habe man nach Abstimmung im Redaktionsausschuss mehrheitlich entschieden, „unter den Bedingungen der Kriegszensur“ weiterzuarbeiten. In den Artikeln, die online zu sehen sind, wird nun getitelt: „Russland greift die Ukraine an“. Nutzer reagierten überwiegend mit Verständnis: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“
Auch bei Echo Moskwy werden Hörer und Nutzer von Chefredakteur Alexej Wenediktow in einem Interview darauf hingewiesen, dass der Sender aus diesen Gründen – anders als in ersten Meldungen – von „Spezialoperation“ spreche. 

Update 1. März, 19.30 Uhr: Echo Moskwy hat auf seinem Telegram-Kanal mitgeteilt, dass die Radiostation abgeschaltet worden sei. Außerdem hat die Medienaufsicht angeordnet, Echo sowie Doshd im Internet zu sperren; laut Medienberichten setzen die Provider das bereits um. 

Update, 2. März: Doshd-Chefredakteur Tichon Dsjadko auf Telegram mit, dass er sowie weitere Mitarbeiter das Land verlassen. Ihre „persönliche Sicherheit ist bedroht”. 

Lew Rubinstein, russischer Lyriker, Schriftsteller, Essayist und früherer Dissident, schreibt kurz nach dem Angriff über den Kampf der Begriffe und einen Krieg der Sprache – der für ihn lange Zeit vor diesem echten Krieg begonnen hat.

Quelle Echo Moskwy

„Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden“, schreibt Lew Rubinstein auf Echo Moskwy / Foto © IMAGO, Lehtikuva

Wörter der Nachkriegszeit wie „Nazismus“ und „Faschismus“ haben im sowjetischen und postsowjetischen Propaganda-Diskurs allmählich ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Sie entbehren heute jeglichen semantischen Inhalts. Sie, diese Wörter, werden als reine Instrumente verwendet, als vermeintlich starke und überzeugende rhetorische Figuren.

In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden. 
Der russische Präsident sagt, die „Aufgabe, die mit der militärischen Operation verfolgt“ werde, sei die „Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine“. Wenn man das in irgendeine Sprache übersetzt, deren Sprecher nicht den Kontakt zur Realität verloren haben, führt das bei einem normalen modernen und zivilisierten Menschen unmittelbar zu dem, was in der Psychologie kognitive Dissonanz genannt wird: Er zweifelt sofort entweder an der psychischen Gesundheit der Person, die das sagt, oder an seiner eigenen.

In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden. 

Wie soll man aus Sicht der klassischen Logik verstehen, dass „das friedliebende Russland die faschistische Ukraine“ angegriffen hat, zwecks ihrer „Demilitarisierung“ und „zum Schutz der eigenen Sicherheit“? Das lässt sich gar nicht verstehen, wenn man nicht bedenkt, dass im politischen Wörterbuch des modernen Russland Wörter überhaupt nicht das bedeuten, was sie in akademischen Wörterbüchern bedeuten. Oft haben sie sogar eine komplett gegensätzliche Bedeutung. 

Unsere Geschichte unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass sich die wichtigsten Ereignisse im Raum der Sprache abspielen – der beinahe einzigen Realität im irgendwie sonst nicht so realen Leben Russlands. 

Und immer wiederholt sich alles. Das heißt, nein, es wiederholt sich nicht, es reimt sich. Reim ist ja keine Wiederholung, Reim ist Zusammenklang. Deswegen wiederholt sich nie etwas wortwörtlich. 

So haben wir zum Beispiel vor Kurzem noch Angst davor gehabt, das Wort „Krieg“ in den Mund zunehmen. 

Das heißt, es wurde natürlich in den Mund genommen. Aber es gab nur den einen „Krieg“, den Zweiten Weltkrieg. Andere Kriege gab es nicht. Bis vor ein paar Tagen.

Es gab im Übrigen noch einen Krieg, der nie erklärt worden war und immer währte: Das russische Volk war immer geteilt in zwei ungleiche Teile. Der eine – der kleinere – bezeichnete hartnäckig Gemeinheiten als Gemeinheiten, Feigheit als Feigheit, Dummheit als Dummheit und Faschismus als Faschismus. Der andere, der größere, war anfällig für die offizielle Rhetorik und bezeichnete Gemeinheiten als Patriotismus, Feigheit als die Notwendigkeit, den Umständen Rechnung zu tragen, eine offene Aggression als Schutz der eigenen Sicherheit, und das Streben von Völkern und Gesellschaften nach Freiheit und Offenheit als Nazismus. 

Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden.

Dieser Krieg, dieser Krieg der Sprache, dieser Krieg um die Bedeutung von Wörtern und Begriffen, war und bleibt der zentrale und endlose Bürgerkrieg. 

Und auch der Krieg, der schon den zweiten Tag [der Text erschien am 25. Februar 2022 – dek] vor den Augen der ganzen Welt in der Ukraine entbrennt, wird ebenfalls nicht Krieg genannt. Er heißt „Militäroperation“.

Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden. Wie? Irgendwie, aber unbedingt. Und darüber müssen wir uns unbedingt Gedanken machen, wir alle gemeinsam und jeder für sich. 

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Foto © Gabriel Van Helsing unter CC BY-SA 3.0Rubinstein war eine feste Größe in der oppositionellen Bewegung. Anfang der 2000er Jahre ist er gegen die Übernahme von NTW durch Gazprom und gegen den Tschetschenienkrieg eingetreten, nach dem Beschluss des sogenannten Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“ im Jahr 2013 unterstützte er öffentlichkeitswirksam die russische LGBTQ-Bewegung. Später hielt er Mahnwachen für die inhaftierten Pussy Riot Musikerinnen Maria Aljochina und Nadeshda Tolokonnikowa ab und sprach sich in einer Erklärung russischer Kulturschaffender gegen den russischen Krieg in der Ukraine aus.

Am 8. Januar 2024 wurde Rubinstein in Moskau an einem Fußgängerüberweg von einem Auto angefahren. Am 14. Januar verstarb er in einem Moskauer Klinikum.

 

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