Es waren die schwersten Ausschreitungen in der jüngsten Geschichte Kasachstans: Anfang Januar wurde das zentralasiatische Land von tagelangen Protesten erschüttert. Präsident Tokajew setzte seinen Vorgänger Nursultan Nasarbajew als Chef des Sicherheitsrats ab und rief die OVKS, ein Militärbündnis unter Führung Russlands, zur Hilfe, um gegen die „ausländischen Terroristen“ einzuschreiten. Dieses Vorgehen hatte für viel Unruhe gesorgt, Befürchtungen wurden laut, dass Kasachstan damit seine „multivektorale Außenpolitik“ – gute Beziehungen zu Russland, China und den USA – aufgebe und sich zur Geisel Russlands mache.
Die Proteste waren binnen weniger Tage niedergeschlagen, am 13. Januar begannen die OVKS-Truppen ihren Abzug, es gab 225 Todesopfer und mehr als 7000 Festnahmen – das zumindest sind die offiziellen Zahlen, Menschenrechtsorganisationen gehen von deutlich mehr Opfern aus.
Auslöser für die Demonstrationen waren die hohen Gaspreise gewesen, vor allem in der Kultur- und Wirtschaftsmetropole Almaty politisierten und radikalisierten sich die Proteste schließlich, Demonstranten forderten den völligen Rückzug von Ex-Präsident Nasarbajew.
Zentralasienexpertin Beate Eschment, Wissenschaftliche Mitarbeiter am ZOiS, vermutet im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dass die Proteste in Kasachstan durch „Kräfte aus dem riesigen Clan des Altpräsidenten Nursultan Nasarbajew“ zusätzlich angeheizt worden waren, „die ihre Felle davonschwimmen sahen“. Derzeit beobachte sie einen Ämtertausch, zahlreiche Personen mit Verbindungen zu Nasarbajew würden ausgewechselt. Zudem nehme Tokajew wirtschaftliche Reformen in Angriff. Ein Ende von Kasachstans multivektoraler Außenpolitik sieht sie nicht.
Auf Carnegie.ru analysiert Temur Umarow, welche Interessen die kasachische und russische Führung mit dem OVKS-Einsatz jeweils verfolgten – und warum er eben nicht das Ende der kasachischen Multivektor-Politik bedeutete.
„Kasachstans Außenpolitik wird sich grundlegend ändern“ – solche Stimmen wurden sofort laut, nachdem im Januar die OVKS mit Russland an der Spitze bei den Unruhen in Kasachstan interveniert und dem Präsidenten Kassym-Shomart Tokajew dabei geholfen hat, seine Macht nicht nur zu erhalten, sondern sogar zu festigen. Es hieß, die Landesregierung werde den Kreml für seine Unterstützung entlohnen müssen. Die Spekulationen über das Wie variierten von der Anerkennung der Krim über die Ablehnung der lateinischen Schrift bis hin zur Schließung „antirussischer“ NGOs.
Nahezu einig war man sich allerdings, dass der Abschied von Kasachstans berühmter multivektoraler Außenpolitik nun unvermeidliche Konsequenz sei. Aber sind diese Annahmen berechtigt?
Auf den ersten Blick scheint die Frage nach einer „Gegenleistung“ naheliegend – immerhin hat der OVKS-Einsatz Geld gekostet, und Russland ist ein ernsthaftes Risiko eingegangen, indem es seine Soldaten in das von Unruhen erschütterte Kasachstan schickte. Hätte sich das russische Militär aktiv an der gewaltsamen Zerschlagung der Proteste beteiligen müssen, wäre das ein enormer Imageschaden für Moskau – nicht nur gegenüber den Kasachen, sondern auch der Weltgemeinschaft.
Doch auch innenpolitisch hat Russland einiges riskiert: Wie bewertet die russische Gesellschaft den Militäreinsatz? Wie hätte es sich auf die Zustimmungswerte des Kreml ausgewirkt, wenn sich der Einsatz in die Länge gezogen oder russische Soldaten in Kasachstan umgekommen wären? Gründe genug also, um eine Gegenleistung zu fordern.
Für Moskau waren die Unruhen in Kasachstan eine böse Neujahrsüberraschung
Doch diese Logik vernachlässigt einen wichtigen Umstand. Das Hauptmotiv für Moskaus Entscheidung, sich in das Geschehen in Kasachstan einzumischen, war nicht der Wunsch, seinen Einfluss in Zentralasien zu vergrößern, sondern die Sorge um die eigene Sicherheit, sollte die Situation im Nachbarland endgültig außer Kontrolle geraten.
Für Moskau waren die Unruhen in Kasachstan eine böse Neujahrsüberraschung. In diesen Tagen sorgte man sich weniger um das Schicksal der kasachischen Regierung als um die möglichen Konsequenzen für Russland. Die russisch-kasachische Grenze ist die zweitlängste Landesgrenze der Welt, sie ist sehr schwach gesichert und stellenweise nicht einmal markiert.
Außerdem war es für Moskau wichtig, Kasachstan als das zu erhalten, was es immer gewesen ist – Russlands wichtiger Verbündeter, der sich zahlreichen Initiativen des Kreml anschließt, sowohl in der Verteidigungs- als auch in der Wirtschaftspolitik, die auf eine Integration des postsowjetischen Raums ausgerichtet ist. Man durfte also nicht zulassen, dass dieses freundschaftlich gesinnte Regime fällt und der Präsident seine Macht verliert.
Viel Auswahl hatte die kasachische Regierung sowieso nicht
Der Preis für die Aktion war nicht sehr hoch. Die aktive Phase der Friedensmission dauerte nur wenige Tage: Tokajew hatte sich am 5. Januar an die OVKS gewandt und bereits am 10. Januar den baldigen Abschluss der Aktion verkündet. Die OVKS hatte gerade mal 2500 Soldaten und 250 Militärgeräte bereitgestellt. Offiziell sicherten die Einsatzkräfte der OVKS strategisch wichtige Objekte, doch eigentlich war ihr Einsatz vor allem symbolischer Natur.
Durchaus möglich, dass Tokajew auch allein mit der Situation fertig geworden wäre: Die kasachischen Sicherheitskräfte sind bei weitem nicht die schwächsten auf der Welt. Aber einige von ihnen hatten es (zumindest in Almaty) nicht eilig, die Befehle der Zentralregierung auszuführen, deswegen hätte sich die Krise in die Länge ziehen können. Der kasachische Präsident musste dringend beweisen, dass er neben der institutionellen Legitimität auch über reale Macht verfügt. Hilfe von Moskau anzufordern war die niedrigschwelligste Entscheidung.
Russland versteht besser als andere Großmächte, was in der Innenpolitik und der Führungselite Kasachstans vorgeht
Viel Auswahl hatte die kasachische Regierung sowieso nicht. Trotz aller Gespräche über die multivektorale Politik und den wachsenden Einfluss Chinas bleibt Russland das einzige Land, das die Regierungen in der Region militärisch unterstützen kann. Zum einen, weil es eine legale Grundlage dafür hat – laut Satzung der OVKS können bei Bedrohung in einem Mitgliedstaat die anderen Länder militärische Maßnahmen ergreifen. Zum anderen, weil die kasachische Gesellschaft Russland gegenüber relativ wohlgesonnen ist. Laut einer Umfrage des Zentralasiatischen Barometers halten 81 Prozent Russland für einen befreundeten und zuverlässigen Partner. Weder die USA noch China genießen ein so großes Vertrauen.
Und nicht zuletzt versteht Russland besser als andere Großmächte, was in der Innenpolitik und der Führungselite Kasachstans vorgeht. Man kennt viele ihrer Vertreter persönlich, pflegt mit einigen freundschaftliche Beziehungen, spricht mit allen in der eigenen Muttersprache und teilt Werte und Überzeugungen, die noch auf das Sowjetsystem zurückgehen. Das ermöglicht Russland, innenpolitisch Einfluss zu nehmen und in Krisensituationen schnell und effektiv zu reagieren.
Schon jetzt hat Moskau viel gewonnen
Moskau hat schon jetzt – ohne neue Zugeständnisse von Tokajew – durch den kurzen Kasachstan-Einsatz der OVKS viel gewonnen. Vor allem ist es Russland gelungen, ein befreundetes politisches Regime im großen Nachbarland an der Macht zu erhalten. Außerdem konnte es der ganzen Welt beweisen, dass die OVKS nicht bloß irgendein Klub ist, sondern eine wirkmächtige Organisation. Gleichzeitig wurde den anderen Regierungen in Zentralasien signalisiert, dass nur Russland die Mittel und den Willen hat, sie im Fall einer Krise vor dem Zusammenbruch zu bewahren.
Der letzte Punkt ist in Anbetracht der wachsenden Aktivität Chinas in der Region besonders relevant. Russland wirkt im Vergleich zu China blass. Manche glauben schon so sehr an die Übermacht Chinas, die Russland aus Zentralasien zu verdrängen vermag, dass sie die kurze Verweildauer der OVKS mit einem Einwand Chinas erklären.
Allerdings genießt die chinesische Regierung nicht annähernd so viel Vertrauen bei der kasachischen Elite wie der Kreml, deswegen ist es schwer vorstellbar, dass Peking solche Forderungen stellen würde. Nach Einschätzung des Sinologen Igor Denissow halten die diplomatischen, nachrichtendienstlichen und analytischen Mittel Chinas nicht Schritt mit seiner immer größer werdenden wirtschaftlichen Präsenz in Zentralasien. Darum blieb China während der jüngsten Krise in der Rolle eines unbeteiligten Beobachters.
Natürlich wird der wirtschaftliche Einfluss Chinas auch nach den jüngsten Ereignissen weiter wachsen und allmählich auf andere Bereiche übergehen. Aber wie die Ereignisse im Januar gezeigt haben, wird Peking Moskau nicht so bald einholen, was das Verständnis der Vorgänge im Land und die Möglichkeiten der Einflussnahme auf die herrschenden Eliten betrifft.
Tollkühne Rhetorik der Türkei
Die Krise hat auch Kasachstans Schwächen in den Beziehungen zu anderen Partnern offengelegt, beispielsweise der Türkei. Wie Peking beobachtete auch Ankara das Geschehen aufmerksam – Erdogan, der 2016 selbst einen Umsturzversuch erlebte, bot Tokajew telefonisch Hilfe an. Der Berater des türkischen Präsidenten Ihsan Sener ging sogar so weit von einer „Okkupation“ Kasachstans durch die Einsatzkräfte der OVKS zu sprechen.
Doch die tollkühne Rhetorik zeugt nur von den türkischen Ambitionen in Zentralasien, die bislang weder durch eine Expertise in der Region noch durch ausreichende Verbindungen zu den lokalen Eliten oder ein Vertrauen im Volk untermauert sind.
Verhalten war auch die Reaktion der USA, obwohl Kasachstan als ihr wichtigster Partner in der Region gilt. Im Großen und Ganzen blieb es bei öffentlichen Erklärungen: Zunächst gab es einen Aufruf, die Gewalt zu beenden und die Menschenrechte zu achten, später folgte eine Solidarisierung mit den „verfassungsrechtlichen Institutionen Kasachstans“. Die USA interessieren sich mit jedem Jahr weniger für Zentralasien – ihr passives Verhalten während der Krise in Kasachstan ist dafür nur ein weiterer Beweis.
Und schließlich gibt es bei der Erwartung einer prorussischen Wende in der kasachischen Außenpolitik einen wesentlichen Haken: nämlich die Frage, welche neuen Druckmittel Russland durch seine kurze Truppenpräsenz unter dem Deckmantel der OVKS gewonnen hätte. Die Antwort lautet: gar keine.
Es wäre nicht in Russlands Interesse gewesen, Kasachstans berühmte multivektorale Außenpolitik anzurühren
Aus juristischer Sicht verlief alles entsprechend der Satzung der OVKS: Der Beschluss Kasachstan im Kampf gegen die „terroristische Bedrohung“ beizustehen wurde nicht vom Kreml, sondern vom Rat für kollektive Sicherheit des Bündnisses getroffen. Es sind in dieser Zeit keine überstaatlichen Einrichtungen gegründet, zwischenstaatliche Übereinkünfte getroffen oder auch nur öffentliche Versprechungen gemacht worden, die Moskau dazu berechtigt hätten, irgendetwas zu fordern. Und selbst wenn es so etwas gegeben hätte, wäre es nicht in Russlands Interesse gewesen, Kasachstans berühmte multivektorale Außenpolitik anzurühren.
Im Gegensatz zu beispielsweise Belarus hat Kasachstan nie versucht, die Widersprüche zwischen Moskau und dem Westen gegeneinander auszuspielen, sondern sich tatsächlich bemüht, freundschaftliche Beziehungen mit beiden Seiten zu pflegen – mit Erfolg. Das Land verbindet schon seit vielen Jahren eine Partnerschaft mit Russland und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen: Fast 40 Prozent der kasachischen Exporte gehen nach Europa, während bei der Ölförderung amerikanische Firmen dominieren.
Mit anderen Worten: Kasachstans multivektorale Politik ist nicht bloße Rhetorik, sondern fußt auf diversifizierten Wirtschaftsbeziehungen. Von der Aufrechterhaltung dieser Politik hängt der materielle Wohlstand des Landes in vielerlei Hinsicht ab. Nähme man also an, Moskau wollte dieses Gleichgewicht zu seinen Gunsten stören, müsste es mit den wirtschaftlichen Konsequenzen eines solchen Schrittes rechnen.
Kasachstan ist reich genug, um eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben
Warum sollte Russland eigenhändig die durch die jüngsten Ereignisse ohnehin angeschlagene wirtschaftliche Lage in einem Land verschlimmern wollen, in dem gerade erst Massenproteste wegen Preisanstiegen und sozialer Ungerechtigkeit stattgefunden haben? Die politische Krise und die ausländischen Truppen haben die Investoren auch so schon verunsichert, was nicht folgenlos bleiben wird. In dieser Situation eine Distanzierung vom Westen zu fordern, würde nur weitere Probleme für alle Beteiligten nach sich ziehen. Zudem würde eine hypothetische Verdrängung des Westens aus Kasachstan nicht zwingend dazu führen, dass Russland diese Leerstelle füllt. Vermutlich würde Moskau sogar nur China dazu verhelfen, zu einer noch einflussreicheren Macht in Zentralasien zu werden.
Viel wahrscheinlicher ist es also, dass Russland sich nicht zu solchen Manövern hinreißen lässt, um neue Zugeständnisse von Kasachstan zu bekommen. Auch wenn die beiden Länder wie schon zuvor nicht ohne kleinere Streitigkeiten auskommen werden – beispielsweise über den Stellenwert der russischen Sprache.
Kasachstan ist reich genug, um eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben. Viele haben die Signale bereits bemerkt, die Tokajew durch die Besetzung der Ämter sendet: Minister für Information und gesellschaftliche Entwicklung wurde Askar Umarow, der für seine russophoben Statements bekannt ist. Gleichzeitig wurde mit Roman Skljar nach zwei Jahrzehnten erstmals wieder ein ethnischer Russe für den Posten des stellvertretenden Premiers ernannt. Ein solches Gleichgewicht soll zeigen, dass der außenpolitische Kurs des Landes unverändert bleibt – das Bündnis mit Russland ist stärker als je zuvor, aber es stellt die Souveränität Kasachstans nicht infrage.