Ein kleiner Igel verirrt sich im Nebel und wird von einem Uhu verfolgt. Dieser erscheint plötzlich aus dem Nichts, ruft laut sein „Uhu-uhuhuhu“ und verschwindet wieder in den Tiefen des Nebelmeers. Der Igel schaut ihm eine Weile nach und quittiert seinen Auftritt schließlich schulterzuckend mit einem lapidaren „Psich“ (dt. etwa „Spinner“).
Allein mit dieser Sequenz aus dem Zeichentrickfilm Joshik w Tumane (dt. „Der Igel im Nebel“) schafft Juri Norstein einen Klassiker: Eine ganze Generation benutzt von nun an ironisch den stehenden Begriff „Psich“. Die Animation selbst gewinnt seit ihrem Erscheinungsjahr 1975 unzählige Preise und wird 2003 in Tokio als bester Animationsfilm aller Zeiten ausgezeichnet. Der Autor gilt für viele als „lebendes Genie“ und als eines der „Wunder des 20. Jahrhunderts“.
Tatsächlich hat Norstein eine einzigartige und außergewöhnliche filmische Welt erschaffen, die der Animation eine neue Richtung verlieh und Kinder sowie Erwachsene bis heute begeistert und berührt.
Drei Monate nachdem die deutschen Truppen in die Sowjetunion einmarschieren und seine Familie aus Moskau evakuiert wird, kommt Juri Norstein am 15. September 1941 in der Oblast Pensa zur Welt. Mit der Rückkehr nach Moskau im Winter 1943 sind seine ersten Erinnerungen verbunden. Die Familie bewohnt ein Zimmer in einer Kommunalka in einem alten Haus in Marjina Roschtscha, unweit des Zentrums. Dieses Haus ist die Bühne seiner Kindheit, der Schauplatz seiner frühesten Erinnerungen und eine der Hauptinspirationsquellen für seinen späteren Animationsfilm Skaska Skasok (dt. „Das Märchen der Märchen“).1
„Ich hasste mich selbst, die Filme, das Studio.“
1956 – mit dem Beginn der Tauwetter-Periode – beginnt Norstein, eine Zeichenschule zu besuchen. Er möchte Künstler werden, wird jedoch an der Kunsthochschule vermutlich aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht angenommen2 und entscheidet sich schließlich, einen zweijährigen Kurs beim staatlichen Animationsfilmstudio Sojusmultfilm zu absolvieren. Trotz erstklassiger Lehrer kann Norstein sich mit den Filmen, die das Studio während dieser Zeit produziert und ihrem „Spielzeugdesign“ lange nicht anfreunden.3 Nach der Ausbildung arbeitet er zunächst als Zeichner bei Sojusmultfilm an vielen Filmen, die ihn nicht inspirieren: „Ich äußerte mich oft über deren schlechte Qualität. Ich hasste mich selbst, die Filme, das Studio.“4
1967 dreht er mit 25-е, Perwy den (dt. „25. – Der erste Tag“) zusammen mit Arkadi Tjurin seinen ersten eigenen Film, der thematisch an die Kunst der russischen Avantgarde-Maler des frühen 20. Jahrhunderts angelehnt ist.
„25-е, Perwyj den“ (dt. „25. – Der erste Tag“) ist das Erstlingswerk von Juri Norstein
Gemeinsam mit seiner Frau Frantscheska Jarbussowa und seinem Kameramann Alexander Shukowski (1933–1999) entwickelt er in der Folge eine eigene Animationstechnik, in der Zeichen- und Legetrick auf besondere Weise verknüpft sind. 1973 plant Norstein einen Film über den Dichter Wladimir Majakowski, die staatliche Filmproduktions- und Aufsichtsbehörde Gosfilm lehnt diesen Plan jedoch ab. Norstein wendet sich daraufhin einem Genre zu, das für Zensurbehörden unverfänglicher ist: „Dann mache ich eben ein Märchen. Irgendeins. Vielleicht ,Hase und Fuchs‘?“5
Die Wiedergeburt der Märchen aus dem Geiste der Zensur
1974 erscheint der Film Zaplja i Shurawl (dt. „Der Reiher und der Kranich“). Obwohl er auf einem russischen Märchen basiert, stößt auch dieses Projekt bei Goskino zunächst auf Ablehnung. Erst als Fjodor Chitruk, ein Doyen der sowjetischen Animation dafür eintritt, kommt der Film schließlich dennoch in den Verleih. Über die anhaltenden Schwierigkeiten mit der Zensur berichtet Norstein: „Wenn sie irgendeinen Film verboten, wusste ich nicht, wohin ich mich vor all dem retten sollte. Einmal habe ich zum Beispiel geträumt, dass ich versuche, Sehnen zu durchnagen, in irgendeinem Raum, wo der Kopf des Direktors schwimmt. Wie sehr muss es einem an die Nieren gehen, damit solche Träume entstehen?!“6
Norsteins Animation „Zaplja i Shurawl“ (dt. „Der Reiher und der Kranich“) basiert auf einem alten russischen Märchen
Trotz aller Widrigkeiten verfolgt Norstein unbeirrt die Umsetzung seiner künstlerischen Ideen. Der Film Joshik w Tumane (1975, dt. „Der Igel im Nebel“), der unzählige Preise gewann und 2003 in Tokio als bester Animationsfilm aller Zeiten ausgezeichnet wurde, ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Der Film erzählt die Geschichte eines kleinen Igels, der sich im Nebel verirrt und sich damit auf eine Reise ins Ungewisse begibt, während sein Freund, der Bär, auf ihn wartet, um mit ihm die Sterne zu zählen. Spätestens in diesem Film wird spürbar, dass Norstein innerhalb der Animation zu einem ganz persönlichen künstlerischen Stil gefunden hat, zu einer eigenen Metaphorik und poetischen Bildsprache.
„Joshik w Tumane“ (1975, dt. „Der Igel im Nebel“) wurde 2003 als bester Animationsfilm aller Zeiten ausgezeichnet
Im Nebel verirrt?
In Kiew wurde der Hauptfigur des Films vor einigen Jahren ein Denkmal gesetzt. Auf einem kleinen Platz zwischen der Heorhijiwski-Gasse und der Rejtarska-Straße sitzt auf einem hölzernen Sockel ein kleiner Igel und guckt die Vorübergehenden mit großen Augen an. Folgt man seinem Blick, erhebt sich nur wenige Meter entfernt auf der anderen Seite der Straße ein Reiterdenkmal. Dieses zeigt einen Kosaken auf einem (viel zu kleinen) Pferd und ist den „Verteidigern der Grenzen des Vaterlandes aller Generationen“ gewidmet. Die räumliche Nähe der beiden Denkmäler bekommt eine ironische Note, wenn man sich vor Augen führt, dass der Erfinder des kleinen Igels mit der Krim nasch-Bewegung sympathisiert und die Angliederung der Halbinsel an Russland im Frühjahr 2014 mit Nachdruck befürwortet.
Dabei steht Norstein der russischen Politik der Ära Putin im Allgemeinen kritisch gegenüber. 2010 bemüht er in der Novaya Gazeta Fjodor Dostojewskis Großinquisitor und nimmt damit Bezug auf den sogenannten Gesellschaftsvertrag: „Und wir haben laut geschrien, als wir unsere Freiheit dem Herrscher zu Füßen legten: ‚Versklaven Sie uns ruhig, doch geben Sie uns Essen‘“.7 Sergej Magnitski starb in Norsteins Augen nicht an „eigenem“ Herzversagen, sondern „am Herzversagen Putins“8. Und im Juni 2018 unterzeichnet er gemeinsam mit anderen Kulturschaffenden ein Gnadengesuch für den ukrainischen Regisseur Oleg Senzow. Vor diesem Hintergrund entflammte in russischen Medien eine Debatte darüber, ob sich der Schöpfer des beliebten kleinen Igels in der Krim-Frage möglicherweise selbst im Nebel der russischen Propaganda verirrt habe.9
Zu der Gretchenfrage, ob ein Künstler menschlich irren kann, hat er sich selbst in einem Interview von 2010 geäußert: „Was denken Sie – kann ein Künstler ein Schuft sein und trotzdem Wunderbares erschaffen? Kann er. Das sind Fragen von Ethik und Ästhetik, manchmal fallen sie zusammen, manchmal laufen sie auseinander.“10
Schon lange vor der Annexion reflektiert Norstein über das Wort „Krim“, als er über die Entstehung von Joshik w Tumane spricht. Dabei schildert er jene Assoziationen, die für ihn als Kind das Wort Krim, oder vielmehr der Klang des Wortes hervorrief, lange bevor er eine konkrete Bedeutung damit verknüpfte, geschweige denn sich mit Geographie auskannte.11 In diesem Text wird deutlich, dass Norstein eine sehr persönliche Beziehung zu diesem Ort hat, an dem bis heute ein Teil seiner Familie lebt und wo er in seiner Jugend entschied, den Weg des Filmemachers einzuschlagen. Die Krim erscheint damit ein wenig wie ein sagenumwobener Sehnsuchtsort – ein Ort, an dem alles für ihn begann.
Innere Mission
Deutlich wird auch, dass Norstein wie immer unbeirrt seine eigene Position vertritt, auch wenn diese die Gemüter spaltet und bei vielen seiner Freunde und Künstler-Kollegen auf Unverständnis stößt. Beim Filmemachen folgt er dabei zumeist seiner Intuition. So erzählt er, dass er zu Beginn der Dreharbeiten zu Joshik w Tumane zunächst aufgrund der Wahl des Sujets von allen ausgelacht wurde. Niemand sah in der insgesamt handlungsarmen Geschichte ein besonderes Potential, bis Norsteins Visionen schließlich Form annahmen und die Bilder auf der Leinwand sich langsam zu einem Kunstwerk zusammenfügten.
„Skaska Skasok“ (dt. „Das Märchen der Märchen“) ist Norsteins wohl persönlichster Film
Auch bei seinem wohl persönlichsten Film Skaska Skasok (dt. „Das Märchen der Märchen“) scheint er einer inneren Mission zu folgen. Der Film, der 1979 nach langem Ringen mit der Zensur erscheint, basiert auf Kindheitserinnerungen und entstand in Zusammenarbeit mit der Bühnenautorin Ljudmila Petruschtschewskaja. In Skaska Skasok wirft Norstein alle narrativen Gesetzmäßigkeiten über Bord und schafft eine Art Episodenfilm, eine Komposition aus biographischen Momenten, historischen Ereignissen und intermedialen Bezügen. Dabei sind die einzelnen Sequenzen des Films auf vielerlei Weise miteinander verknüpft, am augenscheinlichsten jedoch durch die Figur eines kleinen Wolfes, der die verschiedenen Welten, und damit die verschiedenen Zeitebenen und filmischen Räume, als einziger mühelos durchschreitet.
Aus Gogols Mantel geschlüpft
1981 beginnt Norstein mit einem Langzeitprojekt: der Verfilmung von Nikolaj Gogols Erzählung Schinel (dt. „Der Mantel“). Wegen seiner langsamen und perfektionistischen Arbeitsweise wird Norstein 1985 von Sojusmultfilm entlassen. Die Arbeit gerät daraufhin – nicht zuletzt aufgrund mangelnder Finanzierung – immer wieder ins Stocken. Schon jetzt ist Der Mantel das wohl längste Projekt in der Geschichte des Zeichentrickfilms. Mit der Vollendung dieser Mammutaufgabe wird sich Norstein sicherlich wieder ein Denkmal setzen. Die Bedeutung des Mantels für die russische Literatur ist kaum zu überschätzen, ein gängiges Sprichwort dazu lautet: „Wir alle sind aus Gogols Mantel geschlüpft.“