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Häusliche Gewalt in Russland

Häusliche Gewalt ist ein verbreitetes Problem in Russland und wird dennoch als Normalität akzeptiert. Allein in den Jahren 2021-2022 sind in Russland fast 1000 Frauen von ihren Partnern oder nahen Verwandten getötet worden. Mit der Rückkehr kriegstraumatisierter russischer Soldaten aus den Kämpfen gegen die Ukraine verschärft sich die Situation, zumal bereits verurteilte Straftäter unter ihnen sind. Die Theologin und Russland-Expertin Regina Elsner beschreibt in ihrer Gnose für dekoder die Entwicklung häuslicher Gewalt und die Rolle von Staat, Kirche und Zivilgesellschaft. 

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Janka Bryl – Dokumentarist und Schriftsteller – gehörte zu den prominenten Stimmen der sowjetisch-belarusischen Literatur. Wer war er? Was trieb ihn an? Was prägte sein Schaffen? Eine Gnose von Philine Bickhardt. 

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Juri Norstein

Ein kleiner Igel verirrt sich im Nebel und wird von einem Uhu verfolgt. Dieser erscheint plötzlich aus dem Nichts, ruft laut sein „Uhu-uhuhuhu“ und verschwindet wieder in den Tiefen des Nebelmeers. Der Igel schaut ihm eine Weile nach und quittiert seinen Auftritt schließlich schulterzuckend mit einem lapidaren „Psich“ (dt. etwa „Spinner“). 

Allein mit dieser Sequenz aus dem Zeichentrickfilm Joshik w Tumane (dt. „Der Igel im Nebel“) schafft Juri Norstein einen Klassiker: Eine ganze Generation benutzt von nun an ironisch den stehenden Begriff „Psich“. Die Animation selbst gewinnt seit ihrem Erscheinungsjahr 1975 unzählige Preise und wird 2003 in Tokio als bester Animationsfilm aller Zeiten ausgezeichnet. Der Autor gilt für viele als „lebendes Genie“ und als eines der „Wunder des 20. Jahrhunderts“. 

Tatsächlich hat Norstein eine einzigartige und außergewöhnliche filmische Welt erschaffen, die der Animation eine neue Richtung verlieh und Kinder sowie Erwachsene bis heute begeistert und berührt.

Drei Monate nachdem die deutschen Truppen in die Sowjetunion einmarschierenAls Großen Vaterländischen Krieg bezeichnet man in Russland den Kampf der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland 1941–1945. Der Begriff ist an den Vaterländischen Krieg gegen Napoleon im Jahr 1812 angelehnt. Galt der Sieg über den Faschismus offiziell zunächst als ein sozialistischer Triumph unter vielen, wurde er seit Mitte der 1960er Jahre zu einem zentralen Bezugspunkt der russischen Geschichte. Mehr dazu in unserer Gnose und seine Familie aus Moskau evakuiert wird, kommt Juri Norstein am 15. September 1941 in der Oblast Pensa zur Welt. Mit der Rückkehr nach Moskau im Winter 1943 sind seine ersten Erinnerungen verbunden. Die Familie bewohnt ein Zimmer in einer KommunalkaEine Kommunalka ist eine Wohnung, die gleichzeitig von mehreren Familien bewohnt wird. Die Wohnform nahm ihren Anfang nach der Revolution von 1917, als große Wohneinheiten wohlhabender Familien auf mehrere Familien aufgeteilt wurden. Anfänglich als Not- und Übergangslösung gedacht, etablierte sich die Kommunalka bald als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Seit der Perestroika ist es das große Ziel eines Jeden, diese Wohnform gegen eine Einzelwohnung einzutauschen. Mehr dazu in unserer Gnose in einem alten Haus in Marjina Roschtscha, unweit des Zentrums. Dieses Haus ist die Bühne seiner Kindheit, der Schauplatz seiner frühesten Erinnerungen und eine der Hauptinspirationsquellen für seinen späteren Animationsfilm Skaska Skasok (dt. „Das Märchen der Märchen“).1

„Ich hasste mich selbst, die Filme, das Studio.“

1956 – mit dem Beginn der TauwetterBefreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten. Mehr dazu in unserer Gnose -Periode – beginnt Norstein, eine Zeichenschule zu besuchen. Er möchte Künstler werden, wird jedoch an der Kunsthochschule vermutlich aufgrund seiner jüdischen Herkunft nicht angenommen2 und entscheidet sich schließlich, einen zweijährigen Kurs beim staatlichen Animationsfilmstudio Sojusmultfilm zu absolvieren. Trotz erstklassiger Lehrer kann Norstein sich mit den Filmen, die das Studio während dieser Zeit produziert und ihrem „Spielzeugdesign“ lange nicht anfreunden.3 Nach der Ausbildung arbeitet er zunächst als Zeichner bei Sojusmultfilm an vielen Filmen, die ihn nicht inspirieren: „Ich äußerte mich oft über deren schlechte Qualität. Ich hasste mich selbst, die Filme, das Studio.“4 

1967 dreht er mit 25-е, Perwy den25-е, Perwy Den (dt. „25. – Der erste Tag“) ist der erste Zeichentrickfilm des russischen Zeichentrickfilmers Juri Norstein (geb. 1941). Er wurde zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution 1917 gedreht und feierte 1968 Premiere. In der Animation behandelten Norstein und der Zeichentrickfilmer Arkadi Tjurin (1932–2003) die Revolutionsereignisse. Sie integrierten im Film die Malerei der sowjetischen und westeuropäischen Avantgarde und unterlegten ihn mit der Musik des sowjetischen Komponisten Dimitri Schostakowitsch (1906–1975). (dt. „25. – Der erste Tag“) zusammen mit Arkadi Tjurin seinen ersten eigenen Film, der thematisch an die Kunst der russischen Avantgarde-Maler des frühen 20. Jahrhunderts angelehnt ist.

 

„25-е, Perwyj den“ (dt. „25. – Der erste Tag“) ist das Erstlingswerk von Juri Norstein

Gemeinsam mit seiner Frau Frantscheska JarbussowaFrantscheska Jarbussowa (geb. 1942) ist eine russische Illustratorin, Zeichentrickfilmerin und Ehefrau des Animationskünstlers Juri Norstein (geb. 1941). Jarbussowa illustrierte im Laufe ihrer Karriere viele Kinderbücher, schrieb Erzählungen und drehte (zusammen mit ihrem Mann) einige Zeichentrickfilme. Seit 1981 arbeitet sie mit Norstein an der Verwirklichung des Zeichentrickfilms Schinel (dt. „Der Mantel“), der auf einer Erzählung von Nikolaj Gogol basiert. und seinem Kameramann Alexander Shukowski (1933–1999) entwickelt er in der Folge eine eigene Animationstechnik, in der Zeichen- und Legetrick auf besondere Weise verknüpft sind. 1973 plant Norstein einen Film über den Dichter Wladimir MajakowskiWladimir Majakowski (1893–1930) war ein russischer und sowjetischer Dichter und führender Vertreter des Futurismus. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurde er zum Ersten Dichter der Sowjetunion, schrieb Agitprop-Gedichte, malte Plakate, verfasste Drehbücher, arbeitete auch als Filmregisseur, Schauspieler und Herausgeber. Ende der 1920er geriet er wegen seiner gegenüber der Sowjetmacht kritischen Stücke maßgeblich unter Druck. 1930 nahm er sich das Leben. Mehr dazu in unserer Gnose , die staatliche Filmproduktions- und Aufsichtsbehörde Gosfilm lehnt diesen Plan jedoch ab. Norstein wendet sich daraufhin einem Genre zu, das für Zensurbehörden unverfänglicher ist: „Dann mache ich eben ein Märchen. Irgendeins. Vielleicht ,Hase und Fuchs‘?“5

Die Wiedergeburt der Märchen aus dem Geiste der Zensur

1974 erscheint der Film Zaplja i Shurawl (dt. „Der Reiher und der Kranich“). Obwohl er auf einem russischen Märchen basiert, stößt auch dieses Projekt bei Goskino zunächst auf Ablehnung. Erst als Fjodor Chitruk, ein Doyen der sowjetischen Animation dafür eintritt, kommt der Film schließlich dennoch in den Verleih. Über die anhaltenden Schwierigkeiten mit der Zensur berichtet Norstein: „Wenn sie irgendeinen Film verboten, wusste ich nicht, wohin ich mich vor all dem retten sollte. Einmal habe ich zum Beispiel geträumt, dass ich versuche, Sehnen zu durchnagen, in irgendeinem Raum, wo der Kopf des Direktors schwimmt. Wie sehr muss es einem an die Nieren gehen, damit solche Träume entstehen?!“6  

 

Norsteins Animation „Zaplja i Shurawl“ (dt. „Der Reiher und der Kranich“) basiert auf einem alten russischen Märchen

Trotz aller Widrigkeiten verfolgt Norstein unbeirrt die Umsetzung seiner künstlerischen Ideen. Der Film Joshik w Tumane (1975, dt. „Der Igel im Nebel“), der unzählige Preise gewann und 2003 in Tokio als bester Animationsfilm aller Zeiten ausgezeichnet wurde, ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Der Film erzählt die Geschichte eines kleinen Igels, der sich im Nebel verirrt und sich damit auf eine Reise ins Ungewisse begibt, während sein Freund, der Bär, auf ihn wartet, um mit ihm die Sterne zu zählen. Spätestens in diesem Film wird spürbar, dass Norstein innerhalb der Animation zu einem ganz persönlichen künstlerischen Stil gefunden hat, zu einer eigenen Metaphorik und poetischen Bildsprache. 

 

„Joshik w Tumane“ (1975, dt. „Der Igel im Nebel“) wurde 2003 als bester Animationsfilm aller Zeiten ausgezeichnet

Im Nebel verirrt?

In Kiew wurde der Hauptfigur des Films vor einigen Jahren ein Denkmal gesetzt. Auf einem kleinen Platz zwischen der Heorhijiwski-Gasse und der Rejtarska-Straße sitzt auf einem hölzernen Sockel ein kleiner Igel und guckt die Vorübergehenden mit großen Augen an. Folgt man seinem Blick, erhebt sich nur wenige Meter entfernt auf der anderen Seite der Straße ein Reiterdenkmal. Dieses zeigt einen KosakenKosaken ist die Bezeichnung einer sozialen Gruppe, die sich teilweise aus dem (para-)militärischen Stand im 15. Jahrhundert formiert hat. Die soziostrukturelle Zusammensetzung früherer Reiterverbände der Kosaken ist nicht klar nachvollziehbar. Im 18. Jahrhundert wurden sie zum großen Teil in die Kavallerieverbände der regulären Armee integriert. Die Wiederbelebung der Tradition nach dem Zerfall der UdSSR wird von oppositionellen Kreisen oft als „folkloristisch“ bzw. „archaisch“ bezeichnet. In den südlichen Regionen Russlands übernehmen Kosaken oft die zweifelhafte Rolle einer Volksmiliz. Es kommt dabei immer wieder zu gewalttätigen Angriffen auf Oppositionspolitiker und Aktivisten, wie z. B. auf Alexej Nawalny oder die Kunstaktivistinnen von Pussy Riot. auf einem (viel zu kleinen) Pferd und ist den „Verteidigern der Grenzen des Vaterlandes aller Generationen“ gewidmet. Die räumliche Nähe der beiden Denkmäler bekommt eine ironische Note, wenn man sich vor Augen führt, dass der Erfinder des kleinen Igels mit der Krim nasch-Bewegung sympathisiert und die Angliederung der HalbinselAls Krym-Annexion wird die einseitige Eingliederung der sich über die gleichnamige Halbinsel erstreckenden ukrainischen Gebietskörperschaft der Autonomen Republik Krym in die Russische Föderation bezeichnet. Seit der im Frühjahr 2014 erfolgten Annexion der Krym ist die Halbinsel de facto Teil Russlands, de jure jedoch ukrainisches Staatsgebiet und somit Gegenstand eines ungelösten Konfliktes zwischen der Ukraine und Russland. Mehr dazu in unserer Gnose an Russland im Frühjahr 2014 mit Nachdruck befürwortet. 

Juri Norstein / © X-Javier unter CC BY-SA 3.0

Juri Norstein / © X-Javier unter CC BY-SA 3.0

Dabei steht Norstein der russischen Politik der Ära Putin im Allgemeinen kritisch gegenüber. 2010 bemüht er in der Novaya Gazeta Fjodor DostojewskisFjodor Dostojewski (1821–1881) gehört zu den bedeutendsten russischen Schriftstellern. Viele seiner Werke gelten als Klassiker der Weltliteratur, etwa Die Brüder Karamasow, Verbrechen und Strafe oder Der Idiot. Mit seinen erzählerischen Perspektiven, die verschiedene Interpretationen erlauben, entwickelte er eine allgemeine Charakteristik des modernen Romans. Mehr dazu in unserer Gnose GroßinquisitorDas fünfte Kapitel aus Die Brüder Karamasow von Fjodor Dostojewski (1821–1881). Darin beschreibt er die Wiederkehr Jesu im Sevilla des 16. Jahrhunderts: Die Inquisition wütet, Scheiterhaufen lodern, das Mittelalter ist in seiner dunkelsten Phase. Jesus wird verhaftet und vom Großinquisitor vernommen. Dieser sagt: Die Kirche braucht Jesus nicht mehr, sie hat seine Tat „verbessert“ und die allumfassende Herrschaft des Klerus auf drei Kräften aufgebaut – Wunder, Geheimnis, Autorität und nimmt damit Bezug auf den sogenannten Gesellschaftsvertrag: „Und wir haben laut geschrien, als wir unsere Freiheit dem Herrscher zu Füßen legten: ‚Versklaven Sie uns ruhig, doch geben Sie uns Essen‘“.7 Sergej MagnitskiDer russische Jurist Sergej Magnitski (1972–2009) starb während seiner umstrittenen Untersuchungshaft in einem russischen Gefängnis. Magnitski hatte zuvor hochrangigen russischen Beamten Korruption in Höhe von 230 Millionen Dollar nachgewiesen. Der gesundheitlich angeschlagene Magnitski verstarb aufgrund von Misshandlungen und schlechten Haftbedingungen, weshalb die USA im Dezember 2012 den Magnitsky Act erließen und eine Reihe von russischen Beamten sanktionierten, die für den Tod des jungen Anwalts verantwortlich sein sollen. starb in Norsteins Augen nicht an „eigenem“ Herzversagen, sondern „am Herzversagen Putins“8. Und im Juni 2018 unterzeichnet er gemeinsam mit anderen Kulturschaffenden ein Gnadengesuch für den ukrainischen Regisseur Oleg SenzowDer ukrainische Regisseur Oleg Senzow (geb. 1976) setzte sich im Frühjahr 2014 gegen die Annexion der Krim durch Russland ein und erklärte, diese nicht anzuerkennen. Im Mai 2014 wurde er von russischen Behörden auf der Krim verhaftet und nach Moskau überstellt. Ihm und dem linken Aktivisten Alexander Koltschenko wurde vorgeworfen, Terroranschläge auf Einrichtungen kommunaler Infrastruktur und auf Staatsorgane geplant zu haben. Im August 2015 wurde Senzow zu 20 Jahren Arbeitslager verurteilt. Im Zuge eines Gefangenenaustauschs konnte er im September 2019 in die Ukraine zurückkehren. . Vor diesem Hintergrund entflammte in russischen Medien eine Debatte darüber, ob sich der Schöpfer des beliebten kleinen Igels in der KrimDie Krim ist eine Halbinsel im nördlichen Schwarzen Meer. Sie stand lange Zeit unter osmanischem Einfluss und wurde Ende des 18. Jh. von Russland erobert. In der Sowjetunion fiel die strategisch und kulturell wichtige und als Urlaubsdomizil beliebte Krim der Ukrainischen Sowjetrepublik zu. Die 2014 erfolgte Angliederung an Russland löste eine internationale Krise aus. Mehr dazu in unserer Gnose -Frage möglicherweise selbst im Nebel der russischen Propaganda verirrt habe.9 
Zu der Gretchenfrage, ob ein Künstler menschlich irren kann, hat er sich selbst in einem Interview von 2010 geäußert: „Was denken Sie – kann ein Künstler ein Schuft sein und trotzdem Wunderbares erschaffen? Kann er. Das sind Fragen von Ethik und Ästhetik, manchmal fallen sie zusammen, manchmal laufen sie auseinander.“10

Schon lange vor der Annexion reflektiert Norstein über das Wort „Krim“, als er über die Entstehung von Joshik w Tumane spricht. Dabei schildert er jene Assoziationen, die für ihn als Kind das Wort Krim, oder vielmehr der Klang des Wortes hervorrief, lange bevor er eine konkrete Bedeutung damit verknüpfte, geschweige denn sich mit Geographie auskannte.11 In diesem Text wird deutlich, dass Norstein eine sehr persönliche Beziehung zu diesem Ort hat, an dem bis heute ein Teil seiner Familie lebt und wo er in seiner Jugend entschied, den Weg des Filmemachers einzuschlagen. Die Krim erscheint damit ein wenig wie ein sagenumwobener Sehnsuchtsort – ein Ort, an dem alles für ihn begann. 

Innere Mission

Deutlich wird auch, dass Norstein wie immer unbeirrt seine eigene Position vertritt, auch wenn diese die Gemüter spaltet und bei vielen seiner Freunde und Künstler-Kollegen auf Unverständnis stößt. Beim Filmemachen folgt er dabei zumeist seiner Intuition. So erzählt er, dass er zu Beginn der Dreharbeiten zu Joshik w Tumane zunächst aufgrund der Wahl des Sujets von allen ausgelacht wurde. Niemand sah in der insgesamt handlungsarmen Geschichte ein besonderes Potential, bis Norsteins Visionen schließlich Form annahmen und die Bilder auf der Leinwand sich langsam zu einem Kunstwerk zusammenfügten.

 

„Skaska Skasok“ (dt. „Das Märchen der Märchen“) ist Norsteins wohl persönlichster Film

Auch bei seinem wohl persönlichsten Film Skaska Skasok (dt. „Das Märchen der Märchen“) scheint er einer inneren Mission zu folgen. Der Film, der 1979 nach langem Ringen mit der Zensur erscheint, basiert auf Kindheitserinnerungen und entstand in Zusammenarbeit mit der Bühnenautorin Ljudmila Petruschtschewskaja. In Skaska Skasok wirft Norstein alle narrativen Gesetzmäßigkeiten über Bord und schafft eine Art Episodenfilm, eine Komposition aus biographischen Momenten, historischen Ereignissen und intermedialen Bezügen. Dabei sind die einzelnen Sequenzen des Films auf vielerlei Weise miteinander verknüpft, am augenscheinlichsten jedoch durch die Figur eines kleinen Wolfes, der die verschiedenen Welten, und damit die verschiedenen Zeitebenen und filmischen Räume, als einziger mühelos durchschreitet.

Aus Gogols Mantel geschlüpft

1981 beginnt Norstein mit einem Langzeitprojekt: der Verfilmung von Nikolaj GogolsNikolaj Gogol (1809–1852) war ein ukrainisch-russischer Schriftsteller. Er gilt als einer der wichtigsten Klassiker russischer Literatur, seine Werke wie Der Mantel, Der Revisor oder Die Toten Seelen werden von Literaturwissenschaftlern als wegweisend für viele nachfolgende Autoren gewertet.  Erzählung Schinel (dt. „Der Mantel“). Wegen seiner langsamen und perfektionistischen Arbeitsweise wird Norstein 1985 von Sojusmultfilm entlassen. Die Arbeit gerät daraufhin – nicht zuletzt aufgrund mangelnder Finanzierung – immer wieder ins Stocken. Schon jetzt ist Der Mantel das wohl längste Projekt in der Geschichte des Zeichentrickfilms. Mit der Vollendung dieser Mammutaufgabe wird sich Norstein sicherlich wieder ein Denkmal setzen. Die Bedeutung des Mantels für die russische Literatur ist kaum zu überschätzen, ein gängiges Sprichwort dazu lautet: „Wir alle sind aus Gogols Mantel geschlüpft.“


1.vgl. Kitson, Clare (2005): Yuri Norstein and Tale of Tales: An Animatorʼs Journey, Eastleigh, S. 9 
2.vgl. animation.ua (2012): Yuri Norstein – after „The Overcoat“  
3.vgl. Kitson, Clare (2005), S. 23 
4.Brief an Clare Kitson vom 20. April 2001, vgl. ebd. S. 30 
5.Norštejn, Jurij (1994): Metafory, in: Iskusstvo kino Nr. 7, S. 116 
6.zit. nach: obozrevatel.com (2006): Jurij Norštejn: „Iskusstvo dolžno nachodit’sja v stesnennych obstojatel’stvach.“ 
7.Novaya Gazeta (2010): Jurij Norštejn: Trudno ne označaet,  čto vsë poterjano 
8.aif.ru (2010): Norštein: Magnistkij sko čalsja ot serdečnoj nedostačnosti Putina 
9.bbc.com (2016): Kinoblog: Jurij Norštein i ego ličnyj Krym 
10.ebd. 
11.vgl. Norštein, Jurij/Jarbusova,Frančeska (2005): Ëžik v tumane, in: Skazka skazok (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung), S. 284 
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