Medien

Debattenschau № 48: Mord an Denis Woronenkow

Am 23. März wurde der Ex-Dumaabgeordnete Denis Woronenkow in Kiew auf offener Straße erschossen.

Der ehemalige Abgeordnete der Kommunistischen Partei war eine umstrittene Figur: Er hatte die Linie des Kreml mitgetragen, in Sozialen Netzwerken etwa die Angliederung der Krim begrüßt. Umso überraschender war es für Viele, als er Ende 2016 in die Ukraine emigrierte – nachdem er nicht mehr in die Duma gewählt worden war. Da in Russland seit 2014 wegen Korruption gegen Woronenkow ermittelt wurde, vermuteten dies manche als Beweggrund für seine Emigration. In Kiew verglich er Russland schließlich sogar mit Nazi-Deutschland. Woronenkow hinterlässt eine Ehefrau, die populäre Opernsängerin Maria Maksakowa-Igenbergs, den gemeinsamen Sohn sowie zwei Kinder aus einer früheren Ehe.

Foto © Roman Jarowizyn/Kommersant

Unmittelbar nach Woronenkows Ermordung brachen heftige Spekulationen über das Motiv und die Hintermänner aus: Steckt der SBU hinter dem Mord? Der russische Geheimdienst aus „Rache am Verräter“? Oder ging es um irgendwelche schmutzigen Geschäfte? 

Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sprach von „russischem Staatsterrorismus“, die russische Außenamtssprecherin Maria Sacharowa dagegen von einem „Auftragsmord“.

Der mutmaßliche Mörder war nach der Tat schwer verletzt in ein Krankenhaus eingeliefert worden, wo er seinen Verletzungen erlag. Am Tag nach dem Mord veröffentlichte der ukrainische Obosrewatel den Namen des mutmaßlichen Täters. Andere, zumeist russische, Quellen stützen sich jedoch auf die Anwältin des Mannes, die behauptet, ihr Mandant sei noch am Leben.

In russischen Medien wird derzeit heftig spekuliert, wer hinter dem Mord steckt, unter anderem wird die in Russland typische Frage „Wem nützt es?“ aufgeworfen. Dass so viele eine schnelle Antwort darauf haben, das hat vereinzelt wiederum eine eigene Debatte ausgelöst. dekoder bringt Ausschnitte:

Quelle dekoder

 

Novaya Gazeta: Kreml wird sich nicht herauswinden können

Julia Latynina von der unabhängigen Novaya Gazeta hat keinen Zweifel, wer hinter dem Mord steckt:

Deutsch
Original
Auch wenn die Kiewer Polizei und der SBU hilflos erscheinen, so werden sie doch alles daran setzen, dieses Verbrechen aufzuklären. Meiner Meinung nach besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es aufgeklärt wird, so wie der Mord an Litwinenko. In diesem Fall wird sich der Kreml nicht herauswinden können.

Bestenfalls wird seine Verteidigungsstrategie folgende sein: „das war Eigeninitiative“, „hat versucht, sich anzudienen“. Funktionieren wird diese Verteidigungsstrategie nur bei den Olgino-Trollen.

Как бы ни были беспомощны киевская полиция и СБУ, они бросят на раскрытие этого преступления все силы. На мой взгляд, есть очень большая вероятность, что его раскроют, так же, как было раскрыто убийство Литвиненко. В таком случае Кремлю не отмыться.

В лучшем случае линия защиты будет такая: «это самодеятельность», «пытались угодить». Действовать эта линия защиты будет только на ольгинских троллей. 

 

erschienen am 24.03.2017

Republic: Komplizierter als MH17-Abschuss

Oleg Kaschin vermutet eine Rache des Kreml hinter der Ermordung – und fragt sich auf Republic, wie der es schaffen wird, damit ein Zeichen zu setzen und sich gleichzeitig nicht als Täter zu entlarven:

Deutsch
Original
Die russische Staatsmacht wird nun vermutlich Mittel und Wege erfinden, um zu zeigen, dass Woronenkow wegen Verrats bestraft wurde. Diese müssen einerseits von allen potentiellen Adressaten eindeutig verstanden werden; andererseits dürfen sie auch nicht zum offenherzigen Bekenntnis werden: „Ja, das waren wir.“

Diese Herausforderung ist deutlich größer als damals bei der MH17 oder bei Nemzow. Vielleicht werden die russischen Machthaber nicht dicht halten und sich schneller verplappern als die ukrainischen Ermittler den Mordfall aufdecken.

[...] российская власть сейчас, скорее всего, будет изобретать способы дать понять, что Вороненков наказан за предательство, и эти способы должны быть такими, чтобы, с одной стороны, они воспринимались однозначно всеми потенциальными адресатами, а с другой – не стали бы чистосердечным признанием: «Да, это мы».

Tакая задача несопоставимо более сложна, чем то, что было с «Боингом» или Немцовым. Может случиться так, что российские власти не выдержат и проболтаются быстрее, чем украинские следователи раскроют убийство.

 

erschienen am 23.03.2017

Komsomolskaja Prawda: Der SBU war’s

Für das Massenblatt Komsomolskaja Prawda ist ebenfalls klar, wer die Drahtzieher sind – auch wenn es zu einem anderen Schluss kommt als Republic:

Deutsch
Original
[Woronenkows] kriminelle Sünden in Russland wurden dabei [in der Ukraine – dek] nur spärlich erwähnt, beiläufig, im Rahmen der politischen Verfolgung. Schließlich hatte man das glänzende Bild eines [Unschulds-]Lamms. Aus Woronenkow hat man alles rausgeholt, was ging. Und ihn dann zur Schlachtung überführt. Diese Version sieht doch sehr viel logischer aus, oder? Besonders vor dem Hintergrund der für die Ukraine nicht allzu erfreulichen jüngsten Ereignisse. Für Poroschenko, aus dessen Händen die Macht langsam zu den Radikalen abfließt, ist das der rettende Strohhalm. Vorerst. [...]

Übrigens wurde am Tatort eine Handtasche des Killers gefunden. Eine Handtasche, verstehen Sie? Wozu hat er die „zum Einsatz“ mitgenommen? Bestimmt hatte er darin einen Bart zum Ankleben, einen Kompass, einen Kiew-Stadtplan für Touristen und einen Ausweis der „Abteilung Liquidation“ des KGB. Derartiges wird der SBU wahrscheinlich bald präsentieren. [...] 

О криминальных прегрешениях в России при этом упоминалось скупо, вскользь, в рамках политического преследования. В итоге образ агнца получился на славу. Из Вороненкова выжали все, что было возможно. И принесли на заклание. Согласитесь, эта версия выглядит куда логичнее. Особенно на фоне последних не самых приятных для Украины событий.
Для Порошенко, из рук которого власть потихоньку утекает к радикалам, это спасительная палочка. На какое-то время. [...]

Кстати, на месте убийства была найдена борсетка киллера. Борсетка, понимаете? Зачем он брал ее «на дело»? Даже не сомневаюсь, что в ней он носил накладную бороду, компас, туристическую карту Киева и удостоверение «отдела ликвидаций» КГБ. Скоро что-то подобное наверняка обнародует СБУ.[...]

 

erschienen am 23.03.2017

Vedomosti: Russland und Ukraine müssen zusammenarbeiten

Die Tageszeitung Vedomosti verdächtigt weder Kreml noch SBU – und regt zur Aufklärung des Falls eine Zusammenarbeit der russischen und ukrainischen Behörden an: 

Deutsch
Original
Wenn man die spezielle Art der Beschäftigungen des Ex-Abgeordneten bedenkt, darf man auch die Version nicht ausschließen, die man gewöhnlich als Konflikt in der Businesswelt bezeichnet. Selbst irgendwelche persönlichen Hintergründe oder eine Vermischung all solcher Umstände darf man nicht ausschließen.

Wenn man alle diese Versionen ernsthaft in Betracht zieht, dann wird der Mordfall ohne eine Zusammenarbeit der russischen und ukrainischen Rechtsschutzorgane nur schwer überzeugend aufzuklären sein. Aber nach offiziellen Verlautbarungen, dass russische Geheimdienste am Mord beteiligt gewesen sein sollen, wird es eine solche Zusammenarbeit offenbar nicht mehr geben.

Учитывая непростой род занятий бывшего депутата, нельзя исключать и версию, которую принято называть «конфликтом в сфере бизнеса». Нельзя даже исключать и какие-то личные версии, а также сочетание всех этих обстоятельств. Если все эти версии рассматривать серьезно, то без сотрудничества правоохранительных органов России и Украины по-настоящему убедительно раскрыть это убийство будет сложно. Но, похоже, после официальных заявлений о причастности к убийству российских спецслужб такого сотрудничества не будет.

 

erschienen am 24.03.2017

spektr: Opfer des hybriden Kriegs

Das russischsprachige Spektr, das in Lettland ansässig ist, ist der Spekulationen und schnellen Verdächtigungen müde: 

Deutsch
Original

Eine weitere Leiche – diesmal im Zentrum von Kiew – wird blitzartig zur Waffe im Propaganda-Krieg. Eigentlich interessiert sich auch niemand wirklich dafür, wer ihn weshalb umgebracht hat. Den Konfliktparteien ist auch so alles klar. Selbst wenn der Killer überlebt und ausgesagt hätte, würde man die Aussagen, die nicht in das einfache Weltbild der eigenen Seite passten, beiseite legen, es der feindlichen Propaganda anlasten und mit der Entlarvung des Gegners fortfahren.

Das heißt, obwohl wir das nicht wollten, sind wir auf beiden Seiten der Grenze bereits zu gemeinsamen Opfern des hybriden Kriegs geworden.

Еще один труп – на этот раз в центре Киева – тоже молниеносно оказывается орудием пропагандистской войны. Собственно, никому ведь и не интересно, кто и за что его убил. Сторонам конфликта и без того все ясно. И даже если бы киллер выжил и дал бы показания, та сторона, в простую картину мира которой эти показания не впишутся, легко отмахнется от них, спишет на вражескую пропаганду и продолжит сеанс разоблачения противника.

То есть все мы по обе стороны границы, сами того не желая, уже вступили в союз жертв гибридной войны.

 

erschienen am 23.03.2017

dekoder-Redaktion

 

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Anna Politkowskaja

Anna Politkowskaja war die wohl bekannteste und couragierteste Journalistin und Menschenrechtsaktivistin im Russland der Putin-Ära. Am 7. Oktober 2006 wurde sie Opfer eines Auftragsmordes, dessen Hintergründe bis heute ungeklärt sind. Am 30. August wäre sie 66 Jahre alt geworden.

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Boris Nemzow

Boris Nemzow war einer der bekanntesten Politiker Russlands und galt als scharfer Kritiker Wladimir Putins. In zahlreichen Publikationen machte er auf Misswirtschaft und Korruption in Russland aufmerksam, was ihm viele einflussreiche Gegner einbrachte. Ende Februar 2015 wurde Nemzow in der Nähe des Kreml erschossen. Im Juni 2017 wurden fünf Tschetschenen wegen Mordes verurteilt. Das Urteil ist umstritten, da unklar bleibt, wer die Auftraggeber der Verurteilten sind.

Boris Nemzow (links) und Ilja Jaschin auf dem Friedensmarsch zur Unterstützung der Ukraine im März 2014 in Moskau / Foto © Panthermedia/imago-images

Politisiert durch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im Jahr 1986 wechselte  der promovierte Kernphysiker Boris Nemzow (1959–2015) von der Wissenschaft in die Politik. Nachdem er 1991 Boris Jelzin beim erfolgreichen Widerstand gegen den Augustputsch unterstützt hatte, wurde er von diesem noch im selben Jahr im Alter von erst 32 zum jüngsten Gouverneur Russlands ernannt. Nemzow profilierte sich in seinem Gouvernement Nishni Nowgorod schnell als erfolgreicher, liberaler Reformer und war von 1997 bis 1998 als Vizeregierungschef unter Präsident Jelzin für die Reformierung des russischen Energiesektors zuständig. Der charismatische und energische Politiker war in der Bevölkerung beliebt und galt in liberaldemokratischen Kreisen bereits als potentieller Nachfolger für das Präsidentenamt.1

Infolge der Finanzkrise von 1998 trat Nemzow zurück und gründete 1999 die liberale Partei Union der Rechten Kräfte (SPS), mit der er noch im selben Jahr direkt in die Duma einzog.

Mit dem Aufstieg Putins zum Präsidenten wurde Nemzow zu einem der wichtigsten Vertreter der Opposition. Parteien und Wahlbündnisse, die Nemzow infolge innerparteilicher Konflikte der SPS gründete, wurden regelmäßig von Wahlen ausgeschlossen. Dafür machte Nemzow Putin, der ihm zufolge keine Opposition duldete, persönlich verantwortlich. Nemzow war einer der wenigen Politiker, die es wagten, den Präsidenten auch in der Öffentlichkeit zu kritisieren. Er warf Putin in mehreren Publikationen nicht nur Korruption, sondern auch Manipulation der Parlamentswahlen 2011 vor, bei denen laut Nemzow 13 Millionen Wahlzettel gefälscht worden waren.2

Bei den anschließenden Massenprotesten wurde Nemzow zu einer Schlüsselfigur der Opposition. Während er in dieser aufgrund seiner Prinzipientreue ein hohes Ansehen genoss, ist er unter regierungstreuen Anhängern wegen seiner Privatisierungspolitik unter Jelzin unbeliebt und wurde zuletzt als Landesverräter verunglimpft und als Vertreter einer sogenannten Fünften Kolonne beschimpft.

Seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise hatte Nemzow die Rolle Russlands in dem Konflikt kritisiert und an einem Bericht gearbeitet, der die Beteiligung russischer Soldaten an Kampfhandlungen in der Ostukraine belegen sollte. Noch vor der Fertigstellung des Berichts wurde Nemzow am 27. Februar 2015 in der Nähe des Kreml ermordet. Inzwischen wurde das Werk von seinen Mitstreitern postum publiziert.

Seine als Journalistin tätige Tochter3 ist unterdessen aufgrund von Bedrohungen nach Deutschland emigriert.


1.Eine ausführlichere Biographie findet sich unter Neue Zürcher Zeitung: Zum Tod von Boris Nemzow: Vom Minister zum Dissidenten
2.You Tube: Der russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow im Interview
3.Süddeutsche Zeitung: Gefährliches Russland: Virus der Freiheit
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Juri Tschaika

Der Jurist Juri Tschaika ist Generalbevollmächtigter des russischen Präsidenten im Föderationskreis Nordkaukasus. 1999 wurde nach einer Karriere in der Generalstaatsanwaltschaft auf Betreiben Putins zum Justizminister ernannt. Von 2006 bis Januar 2020 war er als Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation eine zentrale Figur im politischen System Russlands. 

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Silowiki

Silowiki ist ein Sammelbegriff für Amtspersonen aus Sicherheitsorganen des Staates. Seit den späten 1990er Jahren hat ihr Einfluss stetig zugenommen. Unter Putin gehören sie zu den einflussreichsten Akteuren innerhalb der russischen Elite.

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Wladimir Markin

Wladimir Markin (1956–2021) war lange Zeit Leiter der Presseabteilung und als solcher ein prägnantes Gesicht des einflussreichen Ermittlungskomitees, einer mit dem US-amerikanischen FBI vergleichbaren Behörde. Er gab besonders zu prominenten Ermittlungsfällen Auskunft und wurde oft als inoffizielles „Sprachrohr des Kreml“ bezeichnet.

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Michail Kassjanow

Ist ein Oppositionspolitiker und Putinkritiker. Von Mai 1999 bis Mai 2000 war er Finanzminister, bevor er unter Präsident Putin zum Ministerpräsidenten aufstieg. 2003 kritisierte er die Festnahme des Yukos-Miteigentümers Platon Lebedew. Mitsamt seinem Kabinett wurde er im Februar 2004 von Putin des Amtes enthoben. Seit 2005 engagiert er sich in der Opposition, seit 2012 ist er im Vorstand der liberalen Partei der Volksfreiheit (RPR-PARNAS).

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Protestbewegung 2011–2013

Nachdem Putin im September 2011 angekündigt hatte, wieder Präsident werden zu wollen, und im Dezember zahllose Wahlbeobachter über massive Wahlfälschungen berichteten, bildete sich in Russland die größte Protestbewegung seit dem Ende der Sowjetunion. Sie bewies erstaunliches Durchhaltevermögen, versiegte jedoch im Jahr 2013 aufgrund von inneren Streitigkeiten und der repressiven Reaktion des Staates.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)