Vergangenen Mittwoch hat Präsident Putin die sogenannte Rede zur Lage der Nation, die Botschaft an die Föderationsversammlung, gehalten. Über den plötzlich anberaumten Termin der Rede – die Vorsitzende der Föderationsversammlung hatte ihre Südostasien-Reise abbrechen müssen – war viel spekuliert worden. Putin habe schnell auf sinkende Zustimmungswerte reagieren wollen, lautet einer der Erklärungsversuche.
Auf Carnegie.ru schreibt Tatjana Stanowaja, die Tatsache, dass die Rede nicht erst Mitte März, am Jahrestag der Angliederung der Krim gehalten worden sei, zeige „dass man im Kreml verstanden hat, dass die Bevölkerung der hurra-patriotischen Rhetorik müde geworden ist – angesichts stetig sinkender Löhne“.
Diese Erkenntnis werde in der Rede vor allem auch an anderer Stelle deutlich, kommentiert sie:
Die wichtigste politische Schlussfolgerung aus der Rede [Putins an die Föderationsversammlung – dek] ist die, dass es der Präsidialverwaltung gelungen ist, den Präsidenten von einer Korrektur der Rhetorik zu überzeugen. Sonst könnte angesichts der sinkenden Zustimmungswerte die Kluft zwischen der Regierungs-Agenda und den Belangen der Gesellschaft zum Verlust der politischen Kontrolle führen.
Als der Präsident sich im vergangenen Jahr sowohl in seiner Rede als auch im Wahlkampf auf die geopolitische Agenda konzentrierte, hatte das Unverständnis und Missmut in der Gesellschaft hervorgerufen. Das Fehlen einer Zukunftsvision, die übermäßige Militarisierung und die aggressive Rhetorik – später multipliziert mit der Rentenreform – ließen die Zustimmungswerte um rund zwanzig Prozent einbrechen. Die darauffolgenden Verluste bei den Regionalwahlen bestätigten den Ernst der Lage.
Die Präsidialverwaltung musste Putin davon überzeugen, sich der innenpolitischen Agenda und den sozialen und wirtschaftlichen Problemen zuzuwenden. Der Rede nach zu urteilen ist ihr das auch gelungen.
Der Wendepunkt
Der Wendepunkt war vermutlich Andrej Tarassenkos Niederlage im zweiten Wahlgang der Gouverneurswahlen in der Region Primorje, nur wenige Tage nachdem der Präsident dessen Kandidatur öffentlich unterstützt hatte. Das Problem waren nicht nur die Polittechnologie oder regionale Besonderheiten. Es war eine persönliche Niederlage für Putin, und der Präsident bekam durchaus zu spüren, dass sich etwas verändert hatte. Die Präsidialverwaltung machte sich also an die Entwicklung einer positiven Agenda – und eines der Ergebnisse ist die Rede.
Der Auftritt ist die Antwort des Kreml auf die sinkenden Zustimmungswerte. Es ist der Versuch, den sinkenden Löhnen mit dem einfachsten Mittel zu begegnen: dem Verteilen von Geld. Eine solche Botschaft wird wohl bei niemandem für Missmut sorgen, und selbst wenn sie die Ratings nicht in die Höhe treibt, könnte sie zumindest deren Sinkflug verlangsamen.
Allerdings zeichnet sie weder eine Zukunftsvision noch mildert sie die Folgen der Rentenreform oder berührt die Probleme der sozialen Gerechtigkeit. Dabei wächst in der russischen Gesellschaft die Nachfrage nach einer entschieden anti-oligarchischen und anti-bürokratischen Politik.
Die Ansprache hat auch nicht das für Putin traditionelle Image des starken Leaders wiederhergestellt, der fähig ist, alle Widerstände zu überwinden. Der Präsident versucht, vom bösen Buchhalter, der die Notwendigkeit der Rentenreform dargelegt hat, zum guten zu werden, der bereit ist, sein Geld mit dem unzufriedenen Kollektiv zu teilen. Doch er kann vor der Öffentlichkeit seine wachsende Abhängigkeit vom System und seiner Umgebung nicht verbergen. In den Augen der Bevölkerung wird er immer mehr zu einem schwachen Führer, der sich nicht traut, wichtige personelle Entscheidungen zu treffen oder seine außer Rand und Band geratenen Freunde zu bremsen.
Oberflächliche Antwort
In diesem Sinne war die Ansprache nur eine oberflächliche Antwort auf die Forderungen der Gesellschaft nach einer Erhöhung des Lebensstandards. Die angekündigten Maßnahmen bedeuten weder eine Rückkehr zum Sozialismus noch einen Übergang zu einem neuen sozialwirtschaftlichen Modell. Es handelt sich um einen Versuch, die soziale Unzufriedenheit mit Haushaltsüberschüssen zu löschen, was jedoch kein Ersatz sein kann für eine komplexe Adaption der Sozialpolitik an die Bedürfnisse der Bevölkerung.
Die Botschaft war die entpolitisierteste der vergangenen Jahre. Ging es in den letzten Ansprachen noch übermäßig um die Außenpolitik, die Putin leidenschaftlich und in allen Details thematisierte, so kam in der heutigen Rede so gut wie gar keine Politik vor, weder Außen- noch Innenpolitik.
Die Innenpolitik ist schon lange kein beliebtes Thema für die Ansprachen mehr, was im Grunde verständlich ist: Aus Sicht des Präsidenten ist alles gut eingerichtet und funktioniert prima. Es gibt eine Partei der Macht, es gibt eine systemische Opposition, die die „gemeinsamen Werte“ teilt, es gibt politischen Wettbewerb und manchmal gewinnt sogar ein Opponent der Kreml-Schützlinge – es ist klüger, daran nicht zu rütteln.
Was eine heranreifende Parteien- oder Verfassungsreform angeht, so hält man die Frage nach einem Wechsel im Kreml offensichtlich für verfrüht. Insgesamt hatte Putin demnach zur Innenpolitik nichts zu sagen, trotz der unerwarteten Verluste bei den Gouverneurswahlen im vergangenen Jahr.
Pazifistische Rhetorik
Dafür tauschte der Präsident den aggressiven Ton und das Säbelrasseln der Außenpolitik gegen eine pazifistische Rhetorik ein und minimierte gleichzeitig den Umfang des außenpolitischen Themenblocks. Damit reagierte er auf die wachsende Unzufriedenheit der Gesellschaft über die unverhältnismäßige Begeisterung der Regierung für Geopolitik und ihre Fixierung auf die USA, die Ukraine, Syrien und das „verfaulende Europa“. Das Volk will Putin zu Hause – und Putin hat das anscheinend verstanden, indem er ungewöhnliche Rechtfertigungen für seine Kommentare zum Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag lieferte.
Korrigierte Positionen hatte die Rede nicht zu bieten. Putin wiederholte längst bekannte Leitsätze, schlug dabei jedoch friedlichere Töne an, womit er auf die Militärverdrossenheit der Gesellschaft reagierte. Das ist eine wichtige Neuerung, die dem Präsidenten, der zu Härte im Dialog mit dem Westen neigt, als sozialpolitische Leitplanke dienen könnte.
Ohne jeden Realitätssinn
Während die Ansprache im vergangenen Jahr unangenehm aufstieß, weil sie die soziale Agenda fast vollständig ignorierte, entbehrte die diesjährige jeglichen Realitätssinn, was den Druck der Machtorgane auf die Wirtschaft betrifft.
Die diesbezügliche Hauptnachricht im Vorfeld der Ansprache war die Festnahme [des US-Investors – dek] Michael Calveys sowie weiterer Top-Manager der Investmentgesellschaft Baring Vostok wegen eines unternehmensinternen Konflikts um die Wostotschny-Bank. Wäre es Putin an Realitätsnähe gelegen gewesen, hätte er entweder den Wirtschaftsteil komplett streichen oder etwas zum Fall Baring Vostok sagen müssen. Aber er zog es vor, so zu tun, als sei nichts geschehen.
Man kann nicht überzeugend sein, wenn man versucht einem Querschnittsgelähmten Fitnessgeräte zu verkaufen. Genauso wenig kann man von Investitionsklima und dem Schutz von Unternehmern reden und gleichzeitig Festnahmen beim größten ausländischen Investmentfonds ignorieren, die offensichtlich im Interesse einer der beiden Seiten im Unternehmensstreit erfolgten. Diese Diskrepanz wurde zum wunden Punkt der Ansprache, die bei aller Ausrichtung auf soziale Fragen, jegliches Niveau eingebüßt hat, was die Beziehungen zwischen Staatsgewalt und Wirtschaft angeht.
Die überstürzte Rede, das Setzen auf einfache Lösungen und das Verteilen von Geld, die Weigerung, die aufsehenerregende Verhaftung Michael Calveys zu kommentieren – das alles zeigt deutlich, dass es um einen Wechsel der Rhetorik und nicht um einen Kurswechsel geht.
Die Staatsgewalt hat den Versuch unternommen, Putins Agenda der Agenda der russischen Gesellschaft anzunähern, doch das ist ein rein taktischer Zug, der kaum Einfluss auf die tatsächlichen Inhalte der Tagespolitik haben dürfte. Die einzige Ausnahme könnte die angekündigte Reform der Rechtsgrundlagen für die staatliche Aufsichtstätigkeit sein, aber das ist in der heutigen Situation wohl kaum genug.
Geld ist da – das war Putins frohe Botschaft. Ob das die Pille für die Gesellschaft weniger bitter gemacht hat, werden wir in den nächsten Monaten an den neuen Umfragewerten zur Unterstützung des Präsidenten sehen.