Medien
Gnose

Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

Gnosen
en

Augustputsch 1991

Am 19. August 1991 wurde einer der letzten Versuche unternommen, die Sowjetunion vor der Auflösung zu bewahren. Während Millionen von Bürgern – wie sonst nur in Fällen von Staatstrauer oder großen nationalen Katastrophen – rund um die Uhr auf allen TV-Kanälen klassische Musik und die Ballettaufführung des Schwanensee sehen konnten, ließen die Minister der Unionsregierung Panzer im Zentrum Moskaus auffahren. Sie erklärten Michail Gorbatschow für amtsunfähig, verkündeten Ausnahmezustand, Machtübernahme und ihr Ziel: Bewahrung der Sowjetunion vor dem Zerfall.

Tausende Menschen stellten sich hinter den Präsidenten Russlands Boris Jelzin und hielten dagegen. Alsbald war der Ausnahmezustand vorbei: Mit dem Untergang der Putschisten beschleunigte sich auch der Untergang der UdSSR. Boris Jelzin wurde zum demokratischen Symbol des Aufbruchs. Allerdings sehen nach den gewaltigen Umbrüchen der 1990er Jahre heute 43 Prozent der Russen in den August-Ereignissen von 1991 eine Tragödie für das Land.

 

Ausnahmezustand

Als am frühen Morgen des 19. August 1991 die ersten sowjetischen Radiozuhörer ihre Geräte einschalteten, mussten sie zu ihrer Überraschung erfahren, dass der Präsident der UdSSR und Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen amtsunfähig geworden sei.

Boris Jelzin wurde zum demokratischen Symbol des Aufbruchs / Foto © Wikipedia unter CC BY 4.0

Das Staatskomitee für den Ausnahmezustand (Russische Abkürzung: GKTschP), das unter der Führung des Vizepräsidenten Gennadi Janajew einige Minister der Unionsregierung, den Chef des KGB Wladimir Krjutschkow und weitere reformkritische Politiker vereinigte, übernahm die Führung der Staatsgeschäfte und verkündete sein oberstes Ziel: die Bewahrung der Sowjetunion vor dem Zerfall.

Das Komitee  berief sich dabei auf die Ergebnisse des unionsweiten Referendums vom 17. März 1991, bei dem die Mehrheit für den Erhalt der UdSSR plädiert hatte.

Auf dem Weg zu einer Konföderation

Schon kurz nach dem Referendum begann Gorbatschow einen Verhandlungsprozess mit den Oberhäuptern der Unionsrepubliken. An deren Ende sollte ein neuer Unionsvertrag stehen: Die föderale UdSSR sollte in eine Konföderation mit dem Namen „Union Souveräner Sowjetrepubliken“ überführt werden und alle Sowjetrepubliken umfassen – mit Ausnahme der baltischen Republiken, Moldawiens, Georgiens und Armeniens. Gemäß dem völkerrechtlichen Verständnis sollten alle Konföderationsmitglieder Souveränitätsrechte bekommen. Die feierliche Unterzeichnung des Unionsvertrags war für den 20. August angesetzt. Dem aber kam das GKTschP zuvor.  

Absetzung Gorbatschows

Der Gründung der GKTschP war ein Versuch seiner zukünftigen Mitglieder vorausgegangen, Gorbatschow zu überreden, den Vertrag nicht zu unterzeichnen und den Ausnahmezustand auszurufen. Das Gespräch mit Gorbatschow, der sich in seiner Urlaubsresidenz Foros auf der Krim aufhielt, verlief jedoch ergebnislos.1 Daraufhin verkündete das GKTschP die Machtübernahme.

Gorbatschow behauptete später rückblickend, dass er in Foros überrascht worden sei: Er sei drei Tage lang von der Außenwelt isoliert gewesen, sein Aufenthaltsort sei blockiert und die Telefonleitungen abgeschaltet worden.2

 

Trailer des Dokumentarfilms „Sobytie“ („The Event“), 2015, Regisseur: Sergej Loznitsa

Was das GKTschP allerdings versäumte, war die Isolierung Boris Jelzins – des Präsidenten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Diesem gelang es schon in den Morgenstunden des 19. August, seine Datscha zu verlassen. Durch die sich mit Panzern füllenden Straßen Moskaus fuhr er zum Gebäude des Obersten Sowjet der RSFSR, dem sogenannten Weißen Haus. Dies wurde zur Zentrale des Widerstands gegen das Komitee, dessen Mitglieder alsbald als „Putschisten“ bezeichnet wurden.

Während auf allen Fernsehkanälen – wie sonst nur in Fällen von Staatstrauer oder großen nationalen Katastrophen – klassische Musik und das Ballett Schwanensee ausgestrahlt wurden, verteilten die Gegner der GKTschP Flugblätter mit dem Aufruf von Jelzin, in einen fristlosen Generalstreik zu treten. Um das Weiße Haus herum wuchsen Barrikaden, um 16 Uhr wurde in Moskau offiziell der Ausnahmezustand ausgerufen.

Kräftemessen in Moskau

Erst am Abend wurde die Bevölkerung über die Pläne der neuen Staatsführung informiert. Unter Führung Janajews fand eine Pressekonferenz statt, auf der die Mitglieder der GKTschP die Öffentlichkeit zu beruhigen versuchten: Sie bezeichneten Jelzin als „Genossen“ und Gorbatschow als „Freund“, bekannten sich zur Notwendigkeit von Marktreformen. Legendär wurden die zitternden Hände von Janajew sowie die Fragen der Journalisten, die das GKTschP offen mit Pinochet verglichen und die Aktion als einen Staatsstreich bezeichneten.

Obwohl das GKTschP scharfe Maßnahmen gegen die „Unruhestifter“ ankündigte, die Ausstrahlung von oppositionellen Radiosendern und TV-Kanälen zeitweilig unterband und die Schließung von elf Printmedien anordnete, wurden die Redaktionsräume nicht besetzt, die Ein- und Ausreise aus dem Land blieb weiter möglich.

Die Journalisten des Ersten Kanals konnten in den Abendnachrichten einen Beitrag über die Lage vor dem Weißen Haus senden, in dem Jelzin das GKTschP kritisierte. Das Versagen der staatlichen Zensur wurde offensichtlich.   

Währenddessen versammelten sich vor dem Weißen Haus mehr als 200.000 Menschen. Verschiedene politische Gruppen solidarisierten sich mit Jelzin. Dieser erklärte sich am 20. August zum Oberbefehlshaber aller auf dem Gebiet der Russischen Sowjetrepublik stationierter Truppen.

In der Nacht vom 20. auf den 21. August kulminierten die Ereignisse: In Moskau wurde eine Ausgangssperre verhängt. Das GKTschP ließ Panzer in Bewegung setzen, um das Weiße Haus zu stürmen, doch unterwegs stellten sich ihnen Protestierende in den Weg. In dieser Nacht kamen drei Zivilisten ums Leben, ein Schützenpanzer wurde von Demonstranten angezündet. Die Eliteeinheit des KGB Alpha weigerte sich, ohne einen schriftlichen Befehl vorzurücken.

Um acht Uhr morgens zog Jasow die Truppen aus der Stadt zurück. Das Scheitern des Putsches wurde offensichtlich. Einzelne Mitglieder der GKTschP flogen nach Foros um mit Gorbatschow zu sprechen, dieser weigerte sich aber, sie zu empfangen.

Der Anfang vom Ende – das Ende vom Anfang?

Es war ein symbolischer Schritt, als Gorbatschow am 22. August kurz nach Mitternacht in Moskau landete. Die westlichen Länder begrüßten seine Rückkehr, und auch die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts, die schon ihre Re-Sowjetisierung befürchtet hatten, atmeten auf. Jelzin galt jetzt als Retter Gorbatschows. Leonid Krawtschuk, der wenige Monate später zum ersten Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, ließ seine loyale Haltung gegenüber dem GKTschP genauso schnell fallen wie viele andere Oberhäupter der Unionsrepubliken und schwenkte (genauso wie diese) auf die Linie Jelzins ein. Janajew und weitere Mitglieder des GKTschP wurden verhaftet, einzig Innenminister Boris Pugo entzog sich der Verhaftung durch Suizid.

Obwohl die drei Augusttage als Gründungsereignis des neuen, unabhängigen Russlands gehandelt werden, verhallen bis heute nicht die Debatten über die Ereignisse und ihre Bewertung.

Gorbatschow gab 20 Jahre später zu, von den Plänen der Putschisten gewusst zu haben3, und viele Forscher fragen nach seiner wirklichen Rolle.4 Da nur eine Minderheit der Bevölkerung Russlands auf die Barrikaden ging, stellt sich die Frage, wie die Mehrheit über die Vorgänge wirklich dachte. Was bedeutet es, dass 43 Prozent der Bürger Russlands5 die Niederlage des GKTschP heute als eine Tragödie sieht, die „katastrophale Folgen für das Land und die Menschen“ hatte? Und wie stark prägt der Sowjetmensch die politische Kultur Russlands heute?

Wenige Monate nach den Ereignissen, am 8. Dezember 1991, besiegelten die Präsidenten von Russland, der Ukraine und Belarus das Ende der Sowjetunion. Wladimir Putin, der während der Augusttage auf der Seite Jelzins stand, bezeichnete den Zusammenbruch der UdSSR später als „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“.6


Aktualisiert am 17.08.2021
1.Pichoja, Rudol’f (1998): Sovetskij Sojuz: istorija vlasti: 1945-1991, Moskau, S. 658-659
2.ebd. S. 653, 684
3.Ria Novosti: Gorbačev znal o planach GKČP, no sčel bolee važnym ne dopustit’ bojni
4.Pichoja, Rudol’f (1998): Sovetskij Sojuz: istorija vlasti: 1945-1991, Moskau, S.684
5.levada.ru: GKČP: 30 let
6.kremlin.ru: Putin, Vladimir: Poslanie Federal’nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii
dekoder unterstützen
Weitere Themen
Gnose

Perestroika

Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

Gnose

Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.

Gnose

Leonid Breshnew

Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

Gnose

Tauwetter

Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

Gnose

Gulag

Der Begriff Gulag steht im weitesten Sinne für das sowjetische Lagersystem und damit für den Terror und den Repressionsapparat, den die kommunistische Partei der Sowjetunion zum Erhalt ihrer Macht aufbaute. GULag ist die Abkürzung für Hauptverwaltung der Erziehungs- und Arbeitslager. Diese Verwaltungsstruktur existierte von 1922 bis 1956 und unterstand dem sowjetischen Sicherheitsdienst.

Gnose

Auflösung der Sowjetunion

Heute vor 31 Jahren trafen sich die Staatsoberhäupter von Russland, Belarus und der Ukraine und vereinbarten, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten zu gründen. Damit besiegelten sie faktisch das Ende der Sowjetunion. Welche Dynamiken damals die einstige Supermacht zum Zerfall brachten, skizziert Ewgeniy Kasakow.

 

weitere Gnosen
Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)