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Matrjoschka

„Es will mir scheinen, als gäbe es für dieses Land, dieses Volk, diesen Staat kein gemäßeres und aufschlußreicheres Symbol als diese zunächst recht einfach aussehende und fast einfältig dreinschauende Holzpuppe.“1 Dies befand in einem Reisebericht Rudolf Hagelstange, der 1962 zusammen mit Heinrich Böll und Richard Gerlach die Sowjetunion besuchte. Gemeint waren die hohlen gedrechselten Puppen der Matrjoschka, die sich öffnen lassen und weitere ähnlich gestaltete kleinere Puppen enthalten.

Reiseberichte wie dieser zeugen von der damaligen Faszination von dem Land jenseits des Eisernen Vorhangs. Beseelt durch eine ungebrochene Revolutionsnostalgie und begeistert von der klassischen russischen Kultur beschäftigten sich Intellektuelle mit Russland, von ihren Erkundungsreisen brachten sie Matrjoschkas als Erinnerungsstücke mit.2 Die im Innern der Matrjoschka verborgenen „Puppen in der Puppe“ galten dabei vielen als Sinnbild des „Geheimnisses“ Russlands: Der Mythos Russlands als tiefgründiger Gegenpart des streng linear denkenden Westens spiegele sich hier wieder.

In der Sammelleidenschaft für die Matrjoschka vermischen sich bis heute Imaginationen vom alten Russland mit den gegenwärtigen Eindrücken vom Land im Osten. 

Die farbenfrohen Matrjoschkas waren Symbol für die vermeintlich intakten Traditionen des russischen Volkes / Foto © jackmac34/pixabay

Auch wenn Matrjoschkas etwas traditionell Ur-Russisches zu sein scheinen, sind die ersten Puppen erst im ausgehenden 19. Jahrhundert erfunden worden: Sie entstanden im Zuge des Revivals des russischen Kunsthandwerks, das patriotische Kreise initiierten.3 Pate stand der Wunsch nach einer eigenen nationalen Moderne. Die Künstlerkolonie Abramzewo bei Moskau, Landsitz des Moskauer Unternehmers Sawwa Mamontow, gilt als Geburtsstätte der Matrjoschka (der Name ist abgeleitet vom russischen Vornamen Matrjona): Der Künstler Sergej W. Maljutin entwarf 1892 die Figur einer Bäuerin mit kegelförmigem Leib, in Schürze und Kopftuch und mit einem schwarzen Huhn in der Hand. Heute wird sie im Spielzeugmuseum von Sergijew Possad bei Moskau aufbewahrt.

Über die Vorbilder gibt es keine verbindlichen Nachweise. Das Steckprinzip sowie die weibliche Puppenfigur entstammen einer Spielzeugkultur, die in vielen Ländern durch verschiedene gesellschaftliche Schichten hinweg zu Hause ist.4 Die Matrjoschka ist damit tatsächlich eine synkretistische Gestalt: Schon die berühmten Fabergé-Eier, die zwischen 1885 und 1917 in Russland gefertigt wurden, ließen sich öffnen und enthielten zahlreiche Überraschungen. Walter Benjamin berichtet 1926 von einer volkstümlichen Variante – zusammensteckbaren Eiern aus Holz, die auf Moskauer Märkten feilgeboten wurden. In diesem Zusammenhang bezeichnet er Spielwaren allgemein als „gesunkenes Kulturgut“, das Fertigungstechniken und Motive durch unterschiedliche Klassen trage.5 Puppen in Frauengestalt hingegen waren sowieso weit verbreitet, in Russland vor allem als bäuerliche Erntefetische. 

Matrjoschkas als Exportgut

Die zunehmend farbenfrohen Matrjoschkas wurden vor allem in den Spielzeugwerkstätten bei Moskau (Sergijew Possad und andere) und Nishni Nowgorod (Semjonow) gefertigt. Die Figuren waren bald auf internationalen Kunstgewerbe- und Weltausstellungen zu sehen und standen dort für die vermeintlich intakten Traditionen des russischen Volkes. Damit waren Matrjoschkas von Anfang an überwiegend Exportgut.6

Die politische Matrjoschka ist kennzeichnend für Perestroika und postsowjetische Zeit / Foto © Wassili Schaposchnikow/Kommersant

Die sogenannte Volkskunst (narodnoje Iskusstwo) war später in der Sowjetunion ein kulturpolitisch wichtiger und florierender Zweig. Schließlich ließ sie sich gut für eine angebliche Kulturtradition des Arbeiter- und Bauernstaates vereinnahmen. Die expandierenden Produktionsstätten kunstgewerblicher Gegenstände – neben der Matrjoschka beispielsweise auch die Palech-Lackarbeiten – steckten ein russisches Herzland in der Sowjetunion ab. Die Matrjoschka stand damit am Beginn einer russozentrischen Durchdringung der sowjetischen Kultur mit Folkloren, die, dem Prinzip der Korenisazija folgend, Handwerke der Nationalitäten kultivierte.7 Anfangs aufwändig poliert, dann einfach lackiert, avancierte die Matrjoschka zum Souvenirartikel par excellence, der dann in der späten Sowjetunion ausschließlich für das ausländische Touristengeschäft zur Verfügung stand.8

Die Vielheit in einem Körper

Über die typische künstlerisch-handwerkliche Gestaltung hinaus eignet dem Formprinzip der Matrjoschkas eine symbolhafte Qualität. Das Öffnen der runden Figuren verheißt eine unerschöpfliche Fülle (der Rekord wird unterschiedlich mit 24 bis 72 Püppchen angegeben). Die Matrjoschka birgt Vielheit in einem Körper und stellt damit idealtypisch eine volkstümliche Gemeinschaft dar.

Dieses Thema ist auch in der zeitgenössischen Kunst aufgenommen worden: Der Querschnitt einer Matrjoschka als überlebensgroßes Wandgemälde – eine Arbeit von Pavel Pepperstein für die Manifesta 10 in St. Petersburg – lädt die Betrachter ein, Teil des Gebildes zu werden.9 Daniel Knorr wiederum reflektiert im Motiv der Matrjoschka dieses nationale Stereotyp: Scharen aus Matrjoschkas bevölkern wie eine Invasion eine gesamte Ausstellungsetage der Neuen Pinakothek München und sprengen das Bild einer geschlossenen Volksgemeinschaft. Gefertigt und angekauft war diese Arbeit bereits in den 1990er Jahren, als der Kunstmarkt nach osteuropäischen Motiven der „postcommunist condition“ suchte.10 

Das Matrjoschka-Prinzip

Das Motivrepertoire der Matrjoschka erweiterte sich bereits in der Sowjetzeit: Varianten waren sowjetische Heldentypen des Sportlers, des Arbeiters oder des Militärs. Kennzeichnend für Perestroika und die postsowjetische Zeit ist die politische Matrjoschka: Bekannt sind vor allem die Figuren der Präsidenten Michail Gorbatschow oder aktuell Wladimir Putin, die ihre Vorgänger über Stalin zu Lenin inkorporieren. Darin enthüllen sie eine anrüchige Herrschergenealogie.

Die Matrjoschka mit den Konterfeis von Wladimir Putin affirmiert die vielen Gesichter des Präsidenten als Volkshelden und heroischem Allrounder. Die spät- und nachsowjetische Souvenirindustrie koppelte die Matrjoschka auch von ihrem ursprünglichen bedeutungsvollen Formprinzip ab und applizierte sie auf Stifte oder auf Schmuckgestände. 

 

Die Matrjoschka ist auch ein beliebtes Motiv im Retro-Design / Foto © Pink/Flickr

Das „Matrjoschka-Prinzip“ ist heute einerseits ein pragmatisches Designkonzept für eine raumsparende und funktionale Objektgestaltung, andererseits auch umgangssprachlicher Ausdruck für ein Täuschungsmanöver oder ein falsches Versprechen. Die Verballhornung des Motivs dauert außerdem an und gewinnt an Breite: Seit einiger Zeit finden sich Matrjoschkas vor allem auch auf Kinderstoffen und bilden ein beliebtes Motiv im Retrodesign einer vermeintlich heilen Welt.


1.Hagelstange, Rudolf (1963): Die Puppen in der Puppe: Eine Russlandreise, S. 6-7
2.Babiracki, Patryk/Zimmer, Kenyan (Hrsg.) (2014): Cold War Crossings: International Travel and Exchange in the Soviet Bloc, 1940s-1960s, Texas
3.Salmond, Wendy R. (1996): Arts and Crafts in Late Imperial Russia: Reviving the Kustar Art Industries, 1870-1917, Cambridge
4.Im Spielzeugmuseum von Sergiev Possad wird beispielsweise eine japanische Fukuruma-Puppe aus dem Jahr 1932 aufbewahrt, die ebenfalls in dem Steckprinzip gefertigt ist. Auch der Mäzen Mamontov soll eine solche Puppe besessen haben, in der Sammlung des Freilichtmuseums Abramtsevo findet sich diese jedoch nicht. 
5.„Oft ist die sogenannte Volkskunst nur gesunkenes Kulturgut einer herrschenden Klasse, das, in ein breiteres Kollektivum aufgenommen, sich erneuert“, Benjamin, Walter (1929): Spielzeug und Spielen: Randbemerkungen zu einem Monumentalwerk (=Rezension zu Gröber, Karl: Kinderspielzeug aus alter Zeit (1929)), in: Gesammelte Schriften III, Kritiken und Rezensionen 1912-1931
6.Walter Benjamin, der Liebhaber russischer Spielwaren, bezeichnete sie schon 1930 als Stereotyp, siehe Benjamin, Walter (1926/1927): Moskauer Tagebuch, zit. nach  Benjamin, Walter (1930): Selbstzeugnisse, in: Benjamin, Walter (1980): Über Kindheit, Jugend und Erziehung, S. 91-94, 92
7.Jenks, Andrew L. (2002): From Periphery to Center: Palekh and Indigenization in the Russian Heartland, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 3, 3, S. 427-458
8.Siehe den Abriss über die Produktionsgeschichte von Angela Huber in: Franz, Norbert P. (2002): Lexikon der russischen Kultur, S. 285-286
9.viennacontemporary.com: Manifesta 10, Part I: General Staff Building  
10.pinakothek.de: Daniel Knorr: Die Frau meines Lebens liebt mich noch nicht
 
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