Was den Franzosen die Liebe, ist den Russen der Knast? Zumindest ist ein wichtiger Zweig der russischen Populärmusik inspiriert von Lagergesängen, die die Gulag-Insassen einst aus den Weiten der sibirischen Steppe mitbrachten. Pawel Belosludzew hat den russischen Chanson für Batenka unter die Lupe genommen.
Interesse an der Gefängnis-Subkultur gewann ich als Teenager, als ich einen Mitschüler dabei ertappte, wie dieser ehrfürchtig Michail Krug lauschte. Der Typ pinnte sich auch Bilder mit A.U.E.-Symbolik an die Wand, teilte Zitate von Knastbrüdern in Sozialen Medien und hatte ganz allgemein ein Faible für die Gefängnis-Mythologie. Ich kann mich sogar erinnern, dass er einmal in vollem Ernst zu mir sagte: „Vor dem Bau bist du nie sicher.“ Goldene Worte, danke dir, Wowan.
Damals schon fragte ich mich: Wie kann es sein, dass erstens ein Kind, und zweitens eines, das – klar! – nie gesessen hat, in den Bann der brutalen Ästhetik krimineller russischer Superhelden gerät? Warum beißen Leute, die mit dieser Kultur absolut nichts zu tun haben, bei Liedern über Tattoos mit Kirchenkuppeln oder Spielkarten-Assen an? Was ist daran für sie romantisch? Ist das krankhafte Empathie oder Liebe zur Exotik? Keine Ahnung, echt. Aber dass gegenwärtig die Gefängnismusikindustrie in die Ewigkeit eingeht, muss ich und müsst ihr wohl einsehen.
Gefängnisfolklore – erste Dokumentationen
1908 bereiste der Volkskundler und Komponist Wilhelm Harteveld die rauen sibirischen Weiten, um erstmals die Musikkultur in den Straflagern Sibiriens zu dokumentieren. Seine Sammlung aus gut 200 Liedern über das schwere Dasein der Zwangsarbeiter nannte Harteveld dementsprechend: Lieder der Katorga.
„Ich bin glücklich, wenn Sie anhand dieser Lieder erkennen, dass die Menschen, die sie gemacht haben, genau solche Menschen sind wie Sie“, begann Harteveld seine Vorträge und meinte das absolut ernst, denn wie wir wissen, unterschied sich die gesellschaftliche Wahrnehmung des Gefängnisses in der Vergangenheit leider nicht sonderlich von der heutigen.
Die Nacht vor der Strafe, aus der Sammlung Lieder der Katorga
Verzeih mir, Heimat, schönes Land!
in Verbannung ich mich fand,
Auf ewig dort, wo furchtbare Minen sind,
Wo Türme stehen wie ein Gebirgskamm,
Harmlosen Spaß gibt es hier nicht,
nicht Flachland und geschmückte Felder.
Vorwurf und Verachtung –
die werden dort in meine Seele dringen.
Hier wird die Sehnsucht meine Freundin,
weit weg von meinen Lieben leb ich als Waise
Erinnerung und Schmerz der Trennung
lassen mich leiden bei hundert Jahren Arbeit!
Прости отчизна, край отрадный!
В изгнанье вечно я решён,
Туда, где россыпи ужасны,
Как башни, где хребты, стоят,
Где нет невинных развлечений,
Равнин, украшенных полей
И где упрёки и презренья
Должно нести душе моей.
Там буду жить с подругой-скукой,
Вдали от милых, сиротой,
С воспоминаньем и разлукой
Страдать в работе вековой!
18 Jahre später stirbt Harteveld, ohne auch nur zu ahnen, wie weit es sein ethnografisches Erbe noch bringen wird.
Die Gefängnismusikindustrie des letzten Jahrhunderts (genauer, der Sowjetzeit) hat etwas Paradoxes. Aspekte, die gut nachvollziehbar die Straflagerexistenz aufgreifen, und mit ihr die geächtete Popularisierung und Romantisierung einer kriminellen, marginalen Lebensweise, wurden damals von bekannten Lied- und Chanson-Interpreten besungen: zum Beispiel von Leonid Utjossow:Gop so smykom S odesskogo kitschmana, Irtlatsch Strongilla:Na Bogatjanowskoj otkrylasja piwnaja, Arkadi Sewerny:Nu, ja otkinulsja, kakoi basar-woksal, Michail Gulko:Berjosy Murka. Es ist aber auch klar, dass die Musiker das nicht aus propagandistischen Motiven heraus machten, sondern wegen des Stils und der damit verbundenen Haltung. Nicht einmal um zielgerichtet Kontakt zum Gefängnis-Milieu bekommen, hatte je einer von ihnen gesessen. Nur Arkadi Sewerny hatte irgendwelche kriminellen Verbindungen, doch darum geht es hier nicht.
Worin besteht die Problematik des Katorga-Milieus? Ganz einfach: Eine Gefängnis-Musikkultur, die die Gemeinschaft der Häftlinge als einheitliche, unabhängige Stimme hätte repräsentieren können, gab es überhaupt nicht. Sie trug die Bürde eines gesichts- und namenlosen Medienprodukts, das keine Chance hatte, auf den Markt zu gelangen, einfach weil es keine geeigneten Ressourcen und Vertriebswege gab. Durch das Fehlen von Helden und von Möglichkeiten, den Trend zu popularisieren, behielt das Knast-Producing die Form eines Ausflusses lyrischer Stilmittel, wurde aber keineswegs zu einem vollwertigen Konzept, das massentauglich gewesen wäre.
Grauer Anzug von Alik Berison
Ein grauer Anzug, die neuen Stiefel knarzen
– hab ich getauscht gegen die Jacke aus dem Knast.
Acht Jahre hab ich nun viel Leid erlebt,
Und nicht nur eines meiner Haare ist ergraut
Костюмчик серенький, колёсики со скрипом
Я на тюремные бушлаты променял.
За восемь лет немало горя мыкал,
И не один на мне волосик полинял.
Vermutlich lag das auch an der Kriegs- und Nachkriegskrise: am enthemmten Zustand des Justizsystems und an der fehlenden Meinungsfreiheit.
Eine neue Welle intellektueller Knast-Erzeugnisse kam in den 1950er Jahren herangerollt, als massenweise politische Gefangene freigelassen wurden. Zwar gab’s die heutigen Informationskanäle noch nicht, dafür aber die mündliche Überlieferung.
Die Märchen aus der Gefängniswelt verbreiteten sich in Windeseile, und manche von ihnen schafften es sogar in das Liedgut, das man im Hinterhof zur Gitarre sang (Schol Stolypin). Die letzte Welle kam in den 1990ern und gewann nach dem Zerfall der sowjetischen Ordnung an Wucht, als klar wurde, dass man seine Ideen umsetzen kann, ohne bestraft und daran gehindert zu werden. So erschienen Michail Krug, Alexander Djumin, Michail Swesdinski und andere Celebrities des neuen russischen Blatnjaks, den man nun dank erfolgreicher Kommerzialisierung und kultivierter Mimikry den neuen russischen Chanson nennt. Oder den kriminellen – jeder wie er will.
Der revolutionäre Durchbruch des Genres und dazugehöriger Persönlichkeiten der Subkultur in Radio und Fernsehen erlaubten es der Häftlingsseele, wie ein Dschinn ins Freie zu drängen und endlich der Welt ihre Werte zu lehren. In dieser Zeit wurde auserlesener Blatnjak auf allen Musikkanälen rauf- und runtergespielt, an diesem Hype kam niemand vorbei. Und im Jahr 2000 entstand eine Hochburg für einschlägige Interpreten – der Radiosender Schanson, den täglich allein in Moskau eine Million Menschen hören.
Trotz seiner Popularität (die übrigens bis dato nicht nachlässt) treten intellektuelle Gesellschaftsschichten gegen die Popularisierung des Chanson auf und sprechen von der Geschmacklosigkeit und Minderwertigkeit des Genres.
Eines der interessantesten Phänomene rund um den russischen Chanson ist, wie die Leute über ihn denken: die Kritiker negativ, und das Publikum positiv. Wie bei Filmen mit Jim Carrey. Das macht den Reiz aus.
Symbolische Einsamkeit
Man geht allgemein davon aus, dass der russische Blatnjak die Musik von Einzelpersonen ist. Dass es immer weiter Soloprojekte sind, mag an der symbolischen Einsamkeit liegen, die im Schaffen von Chansonniers und Chansonnetten häufig durchscheint, oder auch an einer charakterlichen Besonderheit moderner „Katorgaer“. Natürlich gibt es auch Ausnahmen der Regel, etwa Butyrka, Worowaiki, Zona, Pjatiletka und Belomorkanal.
Bild der Vergangenheit von Michail Swesdinski
Noch nie hat mich jemand Vater genannt,
auch Ehemann sagte bisher keiner.
Kann sein, dass mein Leben in Einsamkeit vergehen wird
und Familiengemütlichkeit werd ich wohl kaum erleben.
Меня ещё отцом никто не называл,
Как мужем до сих пор не называли.
Быть может, в одиночестве вся жизнь пройдёт —
Уют семьи увижу я едва ли.
Zum Teil liegt es sicher daran, dass das Genre gewissermaßen eine russische Form der DIY-Kultur ist. In den 1990ern war das auf jeden Fall so, als sich zahlreiche Musiker eigenständig auf den Markt hinauswagten, ohne Unterstützung von Producern, einfach indem sie ihre Alben zu Hause aufnahmen oder in Studios von Freunden. Heute wird der Chanson bereits gesponsert und gut bezahlt, wie man an der Vielzahl an Plattenlabeln sieht, die dank der neuen Beliebtheit des Genres aus dem Boden geschossen sind.
Die Semantik des Gefängnischansons – Mama, Glaube und Tattoos
Es ist unmöglich, eine einheitliche Antwort darauf zu finden, was genau denn nun der Kriminal-Chansonnier populär machen will und welchen Überzeugungen er anhängt. Allerdings gibt es doch Gesetzmäßigkeiten. Im Mitteilungsblatt des Kasaner Instituts für Rechtswissenschaften des russischen Innenministeriums erschien 2017 ein Aufsatz von Anton Schalagin und Olga Chrustaljowa zum Thema Gefängnisfolklore im Kontext der kriminellen Subkultur. Darin versuchen die Autoren das ideologische Profil des modernen kriminellen Helden zu klassifizieren. Aufgezählt werden Charakteristika wie: gezieltes Begehen von Finanzdelikten, demonstratives und übersteigertes Konsumverhalten, kriminelle Verbindungen und unmoralisches Verhalten, darunter Geringschätzung althergebrachter Traditionen.
Die Themen, die die Ästhetik der Gefängnislieder ausmachen, sind dieselben wie vor hundert Jahren. Am häufigsten und typischsten finden sich:
Die Mutter. Lesen Sie sich die Titel der Knastlieder der 1990er und 2000er Jahre durch, und sehen Sie selbst. Hallo, Mama von Krug, Mutter von Alexander Djumin, Mama von Viktor Petlura. Jeder Chansonnier, der etwas auf sich hält, singt ein Lied über die Mutter. Die Bedeutung der Texte läuft immer auf dasselbe hinaus: „Verzeih mir, Mama“, „Mamachen, schenk mir Wodka nach“. Die Mutter ist im Chanson zum ideologischen Kult erhoben.
Interessanterweise kommt der Vater in den Liedern viel seltener vor. Vielleicht ist das einfach die Knast-Symbolik. Aber wer weiß.
Der Glaube. Fast in jedem Lied hört man etwas, das mit der Kirche zu tun hat. Jeder anständige Chansonnier muss ein Lied über erlöschende Kerzen, Kuppeln (egal ob echte oder tätowierte) oder Gebete um die Vergebung seiner Sünden im Repertoire haben. Der Tätowierer richtet mir den Rücken – ein Kloster mit lauter Kuppeln (Alexander Djumin Blagoweschtschenski zentral), Goldene Kuppeln erfreuen mein Herz (Michail Krug Goldene Kuppeln), Gott bewahre uns vor dem Gericht (Andrej Sarja, Dialog s sowestju).
Russian criminal tattoos und sonstige Knastmoden. Jeder anständige Chansonnier hat ein Lied über Tattoos. So will es die Seele der Kriminalität. Das Tattoo ist in der Gefängnisreligion gleichsam das Geschichtsbuch. Für jeden der persönliche Schutzengel. Ein Lied mit dem Titel Nakolotschka findet man bei mindestens zwei Interpreten: Michail Schufutinski und Alexander Udatscha.
Ansonsten zählt zur Knastmode auch alles andere aus der Welt des russischen Gefängnisses: So gibt es Lieder über Pritschen, über Diebe im Gesetz, über im Gefängnis verlorene Freunde, Landstreicherei, kriminelle Machenschaften, Banden, Strafkolonien und dergleichen mehr.
Die Natur. Ja, das Verbrechervolk ist auch zur Wahrnehmung der Umwelt fähig, kann auch ästhetisches und seelisches Vergnügen an der Betrachtung äußerer Schönheit empfinden. Vieles dreht sich in den Naturliedern um die Liebe zu heimatlichen Gefilden.
Weiße Birke von Alexander Djumin
Überm Fluss über dem Wald ein gelockter Ahorn stand
Verliebt war er in eine Birke mit ihrem weißen Band,
und wenn über dem Feld der Wind sich legte,
für die Birke sein Lied sich regte:
Ach, weiße Birke, ick liebe dir!
Deinen schlanken Zweig streck aus nach mir
Verloren bin ich ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit.
Meine liebe weiße Birke, ich bin zu allem bereit!
Над рекой над лесом рос кудрявый клён,
В белую берёзу был тот клён влюблён.
И когда над полем ветер затихал,
Он берёзе песню эту напевал
«Белая берёза, я тебя люблю.
Ну протяни мне ветку свою тонкую.
Без любви, без ласки пропадаю я.
Белая берёза, ты — любовь моя»
Die Liebe. Wie denn auch ohne? In der Knastlyrik ist sie natürlich ein wenig seltsam, und eigentlich durch und durch sexistisch (man denke nur an das berühmte Zitat von Michail Krug: „Ich mag keine Frauen, die eine eigene Meinung haben. Sobald eine Frau anfängt zu glauben, sie sei klug und habe Verstand, wie ein Mann, hört sie auf eine Frau zu sein. Wieso soll ich ihr dann in der Straßenbahn den Vortritt lassen, ihr die Hand reichen, wozu Blumen schenken?“), aber es gibt sie. Erinnerungen, romantische Oden, das war’s dann schon.
Beim Versuch, in den Texten der Knastmusik die wichtigsten Schlüsselwörter auszumachen, erörtert Glaskowa im erwähnten Aufsatz, dass im neuen russischen Chanson drei Gefühle vereint seien, die zur russischen Seele gehören: Kränkung, Sehnsucht und Gram. Kein Wunder. Fast jedes Lied handelt von Enttäuschung vom Leben. Sogar wenn es eigentlich um Tattoos geht. Oder um schöne Mädchen.
Das Schicksal - die Böse von Iwan Kutschin
Weiße Rosen blühen, die roten sind gewelkt
Entweder hab ich den Traum versoffen
oder es hat ihn sich jemand gegriffen.
Розы белые цветут, красные завяли,
То ли я пропил мечту, то ль её украли.
Opferdarstellung: Fake-Blatnjak
Noch so ein aufwühlendes Phänomen ist beim russischen Chanson, ähnlich wie beim Rap, die Frage nach der Authentizität, der Glaubwürdigkeit. Während beim Rap die Polemik bei Ghetto- und Straßen-Metaphern ansetzt, lautet hier die Frage: Kann einer, der nie in Haft war, Kriminal-Chansonnier sein? Genrekönig Michail Krug, Sergej Nagowizyn – fast keiner der Blatnjak-Sänger hat je gesessen. Krug outete sich dazu sogar einmal: „Warum wollen denn alle diese Parallele ziehen: Er singt Knastlieder, also hat er gesessen – ich hab nicht gesessen!“
Ein interessanter Fall war die Sängerin Katja Ogonjok, die zu Lebzeiten (sie starb 2007 im Alter von 30 Jahren) behauptete, sie sei zwei Jahre in Haft gewesen. Im Nachhinein dementierte ihr Producer Wladimir Tschernjakow die Legende. Was ist die Logik dahinter? Warum tun die Leute so, als wären sie kriminelle Autoritäten? Für das Show-Business oder aus Sympathie für die Subkultur? Das Phänomen der Glaubwürdigkeit ist in soziokultureller Hinsicht nicht ausreichend erforscht.
Gefängnis-Underground
Kehren wir zur Kriminallyrik als Konzept zurück, so zeichnet sich innerhalb des Gefängnisakademismus auch ein Underground ab – im wörtlichen Sinn das, was nicht aus den Zellen dringt, was nicht kommerzialisiert wird: radikale Selfmades, Amateur-Sänger hinter Gittern und Randerscheinungen aller Art. Sucht man auf Youtube nach „Gefängnismusik“ oder „Blatnjak“, erhält man einen Haufen Nonames, mit alten Handys aufgenommene Videos, in denen Alltagsszenen aus dem Häftlingsleben abgespult werden.
Die Knastepoche: ein langes, glückliches Leben
Der Knast braucht keinen Harteveld mehr. Das Internet ermöglicht es den Menschen, ungehindert und selbständig für ihre Ideen und Werte einzustehen. Das betrifft auch die Gefängnisfolklore: Das 21. Jahrhundert ist mit seinem Siegeszug der digitalen Technologien zumindest für jene Leute ein Goldschatz, die in strengen Vollzugsanstalten ein schweres Dasein fristen und keine richtige Gelegenheit zur Selbstverwirklichung haben.
Sieht man auf dem Bildschirm die Gesichtslosigkeit derer, die vom schweren Los des Gaunerlebens singen, und denkt über die Bedeutung der globalen Knastlyrik nach, dann ist man verwirrt und verunsichert: Welche Art von Mitgefühl ist hier angebracht? Und was das russische Chanson angeht: Wird es weiter bestehen? Dieser Frage kann man nur mit Empirie beikommen, mit einfachen Worten: Warten wir mal hundert Jahre – dann wird man sehen. Zu die Bude.
In dieser Übersetzung wurden Ausschnitte folgender Lieder zitiert: