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Gefühlt Alternativlos

Vergangene Woche, am 6. Dezember, kündigte Wladimir Putin an, was quasi schon jeder wusste, dass er bei der Präsidentschaftswahl 2018 kandidieren wird. Kurz vorher war Russland wegen Dopings von den Olympischen Spielen ausgeschlossen worden. Nachweislich nicht belastete russische Sportler können teilnehmen, allerdings unter neutraler Flagge.

Für Maxim Trudoljubow ist kein Zufall, dass beide Ereignisse nah beieinander lagen. Das analysiert er auf Republic – und den Umgang des Staates mit der Wahrheit.

Quelle Republic

Viele erinnern sich noch an die Zeit, als die Wahrheit noch etwas bedeutete. In den 1980er Jahren konnte eine neue Erkenntnis – eine Publikation, die wenig Bekanntes der Öffentlichkeit zugänglich machte – zum Thema einer landesweiten Diskussion werden. Ähnliches geschieht auch heute noch, aber nur in sehr kleinem Maßstab, sicher nicht mehr im ganzen Land. In den Ereignissen der letzten 30 Jahre offenbaren sich Nervenzusammenbrüche und emotionale Schwankungen im Verhältnis der Gesellschaft zu jener ungreifbaren Wirklichkeit, die sich unter dem erstaunlichen russischen Wort Prawda – „Wahrheit“ – verbirgt.

Der Umgang des Staates mit der Wahrheit

Gerade kürzlich war es wieder angebracht, sich das ins Gedächtnis zu rufen, angesichts Olympiade und Doping, und davor zum Beispiel, als das Passagierflugzeug über der Ukraine vom Himmel geholt wurde, und in all den anderen Fällen von aktiver staatlicher Arbeit an den Fakten. Nun, der Umgang des Staates mit der Wahrheit wird wohl auch für die nächsten mindestens sechs Jahre ein aktuelles Thema bleiben, denn der „Chefredakteur“ der Arbeit mit Informationen in der Russischen Föderation hat gerade erklärt, für eine weitere Legislaturperiode zu kandidieren.

Symbolisch ist der Zeitpunkt, der für die Erklärung der Kandidatur gewählt wurde. Nicht auszuschließen, dass das mit Absicht geschah, um auf diese Weise die aufgeflammte Debatte über den Ausschluss der russischen Staatsdiener vom Sport einzudämmen. Wenn dem so ist, dann wäre das nur ein weiterer manipulativer Zug von tausenden, aus denen die vergangenen 18 Jahre unter Wladimir Putin bestehen und alle noch kommenden bestehen werden.

Die Entdeckung, dass es so etwas wie PR gibt

Irgendwo tief vergraben unter all den Ereignissen der letzten zwei Jahrzehnte liegt eine Entdeckung Putins und der Leute in seinem Umfeld. Sie entdeckten, dass es auf der Welt so etwas wie PR gibt, eine Erfindung der gewieften Amerikaner; dass man Informationen auch manipulieren kann, anstatt sie einfach zu unterschlagen und direkte Propaganda zu betreiben, so wie zu Zeiten der UdSSR.

Jemand, der, sagen wir, 1952 geboren ist, wie eben dieser neue russische Präsidentschaftskandidat zum Beispiel, jemand, der den damaligen ideologischen Kampf unmittelbar miterlebt hat, musste irgendwann zu der Einsicht gelangt sein, dass seine sowjetischen Vorgesetzten alte Idioten waren. Erst haben sie das ausgediente System der Zensur ad absurdum geführt und dann alle Schleusen auf einmal geöffnet. Währenddessen haben die Feinde – langsam, aber stetig – mit den Mitteln von PR, Marketing und Merchandising gearbeitet. Und gesiegt. Man hätte also schlauer sein müssen, PR lernen.

Der lacht am meisten, der am besten lügt

Schlauer sein wollten damals vermutlich alle. Der Unterschied bestand darin, was man unter „Schlauheit“ verstand. Der Weg, den die Gesellschaft als Ganzes und einzelne ihrer Mitglieder zurücklegen mussten (vor allem die, die beruflich damit zu tun hatten), war hart. Es war der Weg weg von der Enttäuschung durch die Zensur hin zu einem aufrichtigen Glauben an die Macht der empirischen Wahrheit – und dann hin zu einer neuen Enttäuschung und Erkenntnis: Dass Information zum Gegenstand von Manipulation werden kann. Dass der am meisten lacht, der am besten lügt und daran verdient. Natürlich denken nicht alle so, aber die, die so denken, sind sehr einflussreich.

Den Weg von der Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit beschreibt die Anthropologin Natalia Roudakova, Autorin des Buchs Losing Pravda: Ethics and the Press in Post-Truth Russia in einer jüngst erschienenen Untersuchung zur postsowjetischen Presse folgendermaßen: Zu Zeiten der späten Sowjetunion hätten Journalisten sich als die humanste unter den staatstragenden Stützen gesehen, erklärt Roudakova unter Bezug auf Interviews und das jahrelange Eintauchen in die Journalistenkreise von Nishni Nowgorod. Vor der Perestroika hielt man sich für einen Hort der Humanität in der sowjetischen Welt, für die letzte Hoffnung des kleinen, von der Bürokratie verprellten Mannes.

Der Weg zum Zynismus

Während der Perestroika verinnerlichte man eine neue Metapher, die die Rolle der Presse beschrieb – „die vierte Macht“. Journalisten sahen sich als Träger progressiver Werte, als Intellektuelle der Öffentlichkeit, die der Gesellschaft Orientierungspunkte boten. Gegen Ende der 1990er Jahre änderte sich die Leitmetapher wieder – nun war man „das zweitälteste Gewerbe der Welt“. Schon gegen Mitte der 1990er taucht in den Gesprächen immer häufiger das Wort „Verkäuflichkeit“ auf. Und zu Beginn der 2000er war es in Nishni Nowgorod weit verbreitet, Journalismus für „politische Prostitution“ zu halten.

Im Folgenden entwickelte sich die Stimmung Richtung Zynismus. (Es sei kurz angemerkt, dass ich persönlich mich auch an andere Orientierungspunkte erinnere. Das Gefühl einer vergifteten Atmosphäre in der Medienbranche war Ende der 1990er sicher da. Als die Zeitung Vedomosti 1999 gegründet wurde, wurden nur in Ausnahmefällen Leute mit Arbeitserfahrung aus anderen Medien eingestellt. Dasselbe galt für alle neuen Projekte, die sich auf die Fahne geschrieben hatten, zum Vorbild hoher professioneller Standards zu werden. Für mich persönlich waren die 2000er Jahre und der Anfang der 2010er Jahre eine Zeit der aufrichtigen Wahrheitssuche, allerdings ohne irgendwelche Illusionen oder das Gefühl einer höheren Mission.)

Der allgegenwärtige Zynismus – das ist eine der Errungenschaften der Regierung Wladimir Putins. Unter ihm einen anderen Zustand der Gesellschaft zu erwarten, ist sinnlos: Putin zu wählen heißt, dasselbe wieder zu wählen, nur in verstärkter Form. Für die Elite ist es ein „Zynismus der Herrschaft“, die Einsicht, dass man zum eigenen materiellen Nutzen alles manipulieren kann, was sich bewegt. Und begrenzt ist diese Herrschaft einzig durch Repressionen, die von anderen ebensolchen Mitspielern organisiert werden.

Für die Mehrheit der Bürger ist es ein „Zynismus der Benachteiligten“, ein Zynismus der Zurechtgewiesenen, ein Zynismus derer, die die Wahrheit kennen, für die sich dieses Wissen jedoch als bitter erweist. Es ist die Wahrheit von Bediensteten, die hinter dem Rücken der Herren tuscheln. Die Dissidenten der 1980er Jahre lachten über die Lügen der Diktatoren. Putin erinnert sich gut daran und tut deshalb alles dafür, dass in seinem postmodernen Imperium nicht die Lüge das Komischste ist, sondern die Wahrheit.

Das Gefühl, nichts ändern zu können

Natürlich ist er nicht uneingeschränkt erfolgreich, und dieser Zustand hat sich in seiner Schwere nicht auf die gesamte Gesellschaft verbreitet: Bei Weitem nicht alle sind zu Zynikern geworden. Es gibt viele Inseln positiven Schaffens, das ohne eine gesunde Portion Idealismus unmöglich wäre. Doch das Gefühl, nichts grundlegend verändern zu können, überwiegt. Wichtig ist, dass es sich nur um eine Wahrnehmung, um ein Gefühl handelt. Es entsteht ganz natürlich aus dem Führungsansatz, den Putin gewählt hat (nicht erfunden) und der auf dem Manipulieren von Information und Ressourcen gründet.

Der Glaube an die Allmacht von PR und Marketing hat seinen Ursprung irgendwo in den 1990ern. Er gesellt sich in dieser Weltsicht zu dem Unglauben an die Eigenständigkeit der Bürger, an ihre Schaffenskraft. Nicht einmal schnell rennen und Sportrivalen besiegen können sie – sie müssen gedopt werden. Selbstständig Geld verdienen können sie auch nicht – deshalb kann man nur kleine Summen an sie verteilen, das Eigentum ist in den Händen des Staates konzentriert. Und wählen können sie ebenfalls nicht.

Die Idee der Manipulation widerspricht der Idee des Erschaffens, denn Manipulation ist das bloße Hin- und Herschieben von bereits Vorhandenem. Von den einen nehmen, den anderen geben.

Die Kehrseite der zum Prinzip erhobenen Manipulation ist der Unglaube an die Fähigkeit der Menschen, ihr eigenes Land zu verändern, seine Entwicklung mitzugestalten, nicht bloß beim Überleben mitzuhelfen. Bewegungsunfähigkeit und existenzielle Skepsis – das ist nicht die offensichtliche, aber die wichtigste Seite von Putin als Politiker.

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Perestroika

Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

Brot oder Freiheit? Um was ging es den Menschen in der Sowjetunion, als sie die Reformpolitik Gorbatschows begrüßten? Und warum wurde aus dem „Wind of Change“ letztlich ein Hurrikan, der eine Großmacht hinwegfegte?

Es hat sich eingebürgert, von der Zeit der Perestroika (deutsch: Umbau, Umgestaltung) zu sprechen und damit die gesamte Umbruchphase vom sowjetischen System zum neuen russischen Staat zu meinen. Enger gefasst handelte es sich um die Reformpolitik des letzten Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow, die 1986/87 begann und mit der offiziellen Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 endete.

Michail Gorbatschow wurde am 11. März 1985 im Alter von 54 Jahren zum Generalsekretär gewählt und erlöste das Land von der Herrschaft der alten Männer. Er gehörte zu jenem Teil der sowjetischen Parteiführung, der deutlich erkannte, dass das Land sich in einer schwierigen innen- und außenpolitischen Situation befand. Besonders im Bereich der Wirtschaft waren Reformen nötig. Durch die Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts (uskorenie) und eine verschärfte Disziplin sollte die Produktivität gesteigert werden. Dies griff zu kurz. Im Januar 1987 kündigte Gorbatschow mit den Schlagworten Perestroika und Glasnost (Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit) eine deutlich entschlossenere Umgestaltung an. Die Mitsprache der Bürger sollte erhöht, die Rechtsordnung gestärkt und die Gesetzgebung verbessert werden. Neue Gesetze erlaubten privatwirtschaftliche Unternehmungen, um Impulse für einen wirtschaftlichen Aufschwung zu geben und die Bevölkerung besser mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern versorgen zu können. Im Frühjahr 1989 fanden die Wahlen zu einem Kongress der Volksdeputierten statt, die den Durchbruch für eine demokratische Entwicklung bedeuteten.

Briefmarke zu Glasnost und Perestroika aus dem Jahr 1988

Zunächst noch „von oben“ gesteuerte Medienkampagnen gegen Missstände schufen Raum, immer offener über Probleme des politischen Systems zu sprechen. Dieser Prozess entfaltete eine ungeheure Dynamik und konnte bald nicht mehr kontrolliert oder gebremst werden. Umweltprobleme und ihr verantwortungsloser Umgang damit – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 war nur ein Beispiel dafür - konnten nun ebenso diskutiert werden wie die Verbrechen der Stalinzeit, Misswirtschaft, Amtsmissbrauch, Korruption und Schwarzmarkt. In den Mittelpunkt der Kritik gerieten zunehmend die Parteiherrschaft und das Machtmonopol der Kommunistischen Partei.

Besonders in den kaukasischen und baltischen Republiken setzten sich Gruppen durch, die stärkere Autonomie oder sogar die Unabhängigkeit von der UdSSR anstrebten. Es kam zu Unruhen und gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Nationalitäten, wie zwischen Armeniern und Aserbaidschanern im Konflikt um die Enklave Nagorny Karabach. Die Balten forderten die Veröffentlichung des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 und eine Erklärung über dessen Unrechtmäßigkeit. Schnell stellten die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen die Staatlichkeit der UdSSR insgesamt in Frage.

Zu Beginn der Reformen herrschte Euphorie und die Illusion, die Zukunft brächte bürgerliche Freiheiten und westlichen Wohlstand und bewahre gleichzeitig die gewohnten Sicherheiten des Lebens im Sozialismus. Schon 1990 machte sich Enttäuschung breit. Die Versorgungslage verschlechterte sich dramatisch und die Kriminalität stieg spürbar an. Die Popularität Gorbatschows in der Bevölkerung sank. Konservative Kräfte in der Kommunistischen Partei versuchten, den Reformprozess zu bremsen und entschieden sich im August 1991 zu einem Putsch. Dieser scheiterte am Unvermögen der Putschisten, vor allem aber am Widerstand der demokratischen Kräfte und der russischen Regierung unter der Führung von Boris Jelzin.

In den letzten Monaten seiner Präsidentschaft bemühte sich Gorbatschow um die Erneuerung des Unionsvertrages. Die Unabhängigkeitserklärungen eines Teils der sowjetischen Republiken und die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) kamen dem allerdings zuvor. Am 25. Dezember wurde die rote Fahne der Sowjetunion im Kreml eingeholt und stattdessen die Trikolore des Nachfolgestaates Russland gehisst. Die Sowjetunion existierte nicht mehr. Das Gesellschaftsprojekt Kommunismus fand damit in Osteuropa ein Ende.


Weiterführende Literatur:
Altrichter, Helmut (2009): Russland 1989: Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München
Brown, Archie (2009): Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin
Gorbatschow, Michail (1995): Erinnerungen, Berlin
Kappeler, Andreas (Hrsg.) (1989): Umbau des Sowjetsystems: Sieben Aspekte eines Experiments, Stuttgart/Bonn
Kuhr-Korolev, Corinna (2015): Gerechtigkeit und Herrschaft: Von der Sowjetunion zum neuen Russland, Paderborn
Mommsen, Margareta / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.) (1987): Gorbatschows Revolution von oben: Dynamik und Widerstände im Reformprozeß der UdSSR, Frankfurt a.M./Berlin 
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