Polizeiknüppel, Festnahmen und „präventive Hausbesuche“: Journalistinnen und Journalisten, die von den Protesten Ende Januar berichteten, wurden in ihrer Arbeit massiv eingeschränkt, wie Reporter ohne Grenzen berichtet. Die Organisation zählte 55 Festnahmen allein am 23. Januar, eine Woche später gab es 104 Fälle, in denen Medienschaffende in ihrer Arbeit behindert wurden, außerdem 16 sogenannter „präventiver Hausbesuche“ bei JournalistInnen durch die Polizei.
Viel Aufmerksamkeit bekam die Verhaftung von Mediazona-Chefredakteur Sergej Smirnow, nach den Protesten am 23. Januar. Wegen eines Retweets bekam er 25 Tage Haft, die schließlich auf 15 Tage reduziert wurden.
Bei der Flashmob-Aktion am 14. Februar Liebe ist stärker als Angst wurde die Seite von Spektr durch die Medienaufsichtsbehörde blockiert, zahlreiche Medien wurden aufgefordert, Beiträge zu löschen, auch Meduza musste einen Artikel zur staatlichen Reaktion auf die Proteste von der Seite nehmen.
Auf Wonderzine berichten Journalistinnen unabhängiger russischer Medien davon, wie es für sie ist von Gerichtsverhandlungen und Protesten zu berichten, immer mal einen Polizeiknüppel abzubekommen, auch mit Festnahmen rechnen zu müssen – und warum sie diese Arbeit trotzdem tun. Hier erzählen vier Mitarbeiterinnen von Doshd, Mediazona, The Village und Meduza – Medien, aus denen auch dekoder immer wieder übersetzt.
Kristina Safonowa
Sonderkorrespondentin Meduza
„Nur meine Hände zittern manchmal“
Bevor ich im Frühjahr 2019 bei Meduza anfing, habe ich hin und wieder von Protestaktionen berichtet. Aber die waren selten und relativ klein. Im Juni 2019 nahmen sie meinen Kollegen Iwan Golunow fest und schoben ihm Drogen unter. Dann gingen die Proteste zu seiner Unterstützung los, ich war bei allen dabei. Trotz des Grauens der Situation habe ich gemerkt, dass ich gerne Proteste beleuchte. Endgültig überzeugt war ich, als die Menschen ab Juli 2019 auf die Straßen gingen, um gegen den Ausschluss unabhängiger Kandidaten von den Wahlen zur Moskauer Stadtduma zu protestieren.
Es ist keine einfache, aber eine sehr interessante Arbeit: Du musst gleichzeitig die Ereignisse im Blick behalten, deinen Kollegen Bericht erstatten, filmen und dabei auch noch zusehen, dass du keine Knüppel abbekommst. Ich bereite mich auf jede Aktion vor wie auf eine Wanderung. Man darf nichts vergessen: Pass und Presseausweis (jetzt auch noch die Presseweste), Ladekabel und Powerbank fürs Handy, Wasser und Proviant (die Aktion kann den ganzen Tag dauern, und für Supermarkt- oder Café-Besuche gibt es meistens keine Gelegenheit). Und das Wichtigste: bequeme Schuhe und Kleidung. Irgendwann hatte ich sogar spezielle Demo-Outfits – für warmes, regnerisches und kaltes Wetter.
Als ich zum ersten Mal sah, wie die Silowiki auf friedliche Demonstranten einprügeln, bekam ich Angst und rannte weg. Aber dann ging ich sofort zurück und begann, alles zu filmen. Seitdem scheint die Angst weg zu sein, nur meine Hände zittern manchmal. In dem Moment selbst abstrahiere ich vom Geschehen und konzentriere mich ganz auf meine Arbeit. Hilfreich ist auch, dass immer andere Journalisten in der Nähe sind, die bereit sind zu helfen. Das ist in solchen Momenten besonders wichtig.
In dem Moment schien alles möglich. Doch zwei Tage später begannen die Moskauer Prozesse
Am besten erinnere ich mich an die Protestaktion am 27. Juli 2019. Es waren sehr viele Demonstranten. Brutale Festnahmen leider auch. Aber trotz allem haben die Menschen – aller Altersstufen, gut gelaunt, friedlich – die ganze Stadt angefüllt. In dem Moment schien alles möglich. Doch zwei Tage später begannen die Moskauer Prozesse, die mit der Verurteilung von 22 Teilnehmern der Proteste im Sommer endeten.
Ich habe das Gefühl, dass bei den Protesten sehr unterschiedliche Mitarbeiter der Sicherheitskräfte unterwegs sind. Es gibt die, denen die Gewalt gegen wehrlose Menschen sichtlich kein Vergnügen bereitet. Und dann gibt es solche, von denen ich das nicht behaupten kann. Auch der Umgang mit den Journalisten ist unterschiedlich. Ich habe alles erlebt, von Gleichgültigkeit bis hin zu Verständnis für unsere Arbeit, Genervtheit, unangebrachte Komplimente. Bis vor Kurzem dachte ich, ich könnte nur aus Versehen etwas abbekommen. Aber bei der Aktion am 23. Januar hat mich ein Polizist gezielt zwei Mal mit voller Wucht mit seinem Knüppel geschlagen – ich habe in dem Moment gefilmt, wie andere Beamte einen jungen Mann in den Schnee warfen und auf ihn einprügelten. Ich habe Anzeige erstattet, mit der Forderung, dass der Polizeibeamte zur Rechenschaft gezogen wird, aber ich glaube kaum, dass es dazu kommt. Gegen Demonstranten werden schnell Strafverfahren eingeleitet – nach drei Aktionen in diesem Jahr sind es schon fast 50 – Bußgeldverfahren zehn Mal mehr. Bei den Sicherheitskräften sieht das anders aus.
Wie man in dieser Situation nicht verzweifeln soll, weiß ich nicht
Ich war im Gerichtssaal dabei, als Nawalnys Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt wurde. Dieses Urteil hat viele erstaunt, ihnen das Gefühl von Hilf- und Schutzlosigkeit gegeben. Für mich war das diesbezüglich nichts Neues. Auf die Proteste in Russland folgen immer Gerichtsprozesse – wenn man an politischen Prozessen teilnimmt, gewöhnt man sich an die Absurdität und die Voreingenommenheit. Und auch an den Gedanken, dass auf dem Platz des Angeklagten jeder sitzen könnte, inklusive du selbst. Wie man in dieser Situation nicht verzweifeln soll, weiß ich nicht. Manchmal gelingt es mir, manchmal nicht besonders. Was hilft, sind Freunde und Familie, mein Kater, Humor, gute Bücher, Zeichentrickfilme, Schwimmen und alles, was Gelegenheit gibt, wenigstens für eine Stunde in einem Umfeld zu sein, wo sich niemand für die Nachrichten interessiert.
Mascha Borsunowa
Doshd
„Entweder muss man aufgeben oder weitermachen, trotz Angst“
Ich bin schon fast seit sieben Jahren bei Doshd. Zuerst als Gerichtsreporterin, da habe ich mehrere Jahre von prominenten Prozessen berichtet: gegen BORN (Kampforganisation russischer Nationalisten – Anm. d. R.), von den Bolotnaja-Prozessen, Kirowles-2, Sawtschenko, Senzow. Ich habe Reportagen gedreht, wie von der Polizei Drogen untergeschoben und Fälle fingiert werden. Jetzt mache ich gemeinsam mit Kollegen das Wochenmagazin Fake News über die Lügen und die Propaganda der Staatsmedien, das mache ich schon seit zweieinhalb Jahren. Und seit letztem Jahr kamen verstärkt Sondersendungen hinzu. Erst zu Corona, dann war ich zweieinhalb Wochen in Chabarowsk, danach bin ich nach Belarus gefahren und bin acht Wochen dort geblieben. Und jetzt die Proteste in Russland.
Als Alexej Nawalny nach Moskau zurückgeflogen ist, hatte ich frei: Eine gute Freundin hatte mir zum Geburtstag eine Reise nach Sotschi geschenkt, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Das hat nicht wirklich funktioniert: Am Sonntag, den 17. Januar, habe ich den ganzen Tag die Live-Übertragung [der russischen Proteste – dek] auf Doshd verfolgt. Am 23. war ich wieder in Moskau, am 31. in Petersburg. Am überraschendsten war für mich, dass die Menschen so lange ausgeharrt haben, trotz der brutalen Festnahmen. Zwei Szenen haben sich mir besonders eingebrannt. Erstens: Als die Silowiki vor dem Gebäude der Gesetzgebenden Versammlung [an der Isaakskathedrale – dek] in Sankt Petersburg anfingen, die Knüppel gegen ihre Schutzschilder zu schlagen, um den Protestierenden Angst einzujagen und die Kolonne zu verdrängen, aber die Menschen nur zugeschaut und applaudiert haben, ohne jede Angst. Und zweitens: das nicht enden wollende Meer von Menschen auf der Gorochowaja Straße.
Einer der schwierigsten und längsten Tage der letzten Zeit war der 2. Februar – der Tag, an dem Nawalnys Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt wurde. Ich habe fünfzehn Stunden lang gearbeitet, erst am Gerichtsgebäude und dann bis in die Nacht bei den Aktionen im Moskauer Zentrum. Ich glaube, ich habe noch nie ein solches Aufgebot an Sicherheitskräften in Moskau gesehen. In der Dmitrowski Gasse sahen wir eine relativ kleine Kolonne von Demonstranten, die von der Petrowka Straße kamen, eine Kolonne von Sicherheitskräften bewegte sich ihnen entgegen. Die Demonstranten drückten sich gegen eine Wand, streckten die Hände nach oben und riefen: „Wir sind unbewaffnet!“ Daraufhin fingen die Silowiki an, mit ihren Knüppeln auf sie einzuprügeln. Danach führten sie die Demonstrierenden einen nach dem anderen in die Gefangenentransporter. So haben sie drei oder vier Wagen rappelvoll gemacht.
Während der Arbeit ist man nicht so emotional, man hat keine Zeit das Gesehene zu verarbeiten, aber später holt es dich ein wie eine Welle
Man vergleicht gerade gerne das Vorgehen der russischen Silowiki mit dem der belarussischen. Vor dem 2. Februar war ich der Meinung, dass die jüngsten Festnahmen nicht mit dem Grad der Gewalt in Belarus zu vergleichen sind, aber diese Szene auf der Dmitrowski Gasse hat etwas getriggert: Sie hat mich an das erinnert, was ich in Minsk gesehen habe. Ich muss sagen, es fällt mir immer noch schwer, mir diese Episode aus unserer Live-Sendung anzusehen. Während der Arbeit ist man nicht so emotional, man hat keine Zeit das Gesehene zu verarbeiten, aber später holt es dich ein wie eine Welle. So war es hier.
Vor den Protesten in Belarus habe ich noch nie eine solche Solidarität, eine solche Einigkeit erlebt. Und leider auch nicht ein solches Ausmaß von Gewalt. Zehntausende sind in den ersten Tagen nach der Wahl auf die Straße gegangen, entgegen ihrer Angst und der Grausamkeit. An einem Tag siehst du, wie die Silowiki die Fensterfront eines Cafés einschlagen, weil sich die Demonstranten dort drin vor den Knüppeln versteckt halten. Das ist furchtbar. Und am nächsten Tag stehen Hunderte von Menschen stundenlang im Regen vor diesem Café, um die Besitzer zu unterstützen, die Schaden erlitten haben, weil sie helfen wollen. Diese Solidarität als Antwort auf die Gewalt ist unglaublich. So etwas habe ich noch nie gesehen.
Festgenommen wurde ich noch nie. Vielleicht, weil ich das Klischee kleines Mädchen mit Mikrofon erfülle
Ich wurde während der Arbeit noch nie ernsthaft verletzt, und daran, dass sie dich mit Hilfe von Knüppeln wegdrängen oder gegen das Handy schlagen, habe ich mich gewöhnt. Wenn die Silowiki, wie sie selbst sagen, „arbeiten“, ist es ihnen mittlerweile egal, wer da vor ihnen steht: Journalisten oder Demonstrierende. Aber festgenommen wurde ich noch nie. Vielleicht, weil ich das Klischee kleines Mädchen mit Mikrofon erfülle. Vielleicht habe ich auch einfach nur Glück gehabt: Viele meiner Kollegen waren schon im Awtosak, davor ist niemand sicher. Ich weiß noch, wie mein Kollege Wladimir Romenski während der Proteste gegen den Ausschluss unabhängiger Kandidaten von den Wahlen zur Moskauer Stadtduma 2019 über einen der Kollegen witzelte: „Professionelle Journalisten werden nicht festgenommen“. Bei der nächsten Aktion wurde Romenski selbst festgenommen, trotz Mikrofon, Presseausweis und redaktionellem Auftrag. Seitdem machen wir solche Witze nicht mehr.
Jetzt hat sich die Situation natürlich verändert. Journalisten bekommen zu Hause Besuch von Polizeibeamten aus dem Bezirk, die sie über die Risiken aufklären, an Protestaktionen teilzunehmen. Dabei nehmen die Journalisten ja nicht teil, sondern sie berichten darüber. Früher hat man Journalisten bei Protesten festgehalten und nach Überprüfung der Papiere im Awtosak wieder gehen lassen, jetzt bringt man sie meistens aufs Revier und hält sie dort stundenlang fest. Das ist eine sehr schlechte Tendenz. Ich habe das in Belarus beobachtet – verzeihen Sie, wenn ich wieder diesen Vergleich ziehe. Da wurden am Anfang auch nur „die Papiere überprüft“, aber jetzt sind ein paar Tage Haft an der Tagesordnung. Ich fürchte, wir bewegen uns in dieselbe Richtung. Nehmen wir allein die Verhaftung von Sergej Smirnow, dem Chefredakteur von Mediazona: Was ihm zur Last gelegt wird, ist so absurd, dass das ganz offensichtlich nur ein Vorwand ist und der Grund ein ganz anderer.
Aber es ist meine Arbeit, ich könnte gar nicht anders. Entweder muss man den Journalismus ganz aufgeben oder weitermachen, trotz Angst.
Xenia Shiwago
Reporterin Mediazona
„Ein Polizist hat mich angebrüllt: ,Hau ab hier!’“
Ich bin seit 2014 bei Mediazona, von Anfang an. Damals war unser Team sehr klein. Heute sind wir viel mehr, es gibt eine richtig große Redaktion, etwas über dreißig Leute. Ich bin verantwortlich für den technischen Part: Development, Fundraising, Partner Relations. Soweit möglich und nötig – leider seltener, als ich gerne würde – bin ich bei Protestaktionen im Einsatz.
Als Nawalny nach Moskau zurückgekehrt ist, habe ich in Wnukowo gearbeitet, wo das Flugzeug, wie wir wissen, nie gelandet ist. Damals hat mich das Ausmaß der Maßnahmen überrascht, die von Polizei und Flughafenleitung ergriffen wurden: Sie haben buchstäblich die Arbeit einer ganzen Etage zum Stillstand gebracht. Ticketkontrolle am Eingang, Sperrung des grünen Ausgangs, der Rolltreppen und Treppen, nicht einmal zur Toilette kam man ohne Weiteres. Sehr überraschend war auch die Festnahme von Ruslan Schaweddinow und Ljubow Sobol im Flughafen-Café. Wozu? Was wollten sie damit erreichen? Was haben sie erreicht?
Am 23. Januar habe ich auf dem Puschkin Platz gearbeitet. Polizei und OMON fingen schon vor dem Beginn der Aktion an, Leute festzunehmen. Gegen ein Uhr Mittags liefen die Ordnungshüter in Gruppen über den fast menschenleeren Platz, auf dem außer ihnen fast ausschließlich Journalisten waren. Sie nahmen Menschen fest, die auf Bänken saßen oder irgendwo in der Ecke standen. Absolut zufällige Passanten, die ihnen unter die Augen kamen. Das alles geschah in völliger Stille: Niemand skandierte irgendwelche Losungen. Da bemerkte ich, dass drei Meter entfernt von der Stelle, wo Demonstranten verprügelt werden, Polizeimitarbeiterinnen medizinische Masken verteilten. Etwas weiter hatten sie wohl eine Feldküche aufgebaut, wo Tee verteilt wurde, doch so weit bin ich nicht vorgestoßen. Schon klar, wozu das gut ist: Das präsentieren sie uns in den Beiträgen der staatlichen Fernsehsender.
Sie nahmen Menschen fest, die auf Bänken saßen oder Ecken herumstanden – zufällige Passanten, die ihnen unter die Augen kamen
In letzter Zeit haben sich die Regeln der Berichterstattung bei Protestaktionen verändert. Vor dem 31. Januar habe ich nie eine Weste oder meinen Presseausweis um den Hals getragen. Ich bin nie bei einer Aktion festgehalten worden. Aber jetzt, wo die Polizei unterschiedslos alle einsackt, die ihnen unter die Finger kommen, macht es Sinn, eine Weste [mit der Aufschrift Presse – dek] zu tragen. Ich hatte bisher Glück: Ich wurde nie gezielt geschlagen, habe nur zufällig mal einen Knüppel abgekriegt. Doch an dem Tag hat mich ein Polizist sehr hart weggestoßen und angebrüllt, so was wie: „Hau ab hier“.
Am meisten mag ich an meiner Arbeit unser gemütliches Kollektiv. Wir haben keine riesigen Abteilungen, alle wissen, was in der Redaktion passiert. Was die Arbeit als Reporterin angeht, schätze ich daran vor allem die Möglichkeit, bedeutsame Ereignisse mit eigenen Augen zu sehen. Die Atmosphäre live mitzuerleben.
Aljona Dergatschjowa
Sonderkorrespondentin The Village
„Ich halte es für meine Pflicht zu berichten“
Für The Village arbeite ich jetzt seit etwas über zwei Jahren, es ist meine erste Stelle. Am Anfang war ich Nachrichtenredakteurin, jetzt – Korrespondentin.
Bei den Protesten war ich einfach dabei, habe beobachtet, mit den Menschen gesprochen und Fotos gemacht, habe meinen Kollegen die Situation beschrieben, ihnen die Bilder geschickt. Am 23. Januar war ich schon früh auf dem Puschkin Platz, ein paar Stunden vor Beginn der Aktion, aber die Festnahmen gingen schon los, die Leute wurden einfach vom Platz abgeführt.
Als sich Nawalnys Unterstützer versammelt hatten, brach der Internetempfang komplett weg. Die Demonstration war riesig, man kam kaum durch, und ich kämpfte mich dauernd durch die Menge, um irgendeine Szene zu filmen und dann fast einen Kilometer weit zu rennen, um ein bisschen Internet zu bekommen. So war es an der Ecke Strastnoi [Boulevard] und [Bolschaja] Dmitrowka: Ich filmte Rauchgranaten und Demonstrierende, die mit einem OMON-Helm Fußball spielten, und musste dann bis zum Petrowski Boulevard rennen, um das Ganze an die Redaktion zu schicken. Genau dort, am Petrowski Boulevard, ist auf einmal Panik ausgebrochen, und ich musste mit allen zusammen in eine Seitenstraße rennen und über Absperrungen springen. Auf dem Zwetnoi Boulevard streifte mich dann ein Schneeball [die Demonstrierenden hatten begonnen, die Sicherheitskräfte mit Schneebällen zu bewerfen – dek]. Irgendwann wurde klar, dass sie den Zwetnoi komplett einkesseln würden, also bin ich schnell in die Maly Sucharewski Gasse, habe mich auf eine Bank gesetzt, um etwas zu trinken – und in diesem Moment kommen plötzlich von überall Silowiki und greifen sich alle, die sie kriegen können. Da bekam ich richtig Angst. An diesem Tag bin ich 24 Kilometer gerannt.
Da bekam ich richtig Angst
Am 31. Januar habe ich das gleiche gemacht, aber ich musste noch mehr laufen: Das Zentrum und die Metro waren gesperrt, die Proteste waren verteilter. Der Fotograf Iwan Kleimjonow wurde mit einem Elektroschocker angegriffen. Von mir persönlich kann ich sagen, dass ich nach diesem Tag physisch völlig fertig war – ich bin 26 Kilometer gelaufen, in den zehn Stunden hatte ich keine Gelegenheit zu essen oder mich auch nur aufzuwärmen.
An dem Tag, als Nawalnys Bewährungsstrafe umgewandelt wurde, saß ich gerade an einem Text, der gar nichts mit den Protesten zu tun hatte, doch später habe ich es nicht ausgehalten und bin mit dem Taxi zum Maneshnaja Platz gefahren. Dann passierte etwas Komisches: Der Kreml war abgesperrt, und der Taxifahrer setzte mich an einem winzigen Platz an der Manege ab. Plötzlich war ich umzingelt von Polizisten und OMON-Leuten und mit einer Grobheit konfrontiert, die ich mir nicht erklären kann. Ein Beamter kam zu mir und fragte: „Was machen Sie hier?“ Ich antwortete, ich sei zum Arbeiten dort. Meine Frage, ob ich nun die ganze Nacht mit ihm auf diesem Platz verbringen soll, bejahte er. Da ging ich zu einem der OMON-Männer und fragte, was ich jetzt tun soll. Er lachte nur und riet mir, auf der Fahrbahn zu gehen. Dazu hatte ich absolut keine Lust, ich habe sowieso schon Angst vor Straßen – doch ich hatte keine Wahl, denn gerade in dem Moment kamen zwei Gefangenentransporter auf den Platz gefahren.
Aber wenn man wegen seiner Arbeit im Gefängnistransporter landet, was soll man dagegen tun?
Da lief ein junger Mann vorbei, der in derselben Situation war wie ich. Die Einsatzkräfte – es standen mindestens fünfzig um uns herum – zückten gleichzeitig ihre Knüppel. Ich filmte die Festnahmen und lief dann bis zur Metro-Station Tschistyje Prudy. Auf dem leeren Platz davor packte mich ein Kämpfer der Nationalgarde am Arm, obwohl ich einen Presseausweis und eine Weste anhatte. Ich bereitete mich schon darauf vor, in die Haftanstalt von Sacharowo gebracht zu werden, aber er sagte schließlich, ich solle verschwinden, und ließ mich laufen. An diesem Tag gingen die Silowiki besonders hart mit den Journalisten um. Ich habe keine Erklärung dafür. Das ist einfach falsch.
Ich habe keine Angst, über friedliche Proteste zu reden, über sie zu schreiben und zu zeigen, was dort passiert. Ich halte das in gewisser Hinsicht sogar für meine Pflicht, besonders nach der Verhaftung von Sergej Smirnow. Die Arbeit von Journalisten zu behindern, verstößt gegen das Gesetz. Aber wenn man wegen seiner Arbeit im Gefängnistransporter landet, was soll man da tun? Das ist ungerecht, aber diese Ungerechtigkeit beobachten wir gerade jeden Tag, und wir dürfen nicht schweigend zusehen.