Medien

„Wir dürfen nicht schweigend zusehen“

Polizeiknüppel, Festnahmen und „präventive Hausbesuche“: Journalistinnen und Journalisten, die von den Protesten Ende Januar berichteten, wurden in ihrer Arbeit massiv eingeschränkt, wie Reporter ohne Grenzen berichtet. Die Organisation zählte 55 Festnahmen allein am 23. Januar, eine Woche später gab es 104 Fälle, in denen Medienschaffende in ihrer Arbeit behindert wurden, außerdem 16 sogenannter „präventiver Hausbesuche“ bei JournalistInnen durch die Polizei. 
Viel Aufmerksamkeit bekam die Verhaftung von Mediazona-Chefredakteur Sergej Smirnow, nach den Protesten am 23. Januar. Wegen eines Retweets bekam er 25 Tage Haft, die schließlich auf 15 Tage reduziert wurden. 
Bei der Flashmob-Aktion am 14. Februar Liebe ist stärker als Angst wurde die Seite von Spektr durch die Medienaufsichtsbehörde blockiert, zahlreiche Medien wurden aufgefordert, Beiträge zu löschen, auch Meduza musste einen Artikel zur staatlichen Reaktion auf die Proteste von der Seite nehmen.

Auf Wonderzine berichten Journalistinnen unabhängiger russischer Medien davon, wie es für sie ist von Gerichtsverhandlungen und Protesten zu berichten, immer mal einen Polizeiknüppel abzubekommen, auch mit Festnahmen rechnen zu müssen – und warum sie diese Arbeit trotzdem tun. Hier erzählen vier Mitarbeiterinnen von Doshd, Mediazona, The Village und Meduza – Medien, aus denen auch dekoder immer wieder übersetzt.

Quelle Wonderzine

Kristina Safonowa
Sonderkorrespondentin Meduza

„Nur meine Hände zittern manchmal“

Bevor ich im Frühjahr 2019 bei Meduza anfing, habe ich hin und wieder von Protestaktionen berichtet. Aber die waren selten und relativ klein. Im Juni 2019 nahmen sie meinen Kollegen Iwan Golunow fest und schoben ihm Drogen unter. Dann gingen die Proteste zu seiner Unterstützung los, ich war bei allen dabei. Trotz des Grauens der Situation habe ich gemerkt, dass ich gerne Proteste beleuchte. Endgültig überzeugt war ich, als die Menschen ab Juli 2019 auf die Straßen gingen, um gegen den Ausschluss unabhängiger Kandidaten von den Wahlen zur Moskauer Stadtduma zu protestieren.

Es ist keine einfache, aber eine sehr interessante Arbeit: Du musst gleichzeitig die Ereignisse im Blick behalten, deinen Kollegen Bericht erstatten, filmen und dabei auch noch zusehen, dass du keine Knüppel abbekommst. Ich bereite mich auf jede Aktion vor wie auf eine Wanderung. Man darf nichts vergessen: Pass und Presseausweis (jetzt auch noch die Presseweste), Ladekabel und Powerbank fürs Handy, Wasser und Proviant (die Aktion kann den ganzen Tag dauern, und für Supermarkt- oder Café-Besuche gibt es meistens keine Gelegenheit). Und das Wichtigste: bequeme Schuhe und Kleidung. Irgendwann hatte ich sogar spezielle Demo-Outfits – für warmes, regnerisches und kaltes Wetter.

Als ich zum ersten Mal sah, wie die Silowiki auf friedliche Demonstranten einprügeln, bekam ich Angst und rannte weg. Aber dann ging ich sofort zurück und begann, alles zu filmen. Seitdem scheint die Angst weg zu sein, nur meine Hände zittern manchmal. In  dem Moment selbst abstrahiere ich vom Geschehen und konzentriere mich ganz auf meine Arbeit. Hilfreich ist auch, dass immer andere Journalisten in der Nähe sind, die bereit sind zu helfen. Das ist in solchen Momenten besonders wichtig.

In dem Moment schien alles möglich. Doch zwei Tage später begannen die Moskauer Prozesse

Am besten erinnere ich mich an die Protestaktion am 27. Juli 2019. Es waren sehr viele Demonstranten. Brutale Festnahmen leider auch. Aber trotz allem haben die Menschen – aller Altersstufen, gut gelaunt, friedlich – die ganze Stadt angefüllt. In dem Moment schien alles möglich. Doch zwei Tage später begannen die Moskauer Prozesse, die mit der Verurteilung von 22 Teilnehmern der Proteste im Sommer endeten.

Ich habe das Gefühl, dass bei den Protesten sehr unterschiedliche Mitarbeiter der Sicherheitskräfte unterwegs sind. Es gibt die, denen die Gewalt gegen wehrlose Menschen sichtlich kein Vergnügen bereitet. Und dann gibt es solche, von denen ich das nicht behaupten kann. Auch der Umgang mit den Journalisten ist unterschiedlich. Ich habe alles erlebt, von Gleichgültigkeit bis hin zu Verständnis für unsere Arbeit, Genervtheit, unangebrachte Komplimente. Bis vor Kurzem dachte ich, ich könnte nur aus Versehen etwas abbekommen. Aber bei der Aktion am 23. Januar hat mich ein Polizist gezielt zwei Mal mit voller Wucht mit seinem Knüppel geschlagen – ich habe in dem Moment gefilmt, wie andere Beamte einen jungen Mann in den Schnee warfen und auf ihn einprügelten. Ich habe Anzeige erstattet, mit der Forderung, dass der Polizeibeamte zur Rechenschaft gezogen wird, aber ich glaube kaum, dass es dazu kommt. Gegen Demonstranten werden schnell Strafverfahren eingeleitet – nach drei Aktionen in diesem Jahr sind es schon fast 50 – Bußgeldverfahren zehn Mal mehr. Bei den Sicherheitskräften sieht das anders aus.

Wie man in dieser Situation nicht verzweifeln soll, weiß ich nicht

Ich war im Gerichtssaal dabei, als Nawalnys Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt wurde. Dieses Urteil hat viele erstaunt, ihnen das Gefühl von Hilf- und Schutzlosigkeit gegeben. Für mich war das diesbezüglich nichts Neues. Auf die Proteste in Russland folgen immer Gerichtsprozesse – wenn man an politischen Prozessen teilnimmt, gewöhnt man sich an die Absurdität und die Voreingenommenheit. Und auch an den Gedanken, dass auf dem Platz des Angeklagten jeder sitzen könnte, inklusive du selbst. Wie man in dieser Situation nicht verzweifeln soll, weiß ich nicht. Manchmal gelingt es mir, manchmal nicht besonders. Was hilft, sind Freunde und Familie, mein Kater, Humor, gute Bücher, Zeichentrickfilme, Schwimmen und alles, was Gelegenheit gibt, wenigstens für eine Stunde in einem Umfeld zu sein, wo sich niemand für die Nachrichten interessiert.       


Mascha Borsunowa
Doshd

„Entweder muss man aufgeben oder weitermachen, trotz Angst“

Ich bin schon fast seit sieben Jahren bei Doshd. Zuerst als Gerichtsreporterin, da habe ich mehrere Jahre von prominenten Prozessen berichtet: gegen BORN (Kampforganisation russischer Nationalisten – Anm. d. R.), von den Bolotnaja-Prozessen, Kirowles-2, Sawtschenko, Senzow. Ich habe Reportagen gedreht, wie von der Polizei Drogen untergeschoben und Fälle fingiert werden. Jetzt mache ich gemeinsam mit Kollegen das Wochenmagazin Fake News über die Lügen und die Propaganda der Staatsmedien, das mache ich schon seit zweieinhalb Jahren. Und seit letztem Jahr kamen verstärkt Sondersendungen hinzu. Erst zu Corona, dann war ich zweieinhalb Wochen in Chabarowsk, danach bin ich nach Belarus gefahren und bin acht Wochen dort geblieben. Und jetzt die Proteste in Russland.

Als Alexej Nawalny nach Moskau zurückgeflogen ist, hatte ich frei: Eine gute Freundin hatte mir zum Geburtstag eine Reise nach Sotschi geschenkt, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Das hat nicht wirklich funktioniert: Am Sonntag, den 17. Januar, habe ich den ganzen Tag die Live-Übertragung [der russischen Proteste – dek] auf Doshd verfolgt. Am 23. war ich wieder in Moskau, am 31. in Petersburg. Am überraschendsten war für mich, dass die Menschen so lange ausgeharrt haben, trotz der brutalen Festnahmen. Zwei Szenen haben sich mir besonders eingebrannt. Erstens: Als die Silowiki vor dem Gebäude der Gesetzgebenden Versammlung [an der Isaakskathedrale – dek] in Sankt Petersburg anfingen, die Knüppel gegen ihre Schutzschilder zu schlagen, um den Protestierenden Angst einzujagen und die Kolonne zu verdrängen, aber die Menschen nur zugeschaut und applaudiert haben, ohne jede Angst. Und zweitens: das nicht enden wollende Meer von Menschen auf der Gorochowaja Straße.

Einer der schwierigsten und längsten Tage der letzten Zeit war der 2. Februar – der Tag, an dem Nawalnys Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt wurde. Ich habe fünfzehn Stunden lang gearbeitet, erst am Gerichtsgebäude und dann bis in die Nacht bei den Aktionen im Moskauer Zentrum. Ich glaube, ich habe noch nie ein solches Aufgebot an Sicherheitskräften in Moskau gesehen. In der Dmitrowski Gasse sahen wir eine relativ kleine Kolonne von Demonstranten, die von der Petrowka Straße kamen, eine Kolonne von Sicherheitskräften bewegte sich ihnen entgegen. Die Demonstranten drückten sich gegen eine Wand, streckten die Hände nach oben und riefen: „Wir sind unbewaffnet!“ Daraufhin fingen die Silowiki an, mit ihren Knüppeln auf sie einzuprügeln. Danach führten sie die Demonstrierenden einen nach dem anderen in die Gefangenentransporter. So haben sie drei oder vier Wagen rappelvoll gemacht.

Während der Arbeit ist man nicht so emotional, man hat keine Zeit das Gesehene zu verarbeiten, aber später holt es dich ein wie eine Welle

Man vergleicht gerade gerne das Vorgehen der russischen Silowiki mit dem der belarussischen. Vor dem 2. Februar war ich der Meinung, dass die jüngsten Festnahmen nicht mit dem Grad der Gewalt in Belarus zu vergleichen sind, aber diese Szene auf der Dmitrowski Gasse hat etwas getriggert: Sie hat mich an das erinnert, was ich in Minsk gesehen habe. Ich muss sagen, es fällt mir immer noch schwer, mir diese Episode aus unserer Live-Sendung anzusehen. Während der Arbeit ist man nicht so emotional, man hat keine Zeit das Gesehene zu verarbeiten, aber später holt es dich ein wie eine Welle. So war es hier.

Vor den Protesten in Belarus habe ich noch nie eine solche Solidarität, eine solche Einigkeit erlebt. Und leider auch nicht ein solches Ausmaß von Gewalt. Zehntausende sind in den ersten Tagen nach der Wahl auf die Straße gegangen, entgegen ihrer Angst und der Grausamkeit. An einem Tag siehst du, wie die Silowiki die Fensterfront eines Cafés einschlagen, weil sich die Demonstranten dort drin vor den Knüppeln versteckt halten. Das ist furchtbar. Und am nächsten Tag stehen Hunderte von Menschen stundenlang im Regen vor diesem Café, um die Besitzer zu unterstützen, die Schaden erlitten haben, weil sie helfen wollen. Diese Solidarität als Antwort auf die Gewalt ist unglaublich. So etwas habe ich noch nie gesehen.

Festgenommen wurde ich noch nie. Vielleicht, weil ich das Klischee kleines Mädchen mit Mikrofon erfülle

Ich wurde während der Arbeit noch nie ernsthaft verletzt, und daran, dass sie dich mit Hilfe von Knüppeln wegdrängen oder gegen das Handy schlagen, habe ich mich gewöhnt. Wenn die Silowiki, wie sie selbst sagen, „arbeiten“, ist es ihnen mittlerweile egal, wer da vor ihnen steht: Journalisten oder Demonstrierende. Aber festgenommen wurde ich noch nie. Vielleicht, weil ich das Klischee kleines Mädchen mit Mikrofon erfülle. Vielleicht habe ich auch einfach nur Glück gehabt: Viele meiner Kollegen waren schon im Awtosak, davor ist niemand sicher. Ich weiß noch, wie mein Kollege Wladimir Romenski während der Proteste gegen den Ausschluss unabhängiger Kandidaten von den Wahlen zur Moskauer Stadtduma 2019 über einen der Kollegen witzelte: „Professionelle Journalisten werden nicht festgenommen“. Bei der nächsten Aktion wurde Romenski selbst festgenommen, trotz Mikrofon, Presseausweis und redaktionellem Auftrag. Seitdem machen wir solche Witze nicht mehr.

Jetzt hat sich die Situation natürlich verändert. Journalisten bekommen zu Hause Besuch von Polizeibeamten aus dem Bezirk, die sie über die Risiken aufklären, an Protestaktionen teilzunehmen. Dabei nehmen die Journalisten ja nicht teil, sondern sie berichten darüber. Früher hat man Journalisten bei Protesten festgehalten und nach Überprüfung der Papiere im Awtosak wieder gehen lassen, jetzt bringt man sie meistens aufs Revier und hält sie dort stundenlang fest. Das ist eine sehr schlechte Tendenz. Ich habe das in Belarus beobachtet – verzeihen Sie, wenn ich wieder diesen Vergleich ziehe. Da wurden am Anfang auch nur „die Papiere überprüft“, aber jetzt sind ein paar Tage Haft an der Tagesordnung. Ich fürchte, wir bewegen uns in dieselbe Richtung. Nehmen wir allein die Verhaftung von Sergej Smirnow, dem Chefredakteur von Mediazona: Was ihm zur Last gelegt wird, ist so absurd, dass das ganz offensichtlich nur ein Vorwand ist und der Grund ein ganz anderer.

Aber es ist meine Arbeit, ich könnte gar nicht anders. Entweder muss man den Journalismus ganz aufgeben oder weitermachen, trotz Angst.


Xenia Shiwago
Reporterin Mediazona

„Ein Polizist hat mich angebrüllt: ,Hau ab hier!’“

Ich bin seit 2014 bei Mediazona, von Anfang an. Damals war unser Team sehr klein. Heute sind wir viel mehr, es gibt eine richtig große Redaktion, etwas über dreißig Leute. Ich bin verantwortlich für den technischen Part: Development, Fundraising, Partner Relations. Soweit möglich und nötig – leider seltener, als ich gerne würde – bin ich bei Protestaktionen im Einsatz.

Als Nawalny nach Moskau zurückgekehrt ist, habe ich in Wnukowo gearbeitet, wo das Flugzeug, wie wir wissen, nie gelandet ist. Damals hat mich das Ausmaß der Maßnahmen überrascht, die von Polizei und Flughafenleitung ergriffen wurden: Sie haben buchstäblich die Arbeit einer ganzen Etage zum Stillstand gebracht. Ticketkontrolle am Eingang, Sperrung des grünen Ausgangs, der Rolltreppen und Treppen, nicht einmal zur Toilette kam man ohne Weiteres. Sehr überraschend war auch die Festnahme von Ruslan Schaweddinow und Ljubow Sobol im Flughafen-Café. Wozu? Was wollten sie damit erreichen? Was haben sie erreicht?

Am 23. Januar habe ich auf dem Puschkin Platz gearbeitet. Polizei und OMON fingen schon vor dem Beginn der Aktion an, Leute festzunehmen. Gegen ein Uhr Mittags liefen die Ordnungshüter in Gruppen über den fast menschenleeren Platz, auf dem außer ihnen fast ausschließlich Journalisten waren. Sie nahmen Menschen fest, die auf Bänken saßen oder irgendwo in der Ecke standen. Absolut zufällige Passanten, die ihnen unter die Augen kamen. Das alles geschah in völliger Stille: Niemand skandierte irgendwelche Losungen. Da bemerkte ich, dass drei Meter entfernt von der Stelle, wo Demonstranten verprügelt werden, Polizeimitarbeiterinnen medizinische Masken verteilten. Etwas weiter hatten sie wohl eine Feldküche aufgebaut, wo Tee verteilt wurde, doch so weit bin ich nicht vorgestoßen. Schon klar, wozu das gut ist: Das präsentieren sie uns in den Beiträgen der staatlichen Fernsehsender.

Sie nahmen Menschen fest, die auf Bänken saßen oder Ecken herumstanden – zufällige Passanten, die ihnen unter die Augen kamen

In letzter Zeit haben sich die Regeln der Berichterstattung bei Protestaktionen verändert. Vor dem 31. Januar habe ich nie eine Weste oder meinen Presseausweis um den Hals getragen. Ich bin nie bei einer Aktion festgehalten worden. Aber jetzt, wo die Polizei unterschiedslos alle einsackt, die ihnen unter die Finger kommen, macht es Sinn, eine Weste [mit der Aufschrift Presse dek] zu tragen. Ich hatte bisher Glück: Ich wurde nie gezielt geschlagen, habe nur zufällig mal einen Knüppel abgekriegt. Doch an dem Tag hat mich ein Polizist sehr hart weggestoßen und angebrüllt, so was wie: „Hau ab hier“.

Am meisten mag ich an meiner Arbeit unser gemütliches Kollektiv. Wir haben keine riesigen Abteilungen, alle wissen, was in der Redaktion passiert. Was die Arbeit als Reporterin angeht, schätze ich daran vor allem die Möglichkeit, bedeutsame Ereignisse mit eigenen Augen zu sehen. Die Atmosphäre live mitzuerleben.

Aljona Dergatschjowa
Sonderkorrespondentin The Village

„Ich halte es für meine Pflicht zu berichten“

Für The Village arbeite ich jetzt seit etwas über zwei Jahren, es ist meine erste Stelle. Am Anfang war ich Nachrichtenredakteurin, jetzt – Korrespondentin.

Bei den Protesten war ich einfach dabei, habe beobachtet, mit den Menschen gesprochen und Fotos gemacht, habe meinen Kollegen die Situation beschrieben, ihnen die Bilder geschickt. Am 23. Januar war ich schon früh auf dem Puschkin Platz, ein paar Stunden vor Beginn der Aktion, aber die Festnahmen gingen schon los, die Leute wurden einfach vom Platz abgeführt. 

Als sich Nawalnys Unterstützer versammelt hatten, brach der Internetempfang komplett weg. Die Demonstration war riesig, man kam kaum durch, und ich kämpfte mich dauernd durch die Menge, um irgendeine Szene zu filmen und dann fast einen Kilometer weit zu rennen, um ein bisschen Internet zu bekommen. So war es an der Ecke Strastnoi [Boulevard] und [Bolschaja] Dmitrowka: Ich filmte Rauchgranaten und Demonstrierende, die mit einem OMON-Helm Fußball spielten, und musste dann bis zum Petrowski Boulevard rennen, um das Ganze an die Redaktion zu schicken. Genau dort, am Petrowski Boulevard, ist auf einmal Panik ausgebrochen, und ich musste mit allen zusammen in eine Seitenstraße rennen und über Absperrungen springen. Auf dem Zwetnoi Boulevard streifte mich dann ein Schneeball [die Demonstrierenden hatten begonnen, die Sicherheitskräfte mit Schneebällen zu bewerfendek]. Irgendwann wurde klar, dass sie den Zwetnoi komplett einkesseln würden, also bin ich schnell in die Maly Sucharewski Gasse, habe mich auf eine Bank gesetzt, um etwas zu trinken – und in diesem Moment kommen plötzlich von überall Silowiki und greifen sich alle, die sie kriegen können. Da bekam ich richtig Angst. An diesem Tag bin ich 24 Kilometer gerannt.

Da bekam ich richtig Angst

Am 31. Januar habe ich das gleiche gemacht, aber ich musste noch mehr laufen: Das Zentrum und die Metro waren gesperrt, die Proteste waren verteilter. Der Fotograf Iwan Kleimjonow wurde mit einem Elektroschocker angegriffen. Von mir persönlich kann ich sagen, dass ich nach diesem Tag physisch völlig fertig war – ich bin 26 Kilometer gelaufen, in den zehn Stunden hatte ich keine Gelegenheit zu essen oder mich auch nur aufzuwärmen.

An dem Tag, als Nawalnys Bewährungsstrafe umgewandelt wurde, saß ich gerade an einem Text, der gar nichts mit den Protesten zu tun hatte, doch später habe ich es nicht ausgehalten und bin mit dem Taxi zum Maneshnaja Platz gefahren. Dann passierte etwas Komisches: Der Kreml war abgesperrt, und der Taxifahrer setzte mich an einem winzigen Platz an der Manege ab. Plötzlich war ich umzingelt von Polizisten und OMON-Leuten und mit einer Grobheit konfrontiert, die ich mir nicht erklären kann. Ein Beamter kam zu mir und fragte: „Was machen Sie hier?“ Ich antwortete, ich sei zum Arbeiten dort. Meine Frage, ob ich nun die ganze Nacht mit ihm auf diesem Platz  verbringen soll, bejahte er. Da ging ich zu einem der OMON-Männer und fragte, was ich jetzt tun soll. Er lachte nur und riet mir, auf der Fahrbahn zu gehen. Dazu hatte ich absolut keine Lust, ich habe sowieso schon Angst vor Straßen – doch ich hatte keine Wahl, denn gerade in dem Moment kamen zwei Gefangenentransporter auf den Platz gefahren.

Aber wenn man wegen seiner Arbeit im Gefängnistransporter landet, was soll man dagegen tun? 

Da lief ein junger Mann vorbei, der in derselben Situation war wie ich. Die Einsatzkräfte – es standen mindestens fünfzig um uns herum – zückten gleichzeitig ihre Knüppel. Ich filmte die Festnahmen und lief dann bis zur Metro-Station Tschistyje Prudy. Auf dem leeren Platz davor packte mich ein Kämpfer der Nationalgarde am Arm, obwohl ich einen Presseausweis und eine Weste anhatte. Ich bereitete mich schon darauf vor, in die Haftanstalt von Sacharowo gebracht zu werden, aber er sagte schließlich, ich solle verschwinden, und ließ mich laufen. An diesem Tag gingen die Silowiki besonders hart mit den Journalisten um. Ich habe keine Erklärung dafür. Das ist einfach falsch.

Ich habe keine Angst, über friedliche Proteste zu reden, über sie zu schreiben und zu zeigen, was dort passiert. Ich halte das in gewisser Hinsicht sogar für meine Pflicht, besonders nach der Verhaftung von Sergej Smirnow. Die Arbeit von Journalisten zu behindern, verstößt gegen das Gesetz. Aber wenn man wegen seiner Arbeit im Gefängnistransporter landet, was soll man da tun? Das ist ungerecht, aber diese Ungerechtigkeit beobachten wir gerade jeden Tag, und wir dürfen nicht schweigend zusehen.

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Alexej Nawalny

„Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6 Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

Korruption als die Wurzel allen Übels?

Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

Nawalny gleich Putin minus Korruption?

Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

Gefahr für den Kreml?

Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

Aktualisiert am 16.02.2024


1.youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↑​
2.shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! 
3.Fond borby s korrupciej 
4.RBK: Navalnyj podal isk k Putinu 
5.Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch 
6.Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach 
7.vgl. 2018.navalny.com 
8.snob.ru: Navalnyj i nacionalizm 
9.youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija 
10.Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija 
11.RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» 
12.Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. 
13.Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj 
14.Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. 
15.Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin 
 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)