Nach einer Präsidentschaftswahl mit handverlesenen Gegenkandidaten hat die russische Wahlkommission dem 71-jährigen Wladimir Putin am Sonntagabend ein Ergebnis von mehr als 87 Prozent zugeschrieben. Die unabhängige Wahlbeobachtungs-Organisation Golos hat diesmal nicht nur Manipulationen bisher nie dagewesenen Ausmaßes festgestellt, sondern auch unmittelbaren Zwang von Polizei und Geheimdiensten gegen Wählerinnen und Wähler. Wozu der ganze Aufwand, wenn eh niemand dem Kreml glaubt? Die Redaktion von Republic hat mit Maxim Trudoljubow vom Kennan Institute darüber gesprochen, was Putin mit der Wahl bezweckt und welche Aussichten eine demokratische Opposition in Russland noch hat.
Eine große Leuchtreklametafel in Moskau verkündet am Sonntagabend ein Rekordergebnis für Wladimir Putin in einem Rennen ohne echte Konkurrenz / Foto © Imago, Alexander Zemlianichenko
Jewgeni Senschin/Republic: Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Lage in Russland?
Maxim Trudoljubow: Putin hat keinen langen Krieg geplant, doch im Endeffekt ist der lange Krieg zum Kernstück geworden, nach dem er sein ganzes Regime ausrichtet und um das herum er die Gesellschaft konsolidiert, so sieht er es.
Meiner Ansicht nach sollte die Abstimmung dazu führen, den Krieg von maximal vielen Menschen absegnen zu lassen und im Nachhinein die Unterschrift von Millionen Bürgern Russlands für Entscheidungen zu bekommen, die er vor langer Zeit im Alleingang getroffen hat.
Natürlich sind sich Putin und seine Kumpane der Kontroverse bewusst: Ist es Putins Krieg oder der Krieg von ganz Russland? Und sie wissen auch, dass er im Westen von Anfang an als Putins Krieg galt. Doch Putin möchte das korrigieren, damit alle die Verantwortung dafür tragen. Einige Tage vor dem Einmarsch hatte er den Sicherheitsrat um sich versammelt, am ersten Kriegstag hat er führende Geschäftsleute zusammengerufen, dann traf er sich noch mit anderen Gruppen vor laufender Kamera. Und so sammelte er Zustimmung für den Krieg. Und jetzt möchte er die Zustimmung des Großteils der Bevölkerung. Also ist die Abstimmung eine Abstimmung für den Krieg, damit Putin sagen kann: „Das ist nicht nur mein Krieg, das ist der Krieg von ganz Russland.“ Er will alle ins Boot holen.
Für den Westen ist das ein schlechtes Signal. Sie schauen auf die Ergebnisse dieser „Wahlen“: 80 Prozent für Putin, also 80 Prozent für den Krieg. Also haben wir alles richtig gemacht, als wir mit unseren Sanktionen nicht nur das Putinsche Establishment beschränkt haben, sondern alle Bürger Russlands. Bei weitem nicht alle wollen tiefer in die Materie des russischen Lebens eindringen und verstehen, was diese Ergebnisse wirklich bedeuten.
Wie schätzen sie die Chancen der Opposition nach dem Tod Nawalnys ein? Es gibt da sehr konträre Meinungen. Durch den Tod werde die Opposition böser, radikaler, entschlossener und so weiter. Die Rockgruppe Nogu svelo hat sogar schon ein Lied darüber geschrieben. Aber es gibt auch die entgegengesetzte Meinung: Der Tod hat die Opposition in eine Depression stürzen lassen, hat gezeigt, dass ihre Chancen die Innenpolitik Russlands zu beeinflussen gen Null gehen.
Ich war tatsächlich viele Jahre sehr pessimistisch. Aber ich glaube, dass wir nun wirklich Optimismus brauchen. Derzeit meinen viele, dass das Spiel verloren ist und man das Land nicht ändern kann. Aber das ist nicht so. Kein Land ist dazu verdammt, auf immer mit dem gleichen Regime zu leben. Die Geschichte liefert eine Menge von Beispielen. Es gibt keine „Sklavenmentalität“, die Neigung einer ganzen Nation zu einem spezifischen System. Wir wissen, dass sich alles ändert.
Das ist definitiv auch in Russland möglich. Sobald sich die Umstände ändern, wird ein Tauwetter einsetzen, die Leute werden sich zusammenschließen und gemeinsam auf die Straße gehen. Aber wann kommen diese Umstände? Darauf gibt es leider keine gute Antwort. Dabei ist es völlig offensichtlich, dass es in der Gesellschaft keine massenhafte Unterstützung für den Krieg gibt, so wie es auch keine massenhafte Unterstützung für Putin gibt. Dafür gibt es haufenweise Indizien. Beispielsweise weigern sich Leute bei Umfragen zu antworten und sagen, dass sie keine Meinung zum Krieg hätten. Das heißt, dass sie vor etwas Angst haben, und nicht, dass sie das Handeln des Kreml gutheißen. Aber wenn sich die Umstände ändern, wird ihre Haltung zum Vorschein kommen.
Andererseits ist das bloße Warten und Hoffen auf eine Schwächung des Regimes unangenehm. Diejenigen, die Russlands Zukunft noch nicht begraben wollen, müssen an dieser Zukunft arbeiten und ein konkretes Bild von ihr erschaffen. Sie sollten sich außerdem der Bildung widmen, für sich und für ihre Kinder, die im Bewusstsein aufwachsen sollten, das das heutige Regime Russlands eine historische Anomalie ist. Die Leute, die die Macht an sich reißen konnten, sind nicht ewig, ihre Zeit ist begrenzt.
Aktuell findet ein unsichtbarer Kampf darum statt, was die nachfolgende Generation tun wird. Heute ist eine Generation an der Macht, die in den 50er Jahren geboren und in den 70er und 80er des vergangenen Jahrhunderts erzogen wurde. Sie wuchsen auf in einer Atmosphäre der Enttäuschung, des Unglaubens und Zerfalls der Ideale. Der Glaube an den Kommunismus war schon vorbei, aber ein anderer noch nicht entstanden. Es entstand ein Bewusstsein des historischen Scheiterns. So bildete sich diese Generation von Greisen, die sich um ihre Kränkungen sorgen und Revanche suchen. Natürlich gibt es in dieser Generation auch beispielsweise einen Oleg Orlow, einen der Gründer von Memorial, der, verurteilt für die „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“, aktuell eine Haftstrafe absitzt. Doch an der Macht ist genau der boshafte Teil dieser Generation.
Wichtig ist, dass es eine neue Generation gibt, die Generation Nawalnys, die Ende der 1980er und in den 1990er Jahren erwachsen wurde. Für sie ist die Zukunft kein leeres Wort. Und Putin hat den Anführer dieser neuen Generation umgebracht. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Ja, die Vertreterinnen und Vertreter dieser Generation befinden sich gerade in der Depression und im Schock. Aber ihnen bleibt trotzdem eine Vision von Zukunft und Hoffnungen, die mit dieser Zukunft verknüpft sind. Heute wird um die Herzen dieser Generation gekämpft und um die Herzen jener, die noch jünger sind. Es liegt heute an uns allen, diese Depression zu überwinden.