Überraschungen gab es bei diesen Wahlen keine: Drei Tage lang waren rund 45 Millionen Wahlberechtigte in mehr als 80 russischen Regionen an die Wahlurnen gerufen. Weit vorne bei diesen ersten Regionalwahlen seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, liegt die Regierungspartei Einiges Russland.
Doch wie verlief der Wahlkampf, wie verliefen die Wahlen selbst? Und können sie als eine Art Stimmungstest für oder gegen den Krieg gelesen werden? Jan Matti Dollbaum beantwortet diese und weitere Fragen in unserem Bystro.
1. Können diese Wahlen als eine Art Stimmungstest für oder gegen den Krieg gelesen werden?
Nein. Keine der größeren Parteien hat sich gegen den Krieg positioniert. Neben der dominanten Partei Einiges Russland haben sich sowohl die LDPR, als auch die KPRF und die (im letzten Jahr mit zwei Kleinstparteien fusionierte) Partei Gerechtes Russland eindeutig für die sogenannte „Spezialoperation“ ausgesprochen. Insofern gab es in Bezug auf die Position zum Krieg keine Auswahl – und daher taugten die Wahlen auch kaum zum Stimmungstest.
Darüber hinaus griffen bei den Wahlen die bekannten Mechanismen des russischen autoritären Regimes, mit denen einige Kandidaten von der Wahl ausgeschlossen wurden, Beobachter teils in ihrer Arbeit behindert und einige sogar festgenommen wurden. Außerdem lassen insbesondere die Ergebnisse des online erfolgten Teils der Wahlen große Zweifel an ihrer Korrektheit aufkommen. Auch wenn es also eine echte Auswahl zwischen einem pro- und einem Anti-Kriegslager gegeben hätte, dann hätte der Kreml dafür gesorgt, dass letzteres klar verliert.
2. Die Regionalwahlen waren die ersten Wahlen seit Beginn des Angriffskriegs. Wie hat der Krieg den Wahlkampf oder die Wahlbeteiligung beeinflusst?
Der Krieg hat die Wahlen insofern beeinflusst, als dass er den politischen Wettbewerb und den Diskurs noch einmal stärker eingeschränkt hat. Das begann schon im Jahr 2021 mit der außerordentlichen Repression gegen oppositionelle PolitikerInnen und AktivistInnen sowie gegen unabhängige Medien, die in der Rückschau plausibel als Kriegsvorbereitung erklärt werden kann. Aufgrund der repressiven Gesetzgebung, die die Berichterstattung zum Krieg stark einschränkt, konnte er zudem nicht auf eine Weise diskutiert werden, die eine unabhängige Meinungsbildung ermöglicht hätte.
In Regionen mit relativ hohem Potential für Protestwahl, wo die systemischen Oppositionsparteien bei der letzten Dumawahl im Herbst 2021 gut abgeschnitten und diesmal bei den Gouverneurswahlen theoretisch Chancen gehabt hätten – etwa in Marii El, Udmurtien und Jaroslawl – haben diese Parteien ihre stärksten Kandidaten nicht ins Rennen geschickt – oder sogar überhaupt niemanden aufgestellt.
All das hat dazu beigetragen, dass die Regionalwahlen im Schatten des Krieges zu einem noch unwichtiger erscheinenden Ereignis wurden, als sie es ohnehin sind.
3. Gab es bei dieser Wahl irgendeine Überraschung?
Bei den Gouverneurswahlen liegen ausnahmslos die vom Kreml unterstützten Kandidaten vorn und auch bei die regionalen und lokalen Wahlen gab es keine Überraschungen. Ella Pamfilowa, Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, hat die Wahlen als „ziemlich langweilig“ bezeichnet.
Aufmerksamkeit haben, wenn überhaupt, die Nachrichten über Fälschungen erregt. Neben den üblichen Verfahren – etwa wenn Wahlhelfer große Pakete vorausgefüllter Wahlzettel in die Urnen werfen – haben diese auch mit der im letzten Jahr eingeführten elektronischen Stimmabgabe zu tun. In Moskau liegt bei den Lokalwahlen die offizielle Wahlbeteiligung nach Auszählung der elektronisch abgegebenen Stimmen unrealistisch hoch bei über 30 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahr 2017, als es eine breite und sichtbare Oppositionskampagne gab, lag sie bei gut 14 Prozent. Sogar Sergej Mironow, der Vorsitzende der systemischen Oppositionspartei Gerechtes Russland, beklagte, dass er in seinem Wahllokal abgewiesen wurde, weil er laut Wahlhelfern schon elektronisch abgestimmt hatte. Die Vermutung liegt also nahe, dass die nicht kontrollierbare elektronische Wahl zu erheblichen Manipulationen genutzt wird.
4. Ist überhaupt noch irgendeine Art von Opposition im Land, die bei solchen Wahlen antreten kann?
Nach der Zerstörung von Alexej Nawalnys Organisationen im Jahr 2021 haben die Behörden auch im Vorfeld dieser Wahlen noch verbliebene kritische Stimmen zum Verstummen gebracht. Die wichtigsten sind der ehemalige Bürgermeister Jekaterinburgs Jewgeni Roisman und Nawalnys Mitstreiter und Oppositionspolitiker Ilja Jaschin. Die Festnahmen waren Reaktionen auf Äußerungen der beiden gegen den Krieg.
Funktionierende Oppositionsgruppen, die – wie im Herbst 2019 in Moskau – Protest gegen Wahlmanipulationen organisieren könnten, gibt es so gut wie nicht mehr, wenn man von den systemischen Oppositionsparteien absieht, die derzeit vollkommen loyal sind. Allein die marginale sozialliberale Partei Jabloko trat „Für Frieden“ an – als einzige Organisation, die sich nicht dem sogenannten „Donbass-Konsens“ unterordnet. Doch aufgrund der geltenden Gesetzeslage ist auch Jabloko sehr vorsichtig.
5. Gab es Strategien, die Wahlen kreativ zum Ausdruck von Protest zu nutzen?
Nawalny hatte aus dem Gefängnis zur Teilnahme an seinem Projekt Smart Voting aufgerufen, und auch sein Chefstratege Leonid Wolkow hat regelmäßig den Nutzen des taktischen Wählens beschworen. Beim Smart Voting gibt Nawalnys Team Empfehlungen an oppositionell gesinnte Wählerinnen und Wähler dazu, welchen Kandidaten sie ihre Stimme geben sollen – um die Chance zu erhöhen, gegen die Kandidaten der Partei Einiges Russland zu gewinnen. Diesmal hatte sich das Team entschieden, nur Kandidatinnen und Kandidaten zu empfehlen, die sich gegen den Krieg ausgesprochen hatten – eine Abweichung vom früheren Vorgehen, bei dem die ideologische Position für Empfehlungen zweitrangig war, was in der Vergangenheit regelmäßig Streit innerhalb der Opposition provoziert hatte.
Doch selbst in Nawalnys Team schien die Überzeugung nachzulassen, dass dieses Instrument in den aktuellen Umständen etwas bewirken kann. Wolkow erklärte in einem Interview, dass man lange abgewogen habe und sich nur aufgrund der Nachfrage aus den eigenen Reihen dazu entschlossen habe, Smart Voting auch diesmal – und nur in Moskau – zu organisieren. Auch wenn heute, am 12. September, das offizielle Endergebnis noch aussteht, ist nicht damit zu rechnen, dass Smart Voting Erfolge zu vermelden hat.
6. Warum gibt es denn überhaupt noch Wahlen, wenn das Regime sich doch offenbar auf Repressionen stützt und daher eigentlich keiner Legitimität bedarf?
Wahlen einfach abzuschaffen, läge sicher in der Macht des Kreml, käme aber einem Signal der Kapitulation gleich. Denn auch höchst repressive autoritäre Regime überleben nicht allein durch Repression. Zur Generierung von Legitimität können wirtschaftliche Erfolge, militärische Siege und eben auch gewonnene Wahlen dienen. In Russland sind die ersten beiden derzeit rar, also bleiben nur Wahlerfolge, insbesondere die von Gouverneuren. Es ist den Entscheidern im Kreml allerdings wohl klar, dass wenige tatsächlich von diesen Wahlerfolgen überzeugt sein werden. Doch auch wenn die meisten Menschen von Manipulationen ausgehen, zeigen diese Wahlen doch, dass es keine Organisationen gibt, die etwas dagegen setzen können. Die Wahlen dienen also aktuell weniger dazu, Legitimität zu erzeugen, als die Dominanz des Kreml zu illustrieren und seine Fähigkeit, die gewünschten Ergebnisse zu produzieren. Sie können und sollen in erster Linie entmutigen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Jan Matti Dollbaum
Veröffentlicht am: 12. September 2022