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QR-Codes zur Kontrolle der Wahlbeteiligung

Die Stimmlokale sind geöffnet, rund 110 Millionen russische Bürger sind aufgerufen, bis einschließlich ersten Juli ihr Votum über die Verfassungsänderung abzugeben. Vorgelegt wird ihnen ein „Paket“ von Verfassungsänderungen: vom Gottesbezug über Tierrechte bis hin zur Nullsetzung der Amtszeiten von bisherigen Staatspräsidenten.

Wegen der Pandemie musste die Abstimmung um mehr als zwei Monate verschoben werden. Da die wirtschaftlichen Probleme in dieser Zeit genauso gewachsen sind wie die Unzufriedenheit mit dem Seuchenmanagement, haben einige Beobachter schon gemutmaßt, dass der Kreml die Volksabstimmung ganz aufgeben würde – spiele sie doch eh nur eine symbolische Rolle, weil die Verfassungsänderung gesetzlich schon dingfest sei.

Tatsächlich haben sich die Wahlberechtigten laut Meinungsumfragen zunächst kaum für die Abstimmung interessiert. Bis die Idee mit der Nullsetzung aufgeworfen wurde: Diese Frage spaltete laut Meinungsforschern von Lewada die russische Gesellschaft in nahezu gleiche Hälften. Die Gegner, so fanden die Soziologen heraus, zeigen sich aber weniger bereit, an der Volksabstimmung teilzunehmen. Das hat zur Folge, dass der Kreml durchaus das gemunkelte Wunschergebnis von mindestens 60 Prozent bekommen kann. Die gewünschte Wahlbeteiligung von 55 Prozent bleibt dabei aber fraglich.

Für die Abstimmung gelten verschiedene Besonderheiten, um selbst unter Corona-Bedingungen eine hohe Wahlbeteiligung zu erzielen – schließlich geht es für den Kreml auch um symbolische Legitimität. Abstimmen können russische Bürger daher eine ganze Woche lang auch außerhalb des Wahllokals mit einer „mobilen“ Wahlurne oder – wie in Moskau und der Oblast Nishni Nowgorod – auch erstmals online.

Zum Arsenal der Instrumente zur Wählermobilisierung gehört traditionell auch die Nutzung von Druckmitteln gegenüber Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen. Wie Meduza rausfand, kommen dabei neuerdings IT-Innovationen zum Einsatz.

Quelle Meduza

Bei der Abstimmung über die Verfassungsänderungen ermöglicht ein elektronisches System die Kontrolle der Wahlbeteiligung von Mitarbeitern großer Firmen. Auf der Seite votely.ru können Chefs Listen ihrer Mitarbeiter hochladen und jedem einen eigenen QR-Code zuweisen. Während der „Volksabstimmung“ scannen Freiwillige in den Stimmlokalen die QR-Codes – unter dem Vorwand von Gewinnspielen und Verlosungen – um so Daten zur Wahlbeteiligung zu gewinnen.

Meduza hat Zugriff auf eine Demoversion des Systems erhalten und die auf dem Portal veröffentlichten Anleitungen ausgewertet. „Die Zählung der im Wahllokal erschienenen [Mitarbeiter] erfolgt durch personengebundene QR- oder Strichcodes, die mittels einer speziellen App für Android oder iPhone ausgelesen werden“, heißt es in einer Präsentation auf votely.ru.

Gewinnspiele und Lotterien

Eines der Dokumente besagt, dass das Scannen der individuellen QR-Codes im Wahllokal als „Projekte zusätzlicher Abstimmungsformen“ durchgeführt wird. Dazu zählen laut Anleitung: „Quizspiele, [Abstimmungen über] die Verleihung des Status ,Stadt werktätigen Heldenmuts‘, über Projekte zur Steigerung der städtebaulichen Lebensqualität und andere regionale oder kommunale Befragungen über für die Bevölkerung relevante Themen.“ 

In einigen Regionen Russlands wurden bereits verschiedene Gewinnspiele, Wettbewerbe und Lotterien für die Wähler angekündigt. In Barnaul, Nishni Nowgorod, Ishewsk und einer Reihe weiterer Städte findet während der Verfassungsabstimmung auch ein Votum statt, bei dem Menschen über die Verleihung des Status „Stadt werktätigen Heldenmuts“ entscheiden sollen. Die Zentrale Wahlkommission Russlands verkündete, dass sie gegen derartige Wettbewerbe und Gewinnspiele in Wahllokalen keine Einwände hat, sofern diese nicht den Abstimmungsprozess behindern. 

Die Mobilisierungsverantwortlichen können die Wahlbeteiligung in Echtzeit verfolgen

Die am Abstimmungstag „mobilisierungsverantwortlichen“ Unternehmens-, Branchen- und Regionalchefs sowie die Projektleiter selbst können die Wahlbeteiligung in Echtzeit verfolgen – unterteilt nach unterschiedlichen Unternehmen, Branchen und Regionen. Das geht aus der Dokumentation auf der Seite des Projekts hervor. Darüber hinaus lassen sich in der Datenbank die Telefonnummern all derer Mitarbeiter anzeigen, die nicht abgestimmt haben.

Screenshot der Demoversion von votely.ru / © Meduza

In der Demoversion von votely.ru, in die Meduza Einblick bekommen hat, waren bereits einige Dutzend russische Großunternehmen gelistet. Neben der Russischen Post sind dies unter anderem Sibur, Severstal, Rostec, Rostelecom, die Russische Eisenbahn, Lukoil, AFK Sistema und andere. Informationen über die Anzahl ihrer Mitarbeiter und deren QR-Codes werden in der Demoversion jedoch nicht geliefert – dort sind nur die Namen der Organisationen angegeben.

Einem Gesprächspartner von Meduza zufolge soll das IT-System votely.ru zur Kontrolle der Wahlbeteiligung in Großunternehmen der Oblast Jaroslawl und der Region Altai eingesetzt werden. 

Du kommst in einen Wahllokal, zeigst einem Menschen deinen QR-Code, stimmst ab und gehst

Vor einigen Tagen berichtete das Online-Portal Ura.ru über die geplante Verwendung von QR-Codes zur Kontrolle der Wahlbeteiligung bei Bjudshetniki in Jekaterinburg. Dabei beschrieb das Portal ein ähnliches Schema wie das von votely.ru: „Du kommst in einen Wahllokal, zeigst einem Menschen deinen QR-Code, stimmst ab und gehst“, so eine der Quellen von Ura.ru

Schon 2018 im Einsatz

Dem Portal votely.ru zufolge gibt es das System bereits seit einigen Jahren. 2018 hatte MBKh Media während der Präsidentschaftswahl berichtet, dass man in der Region Jaroslawl die Wahlbeteiligung kontrolliert, und dass E-Mails mit Daten zur Wahlbeteiligung von der E-Mail-Adresse robot[at]votely.ru versandt werden. 

Wie Meduza herausgefunden hat, heißt der Schöpfer von votely.ru und von den Apps zum Scannen der QR-Codes Iwan Valentinowitsch Petrow, ein gebürtiger Rybinsker aus der Oblast Jaroslawl. Er lehnte es ab, mit Meduza über die Einzelheiten des Votely-Systems zu sprechen, da „er grundsätzlich unter keinen Umständen mit Journalisten spricht“. Wenige Minuten nach dem Anruf bei Petrow hat der Demozugang zu votely.ru nicht mehr funktioniert.


Update: Am 26. Juni hat Meduza eine weitere Recherche veröffentlicht darüber, dass die Plattform votely.ru über Server staatlicher Organe in Russland betrieben werden.

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In einem Video aus Rostow am Don vom 18. September 2016 zeigt sich eine typische Szenerie einer zum Wahllokal umfunktionierten Schule. In diesem Fall hat man die Abstimmung in einer kleinen Sporthalle organisiert: Wo Kinder sonst die Sprossenwand erklimmen, baumeln rote, weiße und blaue Ballons; wo sonst der Basketball gedribbelt wird, werfen Bürger ihre Wahlzettel in transparente Urnen. Doch um 12:35 Uhr sieht es aus, als würden die Mitglieder der örtlichen Wahlkommission wieder zum Sport übergehen. Zwei Personen bauen sich – ähnlich der menschlichen Mauer beim Fußball – vor einer der Wahlurnen auf. Für andere Anwesende verdecken sie damit die Sicht auf eine weitere Mitarbeiterin, die in aller Seelenruhe zahlreiche Wahlzettel nacheinander in die Urne fallen lässt. Und das ist dann doch wieder ziemlich unsportlich.

Zeugen solcher Szenen stellen sich viele Fragen: Wie verbreitet sind solche Praktiken – und auf welche Weise wird noch gefälscht? Welchen Stellenwert haben Fälschungen heute in Russland? Und bedeuten sie, dass Wahlergebnisse insgesamt nicht belastbar sind? Der Reihe nach.

Einwurf, Karussell und Bächlein

Da sind zunächst allzu offensichtliche Fälschungen wie sie die Szene aus Rostow dokumentiert: Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag durch Wähler oder Organisatoren – und manchmal von beiden Hand in Hand. Neben dem Einwurf zusätzlicher Stimmzettel durch Mitarbeiter der Wahlkommission ist das sogenannte „Karussell“ die bekannteste Methode. Dabei wird dem Wähler ein materieller Anreiz geboten, einen bereits ausgefüllten Stimmzettel in die Wahlurne zu stecken und dem Karussell-Organisator den eigenen unberührten Zettel zu übergeben. Dieser füllt den leeren Stimmzettel aus und übergibt ihn dem nächsten Wähler. Oft wird diese Methode mehrfach wiederholt, indem Wähler mit Bussen von einem Wahllokal zum anderen gefahren werden.1

Damit verwandt ist das Verfahren mit der harmlosen Bezeichnung „Cruise“ (Kreuzfahrt) oder „Bächlein“ (Rutschejok): Es basiert ebenfalls auf mehrfacher Abstimmung, allerdings mithilfe eines gefälschten Wahlscheins, der zur Abstimmung in einem beliebigen Wahllokal berechtigt. Beides funktioniert natürlich nur, wenn die Organisatoren eingeweiht sind und Personen in die Wahlkabinen vorlassen, die nicht im örtlichen Wählerregister eingetragen sind.

Videos wie etwa aus Rostow am Don weisen solche Praktiken nach. Allerdings fangen Kameras das nur selten so eindeutig ein. Doch durch einen Blick auf die offiziellen Daten kann Stimmeneinwurf auch nachträglich aufgespürt werden: Liegt die Wahlbeteiligung in einem Bezirk besonders hoch und zeigt sich dort zugleich eine starke Abweichung in der Stimmverteilung zugunsten einer Partei (meist: Einiges Russland), liegt die plausible Annahme nahe, dass dort tatsächlich Stimmen künstlich hinzugefügt wurden. Eine Studie zu den Parlamentswahlen 2011 zeigte zudem: Allein die Gegenwart unabhängiger Beobachter in einem Wahllokal reduzierte den Stimmanteil für Einiges Russland durchschnittlich um elf Prozentpunkte.2

Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie?

Vertraut man den Berichten der OSZE, haben während der 2000er Jahre diese direkten Manipulationen des Ergebnisses am Wahltag zugenommen. Hatten die internationalen Beobachter in den Jahren 1999 und 2000 noch kaum etwas am Wahl- und Auszählungsprozess auszusetzen, so häuften sich in den Jahren danach Berichte zu Mehrfachabstimmung und Verletzungen der vorgeschriebenen Verfahren.3 Im Jahr 2011 waren solche Berichte besonders zahlreich, und diesmal (auch weil sie sich durch soziale Medien so schnell und weit verbreiten konnten wie nie zuvor) trieben sie zigtausende Menschen auf die Straße.

Doch solche Manipulationen allein reichen nicht aus, um zu erklären, warum die OSZE die Wahlen von 1999 noch einen „Meilenstein in Russlands Fortschritt hin zur repräsentativen Demokratie“ nannte – um dann bis 2011 Wahl für Wahl kritischere Worte zu finden (die Dumawahl 2016 erhielt wieder bessere Noten). Hinzu kommen Verzerrungen des politischen Wettbewerbs im Vorfeld der Wahl, die im politischen System Russlands wesentlich bedeutender sind als direkte Wahlfälschungen. Sie alle haben zu tun mit der Nutzung der sogenannten Administrativen Ressource.

Verzerrungen des politischen Wettbewerbs

Erstens werden Kandidaten und Parteien bis heute zuweilen nicht zur Wahl zugelassen. Dies geschieht oft unter Berufung auf formale Fehler, zum Beispiel darauf, dass zu viele ihrer zur Registrierung eingereichten Unterstützerunterschriften ungültig seien. In einem gesetzlichen Umfeld, das ohnehin hohe Hürden für Newcomer setzt, erschwert dies die Teilnahme alternativer politischer Kräfte zusätzlich.

Zweitens springen staatliche Stellen bei der Wählermobilisierung ein: Regelmäßig erhalten Studierende, Soldaten, Staatsbedienstete und Angestellte großer Unternehmen „Wahlempfehlungen“. Außerdem nahm der Anteil der Wähler stark zu, die bis zu zwei Wochen vor der Wahl abstimmen: Mitarbeiter der Wahlkommissionen kommen in einem kaum kontrollierbaren Prozess mit mobilen Urnen zu Wählern in die Wohnung oder ins Krankenhaus. Bei der Präsidentenwahl 2008 stimmten 7,5 Prozent der Wahlberechtigten auf diese Weise ab.4

Drittens ist die Regierungspartei selbst das Produkt eines staatlichen Eingriffs in die politische Auseinandersetzung. Sie ging 1999 als hastig geschmiedete Elitenkoalition Jelzinsunter dem Namen Jedinstwo (Einheit) an den Start, sicherte Jelzins Nachfolger Putin eine parlamentarische Basis und wurde bis zur Wahl 2003 zur Machtpartei ausgebaut - und zwar durch den gezielten Einsatz staatlicher Mittel.

Was, viertens, auch die Medienberichterstattung einschließt. War auch der Wahlkampf in den 1990ern von Fernsehsendern in der Hand kremltreuer Unternehmer geprägt (allen voran ORT des Oligarchen Boris Beresowski), so gab es damals noch signifikante Gegengewichte in der Medienlandschaft. Unter Putin änderte sich dies schnell: Bis 2001 waren die größten Fernsehsender mehrheitlich oder vollständig in der Hand des Staates. Und dies zeigte sich deutlich: Während des Wahlkampfs im Jahr 2007 entfielen jeweils etwa 19 Prozent der Nachrichtenzeit im Ersten Kanal und bei NTW sowie 20 Prozent im Kanal Rossija auf Berichterstattung über die Regierungspartei Einiges Russland. Die noch immer wichtigste Oppositionskraft, die Kommunistische Partei, wurde dagegen nur in zwei bis drei Prozent der Zeit erwähnt.5

Ein hybrides System

Auf diese und andere Weise wird der politische Wettbewerb bereits vor der Wahl durch den Missbrauch staatlicher Ressourcen so verzerrt, dass ein unkontrollierter Machtwechsel am Wahltag nahezu ausgeschlossen ist. Direkte Eingriffe und Manipulationen im Wahlprozess sind in diesem System nur das letzte Mittel, um einen Stimmenverlust abzuwenden – wie bei der Parlamentswahl 2011. Dass dieses Ausmaß an offensichtlichen Fälschungen eine unerwünschte Ausnahme darstellte, ist auch an den Bemühungen zu erkennen, die seitdem unternommen wurden, um Vertrauen in den Wahlprozess zurückzugewinnen – etwa die teure Installation von Überwachungskameras in Wahllokalen oder die Ernennung von Ella Pamfilowa zur Chefin der Zentralen Wahlkommission.

Solche Systeme, in denen politische Eliten ihren Herrschaftsanspruch einerseits aus einem technisch einwandfreien, formal demokratischen Wahlprozess ableiten, andererseits aber zum Zweck des Machterhalts unfaire Mittel einsetzen, haben in der Politikwissenschaft einen Namen erhalten, der diese inhärente Widersprüchlichkeit betont: hybride Regime. Die Forschung zu solchen Regimen gewann in dem Maße an Plausibilität, in dem sich im Westen die Enttäuschung über die politischen Irrfahrten einiger junger Demokratien breit machte. Das „Ende der Geschichte“6 war nach 1990/91 keineswegs erreicht, und eine demokratische Verfassung bedeutete noch lange nicht den unabänderlichen Triumph liberaldemokratischer Prinzipien in der täglichen politischen Wirklichkeit. Und so gilt für Russland zurzeit, was Andreas Schedler den „elektoralen Autoritarismus“ nennt: es ist ein politisches System, in dem zwar Parteien regelmäßig Wahlen verlieren – aber eben nur Oppositionsparteien.7


1.Einen Bericht über die Funktionsweise eines „Karussells“ in deutscher Sprache gibt es bei der Frankfurter Rundschau
2.Field experiment estimate of electoral fraud in Russian parliamentary elections
3.Die einzelnen Berichte können nachgelesen werden
4.White, S. (2014): The electoral process. In S. White, R. Sakwa & H.E. Hale (eds), Developments in Russian politics, pp. 60–76. Basingstoke [u.a.]: Palgrave Macmillan, S. 70
5.White, S. (2014): S. 68
6.Fukuyama, F. (1992): Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?
7.Schedler, A. (2002): The menu of manipulation. Journal of democracy, 13(2), 36-50, hier. S. 47

Diese Gnose wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.

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