Fast wäre Andrej Ischtschenko Gouverneur geworden. Gouverneur des Primorski Krai mit der Hauptstadt Wladiwostok im Fernen Osten Russlands. Nachdem am Einheitlichen Wahltag am 9. September keiner der Kandidaten dort eine absolute Mehrheit erzielen konnte, kam es am Sonntag zur Stichwahl zwischen Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen Partei und dem Interims-Amtsinhaber Andrej Tarassenko von Einiges Russland. Während der Auszählung sah es die meiste Zeit gut aus für den Kommunisten – doch dann änderte sich das Ergebnis schlagartig.
Ein Kommunist als Gouverneur – das wäre im gegenwärtigen Russland eine Sensation gewesen. Von den über 80 Föderationssubjekten werden die allermeisten von Mitgliedern der Machtpartei Einiges Russland geführt, nur zwei Gouverneure sind dagegen von der KPRF.
Nun sah es lange so aus, als würde mit Andrej Ischtschenko ein dritter dazu kommen. Als 95 Prozent aller Protokolle aus den Wahllokalen ausgewertet waren, führte Ischtschenko noch mit fast 6 Prozentpunkten Abstand gegenüber seinem Kontrahenten Tarassenko (51,6 Prozent zu 45,8 Prozent). Medienberichten zufolge gab es später über eine Stunde lang keine Aktualisierungen mehr auf der Seite der Zentralen Wahlkommission.
Bei einem Auszählungsstand von 99 Prozent aller Protokolle sah das Ergebnis jedoch ganz anders aus: Plötzlich lag Interims-Amtsinhaber Tarassenko vorn. Im vorläufigen Endergebnis wird dessen Stimmanteil mit 49,55 Prozent angegeben, der von Ischtschenko mit 48,06 Prozent. Das bedeutet, dass die neuen bzw. geänderten Ergebnisse aus nur einer Handvoll Wahllokalen den plötzlichen Sprung im Gesamtergebnis verursacht haben. Welche das sind, lässt sich in unserer Karte mit der entsprechen Filterauswahl nachvollziehen:
Zum Zoomen mit dem Mausrad die Strg-/Ctrl-Taste gedrückt halten oder in den Vollbildmodus wechseln. Die Auswahl „Neue Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren Protokolle um 6:41 Uhr Moskauer Zeit erstmals in der Gesamtrechnung berücksichtigt wurden. „Geänderte Ergebnisse“ zeigt Wahllokale, deren bereits berücksichtigte Protokolle noch nachträglich umgeschrieben wurden. Dargestellt sind 1310 von 1537 Wahllokalen – für die fehlenden lagen keine Koordinaten vor. Quelle: ZIK
Die KPRF spricht von Wahlfälschungen, ihr Kandidat Ischtschenko hat auf seiner Facebook-Seite zum Protest aufgerufen und einen Hungerstreik verkündet. Auch Wahlanalysten äußern Zweifel an einem regelkonformen Zustandekommen eines solch abrupten Wechsels in den Ergebnissen. So schreibt etwa Alexander Kirejew auf seinem Blog: „Genau so sieht es aus, wenn Wahlergebnisse nachträglich umgeschrieben werden.“
Der Physiker Sergej Schpilkin, der auch schon Unregelmäßigkeiten etwa bei der Dumawahl 2016 oder der diesjährigen Präsidentschaftswahl publik gemacht hatte, weist auf Besonderheiten in der Stimmverteilung hin. Diese werden erkenntlich, wenn man die Ergebnisse aus den Wahllokalen nach deren Wahlbeteiligung sortiert und in einem sogenannten Histogramm darstellt:
Quelle: ZIK
Die Glockenkurve um die Spitze bei etwa 30 Prozent Wahlbeteiligung markiert für Schpilkin den Bereich, der am ehesten einer Gaußschen Normalverteilung gleicht, was Schpilkin als Indiz für eine weitgehend ehrliche Auszählung wertet. Dort hat tatsächlich der Kandidat der KPRF mehr Stimmen geholt.
Der Kandidat von Einiges Russland dagegen hat deutlich mehr Stimmen in den Wahllokalen mit überdurchschnittlich hoher Wahlbeteiligung geholt. Der berühmte „Zackenbart“, die Ausreißer bei bestimmten Wahlbeteiligungs-Werten am rechten Ende der Skala (oft bei runden Zahlen wie 80 oder 95 Prozent), die eine deutliche Abweichung von einer Normalverteilungskurve darstellen, deuten für Schpilkin auf erfundene Ergebnisse hin.
Ella Pamfilowa, Chefin der Zentralen Wahlkommission, erklärte, dass man erst allen Beschwerden nachgehen wolle, bevor das amtliche Ergebnis der Gouverneurswahl im Primorski Krai verkündet wird. Dabei schloss sie auch eine Annullierung der Wahl nicht aus.
Update: Am 20. September hat die Wahlkommission des Primorski Krai die Ergebnisse der Stichwahl vom 16. September für ungültig erklärt. Eine Wiederholung der Wahl fand am 16. Dezember statt. Andrej Ischtschenko von der Kommunistischen Partei blieb die Zulassung zur Wahl verwehrt. Eine Reihe von Wahlbeobachtern sprach in diesem Zusammenhang von einem Verstoß gegen das Wahlrecht. Außerdem gab es zahlreiche Hinweise auf Wahlfälschungen. Laut offiziellem Wahlergebnis gewann Oleg Koshemjako, der neue Kandidat von Einiges Russland, mit rund 62 Prozent der Stimmen.
Text und Datenvisualisierung: Daniel Marcus
erschienen am 17.09.2018 (Aktualisierung: 17.01.2019)