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Kafkas Schloss und Medwedews Villen

Sie heißen Dar, Gradislawa und FSKI (Stiftung für sozial-kulturelle Initiativen). Und diese wohltätigen Stiftungen haben die Menschen am vergangenen Wochenende landesweit auf die Straßen gebracht. Zumindest indirekt. 
In seinem Korruptionsbericht über Premier Dimitri Medwedew deckt der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ein ganzes Netz vermeintlich wohltätiger Stiftungen auf, über die der Premier heimlich Reichtümer anhäufe, etwa eine Luxus-Datscha, aber auch Weingüter und Yachten.

Solche Stiftungen müssen ihre Jahresberichte öffentlich machen – auch um sicherzustellen, dass sie nicht unter das NGO-Agentengesetz fallen. Insofern müssten ihre Tätigkeiten leicht nachzuvollziehen sein – Anna Baidakowa von der Novaya Gazeta wurde allerdings eines Besseren belehrt. 

Quelle Novaya Gazeta

Ein Netz von Pseudo-Stiftungen, mittels derer Premier Medwedew Reichtümer anhäuft – so lauten die Vorwürfe des Oppositionspolitikers Nawalny. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

Dar [dt. Gabe/Geschenk] – so heißt die Stiftung, der das Gut Milowka in Pljos gehörte. Dort wurde Dimitri Medwedew im Urlaub ausgemacht. Wir sandten der Stiftung eine Anfrage, eine Sekretärin bestätigte den Eingang telefonisch. 
Doch als sich die Korrespondentin der Novaya Gazeta auf die Suche nach dem Dar-Büro macht, stellt sich heraus, dass sich an der Meldeadresse, 2. Spassonaliwkowski Pereulok 6, eine Baustelle befindet, die Firma Codest International S. r. L. errichtet hier einen Wohnhauskomplex. 
Die Sekretärin lehnte ab, der Korrespondentin am Telefon die tatsächliche Büroadresse zu nennen (wenn es sie denn gibt), und bat um eine schriftliche Anfrage.

Null Rubel für Hilfsaktionen

Einzige Informationsquelle darüber, wie die mit Medwedew in Zusammenhang gebrachten Stiftungen ihre Mittel verwenden, sind Datenbanken wie SPARK, wo man unter anderem Berichte über den zweckgebundenen Einsatz der Mittel findet. Dort kann man etwa erfahren, dass die Stiftung für regionale gemeinnützige Projekte Dar im Jahr 2015 1,4 Milliarden Rubel [knapp 19.000.000 Euro] in Form von Spenden erhielt und 454,6 Millionen [rund 6.069.000 Euro] für zweckgebundene Maßnahmen ausgab.

Doch waren das keine sozialen und wohltätigen Hilfsaktionen, Konferenzen oder Seminare – für diese Posten wurden 0 Rubel verwendet. Sondern es waren allesamt „sonstige Maßnahmen“. Wobei für Gehälter, Dienstreisen und Instandhaltung von Autos und Gebäuden 224,7 Millionen [rund 2.991.000 Euro] ausgewiesen wurden und weitere 574 Millionen [rund 7.640.000 Euro] für „Grundausstattung, Inventar und andere Besitztümer“.

Leider ist so einem Bericht nicht zu entnehmen, welche „sonstigen Maßnahmen“ gemeint sind. Für einige Jahre gibt es gar keine Berichte, und da, wo es welche gibt, bleiben jedes Mal am Jahresende 6 bis 8 Milliarden [rund 1 bis 1,3 Millionen Euro] ungenutzt liegen.

Oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche

Zu manchen Ausgaben der Stiftung Dar kann man in der Kartothek des Schiedsgerichts etwas finden. Dass Dar zum Beispiel im Jahr 2010 der Firma OOO Rikko-Stil in Krasnodar 603,4 Millionen Rubel gezahlt hat für den Bau eines „nicht für Wohnzwecke bestimmten Gebäudes mit Sportschwimmbecken an der Adresse: RF, Oblast Iwanowo, Rajon Priwolschsk, Dorf Milowka, Tschernew-Gut (Gut Milowka)“, lässt sich aus Dokumenten zu einem Prozess herleiten: Dar hatte von Rikko-Stil eine Vorauszahlung für Arbeiten zurückgefordert, die Rikko-Stil nicht erfüllt hat – den Großteil der bezahlten Summe.

Die Jahresberichte anderer Stiftungen in der allgemein zugänglichen Datenbank geben ebenso spärlich Auskunft, oft enthalten alle Ein- und Ausgabeposten nur Striche.

Gut Milowkа mit Entenhäuschen im Teich. Screenshot © Алексей Навальный/YouTube

Nach Erkenntnissen des Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) hatte Gradislawa, eine Stiftung zum Erhalt von historischem und kulturellem Erbe, das Gut in Milowka von Dar als Spende erhalten. Über Gradislawa erfährt man zum Beispiel nur, dass die Stiftung im Jahr 2013 mit irgendeiner unternehmerischen Tätigkeit Einnahmen in Höhe von 531.000 Rubel [rund 8.770 Euro] erzielte und aus einer ungenannten Quelle weitere 749 Millionen [rund 12.365.000 Euro] bezog, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden.

Von allen Stiftungen rund um Dimitri Medwedew ist die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) die transparenteste. Zwar figurierte sie in den Ermittlungen auch nicht als Rechtsträger von Immobilien, doch steht sie mit Dar in Verbindung: Deren Tochtergesellschaft Verwaltungsteam der Stiftung Dar ist unter derselben Adresse gemeldet wie die Stiftung FSKI.

Büroräume in einer Villa aus dem 19. Jahrhundert

Die FSKI selbst befindet sich aber nicht in irgendeinem Business-Center, wo dutzende Firmen ihre Büroräume mieten, sondern in einem ebenerdigen Haus aus dem 19. Jahrhundert, auf der Bolschaja-Ordynka-Straße 70. Die Vorstellung, dass sich eine Organisation, als deren Präsidentin Swetlana Medwedewa auftritt, eine kleine alte Villa mit irgendeiner fremden Organisation teilt, fällt schwer.

Die Stiftung für Sozial- und Kulturinitiativen (FSKI) im Zentrum Moskaus. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

Die FSKI ist in der ganzen Liste die einzige Stiftung mit funktionierender Website. Darauf sind die Projekte der Stiftung beschrieben. Doch Antworten auf die Fragen, von wem sie die Spendengelder bekam, und wie und wofür sie diese ausgab, sucht man dort vergebens.

749 Millionen aus einer ungenannten Quelle, die zudem weder als Spenden noch als Gewinn klassifiziert wurden

Die Korrespondentin der Novaya Gazeta versuchte also, die Jahresberichte direkt bei den Stiftungen zu bekommen. Am Telefon der FSKI meldete sich ein Mädchen namens Kristiana, die ihre Funktion und ihren vollen Namen nicht nennen wollte. Sie erklärte, die Stiftung veröffentliche ihre Berichte „auf diversen anderen Websites“, es fiel ihr aber schwer zu sagen, auf welchen konkret.
Nach Rücksprache mit der Leitung rief sie zurück und sagte, die Berichte würden auf der Website des Justizministeriums nur ein Jahr lang gespeichert, dort seien sie einsehbar gewesen, der Bericht für 2016 erscheine allerdings erst am 15. April.

Allerdings stimmt das nicht: Auf dem Portal des Justizministeriums findet man Berichte gemeinnütziger Organisationen ab dem Jahr 2014. Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen ... und war verschwunden.

Trotzdem schickte die Stiftung der Redaktion ein Paket: Eine Mappe mit Broschüren über die Gefahr von HIV, ein Buch zum Gedenken an Leute, die bei Bränden Tapferkeit bewiesen haben, Titel „Brennendes Herz“, und noch einen Stapel Druckwerk über Programme, die die Stiftung auf ihrer Website auflistet (danke dafür – Anmerkung der Redaktion Novaya Gazeta). Offenbar ist das eben der FSKI-Tätigkeitsbericht.

Ein greifbares Projekt der FSKI sind immerhin die Diagnosezentren Weiße Rose, in denen Frauen kostenlose Krebsvorsorgeuntersuchungen angeboten werden. Der zahlreichen Erwähnungen im Netz nach zu schließen gibt es diese Zentren wirklich, im Jahr 2014 berichtete die Weiße Rose den Erhalt von 90,7 Millionen Rubel [rund 1.480.000 Euro], für Gehälter habe sie 303.000 Rubel [rund 4.930 Euro] aufgewendet, für 18 Millionen [rund 293.000 Euro] Vermögenswerte gekauft.

Nach langem Hin und Her sagte Kristiana, sie müsse weg, versprach, zurückzurufen ... und war verschwunden

Die Stiftung Gradislawa ist nicht besonders offen für Pressegespräche. Die Telefonnummer, die bei der Registrierung angegeben wurde, ist die von Generaldirektor Iwan Karabinski. Während des Gesprächs mit der Novaya-Korrespondentin wollte er keine Email-Adresse oder Faxnummer angeben, meinte: „Ich kann Sie ja nicht als Journalistin identifizieren“, und schlug vor, eine Anfrage im Büro vorbeizubringen.

Von außen deutet nichts darauf hin, dass hier die Stiftung Gradislawa ansässig ist. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

An der Kotelnitscheskaja-Nabereshnaja 25, Gebäude 1, steht ein Bürohaus, aber es gibt kein Schild von Gradislawa. Die Security an der Pforte teilt mit, dass Iwan Igorewitsch Karabinski persönlich nicht hier sitze, sondern hier sitze Roman Kalistratowitsch Kostezki. Auf einen Anruf des Security-Mitarbeiters hin kommt der heraus, ein großer Mann im Jackett, das Haar graumeliert. Er stellt sich als stellvertretender Direktor vor und nimmt die Anfrage entgegen.

Wir versuchten unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka

Den Anruf der Novaya-Korrespondentin bei Sozgosprojekt nahm eine Frau entgegen. Auf die Frage, wo man die Rechnungslegung der Stiftung einsehen könne und ob es eine offizielle Website gebe, antwortete sie: „Nein, wir haben keine Website“, und legte auf. Also versuchten wir, unsere Anfrage dem Büro zu übermitteln, und das lief ab wie bei Das Schloss von Franz Kafka.

Die Stiftung ist registriert unter der Adresse Uliza Rossolimo 17, Gebäude 2 – das ist das Business-Center Rossolimo. In der Eingangshalle hängt eine Liste der Organisationen, die dort ihren Sitz haben, auch Sozgosprojekt ist angegeben, mit Telefonnummer – dieselbe, die in den Gründungsunterlagen steht: 8 495 287-45-61. Als die Novaya-Korrespondentin jedoch dort anrief, sich vorstellte und um Entgegennahme ihrer Anfrage bat, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung: „Falsch verbunden“ ... und legte auf.

Dann versuchten unter derselben Nummer die Leute vom Sicherheitsdienst des Business-Centers zum Sozgosprojekt durchzukommen – vergeblich, niemand hob ab.

Indessen waren aber die Stiftungsmitarbeiter offenbar sehr wohl an ihrem Platz: Die Korrespondentin der Novaya setzte sich mit der Administration von Rossolimo in Verbindung und erfuhr, dass man dort gerade während des Gesprächs einen Vertreter des Sozgosprojekt „in der Leitung“ habe. Trotzdem wollte man nach diesem Telefonat die „richtige“ Nummer nicht herausgeben, teilte mit, eine diesbezügliche Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort.

Die Stiftung teilte mit, eine Anfrage könne in den Briefkasten geworfen werden, und legte den Hörer auf. Wir folgten dem Rat – die Redaktion bekam trotzdem nie Antwort

Die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten hat ihren Sitz in einem Gebäude an der Kadaschewskaja-Uferstraße 6/1/2 (das Gebäude ist von zwei Straßen und der Uferpromenade aus zugänglich, daher die Adresse mit zwei Schrägstrichen). Der Eingang zu den Büros liegt im Hof, man muss ein Tor passieren, das der Wachmann auf ein Klingeln hin öffnet. Ein Schild gibt es nicht am Eingang.

Als die Korrespondentin sagt, sie suche die Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten, diskutieren die Wachmänner zuerst einmal lang und breit, ob es eine solche Stiftung hier überhaupt gibt. Auch der Chauffeur, der am Fuß der Außentreppe sein Auto warmlaufen lässt, hat noch nie davon gehört. Schließlich gibt es die Stiftung aber doch, und die Security-Mitarbeiter schlagen vor, die Anfrage bei ihnen zu deponieren.

Ob es eine Stiftung zur Unterstützung olympischer Wintersportarten an deren offizieller Adresse gibt, wissen die Wachmänner nicht so genau. Foto © Wlad Dokschin/Novaya Gazeta

Unsere Anfragen haben wir am 20. und 21. März abgeschickt, wir warten auf Antwort. Bisher haben wir nur Briefe von FSKI, Gradislawa und Dar bekommen: Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben.

Die Organisationen bedanken sich bei der Novaya Gazeta für das Interesse an ihrer Tätigkeit und geben sanft zu verstehen, dass sie ihre Jahresberichte nicht herausgeben

Zum Beispiel so: „Der Bericht zur Tätigkeit der Stiftung geht in gesetzlich vorgeschriebener Form an jene Behörden, die mit der Kontrolle der Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen beauftragt sind. Wir wünschen der Redaktion der Zeitung neue kreative Erfolge, gute Nachrichten, zuverlässiges und objektives Material, ausgewogene Bewertung und, am wichtigsten – das Vertrauen der Leser!“ So heißt es in einem Brief von Dar. Deren Mitarbeiter ließen der Novaya Gazeta ihre Antwort per Email in einem Word-File ohne Briefkopf zukommen.

Mit der Bitte, der Redaktion Einblick in die Jahresberichte der Stiftungen zu gewähren, wandten wir uns schließlich an das Justizministerium. Die Antwort: „Die Erfordernisse des Föderalen [Gesetzes] Über gemeinnützige Organisationen hinsichtlich der Vorlage der Rechnungslegung sind seitens der angegebenen gemeinnützigen Organisationen erfüllt. Bezüglich der Einsicht in die Rechnungslegung wenden Sie sich bitte direkt an die betreffenden Stiftungen.“

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Für die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, Administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden.

Das Phänomen der Korruption in Russland ist komplex und bisher nur unzureichend erforscht. Illegale Bereicherung wird in der Gesellschaft auf beinahe allen Ebenen als akzeptable, legitime Form betrachtet, um den Lebensunterhalt zu sichern. Die Verwurzelung im Alltagsleben sowie die Mannigfaltigkeit der Korruptionsformen drücken sich auch in der Sprache aus. Im offiziellen Diskurs wird oft das Fremdwort Korrupzija gebraucht.

Ein Phänomen mit vielen Namen

In der Umgangssprache finden sich zahlreiche, teils duldsame Jargon-Ausdrücke: die Substantive wsjatka oder wsjatotschnitschestwo (von wsjat, dt. nehmen), sanos, otkat und Ausdrücke wie sanesti (dt. etwas vorbeibringen), otkatit (dt. etwa zurückschaffen, im Sinne von Korrputionsgegenleistung), dat na lapu (dt. auf die Pfote geben), podmasat (dt. einschmieren) und viele andere. Literarische und traditionelle Wörter wie kasnokradstwo (dt. etwa Veruntreuung, wörtlich Haushaltsklau) oder msdoimstwo (dt. Bestechung), die in Wörterbüchern und klassischen Werken noch vorkommen, sind fast völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden.

Außerdem kommen sowohl in der offiziellen wie in der alltäglichen Sprachpraxis Euphemismen zum Einsatz, durch die von Seiten der Sprecher zum Ausdruck kommt, dass mafiöse Praktiken oder die Verflechtung von Staat und Unterwelt legitimiert sind. Der wichtigste dieser Ausdrücke ist der halboffizielle Terminus Administrative Ressource. Dieser meint die Ausnutzung einer Stellung in der staatlichen Hierarchie, um sich Teile der öffentlichen Mittel anzueignen oder Familienangehörigen lukrative Erwerbsmöglichkeiten zu verschaffen.

Hier werden zwar Gegenleistungen nicht unmittelbar erkauft, aber es wird doch in einem korrumpierenden Sinne der Vorgang der Ressourcenverteilung manipuliert – was Korruptionsnetzwerke weiter wachsen lässt.

Ehrlich verdientes Geld galt als verwerflich

Die Ursache wird verständlich, wenn man die sozialen Praktiken und Einstellungen aus der sowjetischen Epoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems miteinander vergleicht.

Mit Marx kann kann man die sowjetische Ära als Epoche der asiatischen Produktionsweise begreifen. Dies meint Ausbeutung ohne die Bildung von Eigentum. In der UdSSR war nicht nur das Privateigentum an „Werkzeugen und Produktionsmitteln” verboten, auch der gewöhnliche Besitz, die persönlichen Habseligkeiten, wurden beschränkt.

Eine aggressive Form der Uneigennützigkeit wurde dagegen verherrlicht. Ein Arbeiter, der weniger erhielt als den Gegenwert seiner Arbeit und keine Gehaltserhöhung forderte, wurde als „selbstlos“ gepriesen, und sogar ehrlich verdientes Geld galt im sowjetischen Diskurs als verwerflich.

Die Korruption, die in der UdSSR blühte, betraf nicht so sehr finanzielle Eigentumsverhältnisse (also die Möglichkeiten des Privateigentums) als vielmehr die Anhäufung von Einfluss und die Fähigkeit, mit Staatsbesitz so umzugehen, als sei es der eigene.

Immobilien und Geld häuften sich zu Sowjetzeiten nur in einem sehr engen Kreis an. Traditionell hatte (in Russland) dabei nur der oberste Herrscher das Recht, Bürgern Eigentum zuzuteilen: Vor der Revolution war der Zar der einzige rechtmäßige Eigentümer überhaupt. Im sowjetischen Russland war es hingegen das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und seine Führung.

Postsowjetische Massen-Korruption

Die Propagierung der Uneigennützigkeit hatte in der UdSSR fast schon religiösen Charakter. Und die Angst wegen Unternehmertums zu sterben1 war ein Teil der ideologischen Indoktrination. Nach dem Zerfall des sozialistischen Systems verbanden sich daher drei gedankliche Linien, die ein festes Programm bildeten:

  • einerseits Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit 
  • andererseits ein praktisches Verlangen, endlich ein eigenes Haus, eine eigene Wohnung oder ein eigenes Stück Land zu besitzen
  • und schließlich ein fester Glaube daran, dass alles vom Chef abhängt.

Dadurch kam es im Folgenden zu dem verblüffenden historischen Phänomen der postsowjetischen Massen-Korruption.

Die nach dem Zerfall der UdSSR gesetzlich erlaubte allgemeine Bereicherung wurde von den meisten Leuten geradezu als Erlaubnis von oben aufgefasst. Stillschweigend akzeptierte die Gesellschaft die Bedingungen, unter denen das sogenannte Volkseigentum in Privateigentum umgewandelt wurde. Allerdings erfolgte die Privatisierung größtenteils nach dem Motto „jeder nimmt, was er kann“.

Ein traditionelles Mittel der Staatsführung

Dass die ehemaligen Chefs und Geheimdienstmitarbeiter am meisten abbekamen, hat niemanden verwundert. Als die Ära des späten Jelzin in die Ära Putin überging, herrschte ein Konsens bezüglich der nun folgenden Umverteilungen. Der oberste Chef und Eigentümer hatte nach Auffassung der meisten Russen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, persönlich die Verteilung aller Ressourcen sicherzustellen und dabei alle drei Aspekte des Eigentums zu legitimieren: Besitz, Handhabung und Verteilung.

Die massiven Proteste gegen Korruption im März 2017 deuteten zwar einen zaghaften Wertewandel an, doch insgesamt bleibt das Protestpotential eher gering: Veruntreuung von Staatseigentum und Bestechlichkeit werden nicht als Exzess oder Verletzung des geschriebenen Gesetzes gesehen, sondern als traditionelles Mittel der Staatsführung.

Auf Korruptionsenthüllungen von ausländischen oder russischen Organisationen (wie dem Fonds für Korruptionsbekämpfung von Alexej Nawalny, Transparency International, ICIJ etc.) reagiert nur ein kleiner Teil der russischen Gesellschaft mit Protestaktionen: Die Anschuldigungen Nawalnys an die Adresse Medwedews brachten am 26. März 2017 zwar landesweit einige zehntausende Menschen auf die Straße, die große Mehrheit der Gesellschaft quittierte diese Enthüllung aber mit Schweigen. Die krassesten Veruntreuungen von staatlichem Eigentum, die zum Teil mit der russischen Staatsspitze verbunden sind, werden als legitim aufgefasst. Und jeglicher Versuch, etwas dagegen zu unternehmen, wird schon innerfamiliär unterbunden: Die Familienmitglieder wissen, dass sie ihr gesamtes Eigentum verlieren können, wenn einem Kettenglied in der gegenwärtigen Machtvertikale danach ist.


1.Es ist bemerkenswert, dass Versuche einer selbständigen unternehmerischen Tätigkeit ohne die Genehmigung der politischen Führung stets verhindert wurden – auch mit der Todesstrafe. Im Jahr 1984 wurde Juri Sokolow, der Direktor des Feinkostladens Jelissejew, in Moskau wegen „Diebstahls sozialistischen Eigentums in besonders hohem Ausmaß” erschossen. Im Jahr 1987 traf es den Chef eines Gemüselagers: Mchitar Ambarzumjan. Da die Sowjetunion ein Land des ständigen Mangels war, wurden besondere Handelsketten eingerichtet, über die nur besonders nah an der politischen Führung stehende Personen mit Waren versorgt werden sollten. Versuche der Mitarbeiter, dabei über die gesteckten Grenzen hinauszugehen, wurden zur „ungesetzlichen unternehmerischen Tätigkeit” erklärt – ungesetzlich dabei war der Charakter der „Blat-Aufteilung”. Von hier aus verbreitete sich der Korruptionssumpf, der nach Ansicht einiger Ökonomen die gesamte Wirtschaft der Sowjetunion in den Ruin trieb.
Weiterführende Literatur:
Passarge, Malte/Behringer, Stefan/Babeck, Wolfgang (Hrsg.) (2014): Handbuch Compliance international: Recht und Praxis der Korruptionsprävention, Berlin; [Russland: S.445-480]
Dawisha, Karen (2014): Putin's kleptocracy: who owns Russia? New York
Golunov, Sergey (2014): The elephant in the room: corruption and cheating in Russian universities, Stuttgart
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