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Christlicher Untergrund

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist ein wichtiger Stützpfeiler des Putin-Regimes. Patriarch Kirill rechtfertigt den russischen Überfall auf die Ukraine als „Heiligen Krieg“ und ehrt den Chefpropagandisten Dimitri Kisseljow mit einem Orden. Der Klerus unterstützt diesen Kurs mehrheitlich. Priester reisen mit wundertätigen Ikonen an die Front. Viele waren früher selbst Offiziere der russischen Armee. Es gibt aber auch in der Russisch-Orthodoxen Kirche Einzelne, die ihrem Gewissen folgen und es ablehnen, das obligatorische Gebet für den Sieg zu sprechen. Angehörige des Klerus, die sich offen gegen den Krieg aussprechen, riskieren viel. Von Deutschland aus versuchen Glaubensbrüder, sie zu unterstützen.  

Der Fotograf Vadim Braydov hat einige von ihnen in ihren neuen Gemeinden in Deutschland und den Niederlanden besucht und sie für OVD-Info porträtiert. Er selbst ist im Frühjahr 2022 mit Unterstützung von Reporter ohne Grenzen aus Russland geflohen und lebt jetzt in Köln. 

Quelle OVD-Info

„Flieht! Hier gibt es keinen Gott mehr!“ 

Ein Birkenwäldchen, wie es viele gibt in Russland. Es liegt aber im Grenzgebiet zwischen Deutschland und den Niederlanden. Hier geht Pater Andrej Kordotschkin häufig spazieren / Foto © Vadim Braydov

„Im Koordinatensystem dieses faschistischen Regimes sehe ich für mich keinen Platz[…] Passen Sie auf sich auf, und auf Ihre Familie. Es wird niemandem leichter ergehen, wenn Sie eine Geldstrafe erhalten oder ins Gefängnis wandern. Flieht! Hier gibt es keinen Gott mehr.“ Damit endet die Videobotschaft des Priesters Nikolai Platonow. Nach diesem Clip wurde er beschattet. Er selbst rechnete mit „Bettelsack und Kerker“, aber er fand Beistand. OVD-Info sprach mit den Begründern eines Projektes, das Priestern der Russisch-Orthodoxen Kirche hilft, die wegen ihrer Haltung gegen den Krieg zu leiden haben. Und mit Menschen, die dort Hilfe fanden. 

Vater Nikolai ist ein ehemaliger Priester der Diözese Tscheljabinsk. Er postete seinen Antikriegsclip, als er schon in Armenien war, nämlich am 16. April 2022. Darin erklärt der Priester, er habe selbst um Entlassung gebeten, weil er nicht mehr länger zum Krieg schweigen konnte. Nach dem Video werde „die kirchliche Obrigkeit mich aufgrund irgendeines schändlichen Paragrafen entfernen wollen“. 

„Ich erinnere mich sehr genau an den Tag nach Kriegsbeginn“, erzählt er. „Mein Vater hat am 25. Februar Geburtstag. Es war der letzte Tag, an dem wir uns gesehen haben. Seit mehr als zwei Jahren habe ich jetzt schon keinen Kontakt mehr zu meinem Vater und meinem Bruder. Für sie bin ich ein Verräter. Mir war damals noch nicht klar, dass der Einmarsch zu hunderttausenden Toten führen würde, mir war aber klar, dass man von mir verlangen würde, die Soldaten zu segnen, damit sie in einen verbrecherischen Bruderkrieg ziehen. Ich verstand, dass der Diktator endgültig den Verstand verloren hat und es Zeit ist, sich einen Reisepass zu besorgen. Was ich dann auch machte.“ 

Die Gemeinde von Vater Nikolai in Tscheljabinsk war klein. Er kannte alle Mitglieder persönlich. Er versuchte mit jenen zu reden, die den Einmarsch unterstützten. Er traf aber, so formuliert er es, „auf eine absolute Ablehnung der Bergpredigt Christi“. Es gab allerdings auch solche, die durch das Geschehen genauso erschrocken waren wie er. Es dauerte nicht lange, da riefen ihn Bekannte aus dem Bergwerks– und Metallurgie–Kombinat Tominski an, das seine Kirche unterstützt hatte. Sie warnten ihn, dass eine Aktion in Vorbereitung sei, und man ihm die Priesterwürde entziehen werde. 

„Die Zeit lief. Der Reisepass war fertig. Ich verabschiedete mich von der Gemeinde und setzte mich ins Flugzeug“, erinnert sich Platonow. 

 

Videobotschaft des Priesters Nikolai Platonow, aufgezeichnet im Frühjahr 2022 

So kam er nach Armenien. Nach dem Video wurde ihm sofort untersagt, Gottesdienste abzuhalten. Und er bekam Drohungen: Andrej Remisow, der stellvertretende Generaldirektor des Tominski-Kombinats, schrieb ihm, nannte ihn ein hinterhältiges Arschloch und verlangte das Geld zurück, das das Kombinat für den Bau der Kirche gespendet hatte. 

„Remisow sagte, dass ich es bereuen werde, und dass er mir das nie verzeiht“, erinnert sich Platonow. „Er forderte, dass ich das Video aus dem Netz nehme. Stattdessen habe ich seine Drohungen veröffentlicht.“ 

Später erzählten ihm Bekannte, dass ihn an seiner neuen Wohnung gewisse Leute gesucht hätten. Er musste mit einer fremden SIM-Karte leben und in Jerewan ständig umziehen. „Drei Monate habe ich in Armenien gelebt“, sagt der Priester. „Dann bin ich zurückgekehrt, weil ich kein Geld mehr hatte und meine Mutter krank geworden war. Mir war aber klar, dass ich nicht lange bleiben konnte. Schon am Flughafen hielten sie mich zwei Stunden lang fest. Sie veranstalteten eine zusätzliche, strengere Überprüfung, fragten: ‚Warum bist du zurückgekommen?‘…“ 

Doch auch in Russland hörte er nicht damit auf, Videos gegen den Krieg aufzunehmen und seine Haltung öffentlich zu äußern. Er wurde nun beschattet. Unbekannte folgten dem Priester und fotografierten ihn aus einem Auto heraus, wenn er ans Fenster trat. 

„Ich habe mir eine Wohnung genommen und bin praktisch nicht mehr auf die Straße gegangen. Egal, in welches Geschäft ich ging, immer wurde ich ‚begleitet‘ “, erzählt er. „Menschenrechtler, die ich kenne, sagten mir, das sei ein Anzeichen dafür, dass ich bald verhaftet werde. Ich bereitete mich innerlich auf das Gefängnis vor, weil in Russland für ähnliche Äußerungen schon andere Priester verurteilt wurden. Es gab aber auch jene, die mich überredeten, nicht zu warten, bis ich eingesperrt werde.“ 

„Die Menschen konnten überhaupt nicht verstehen, was das für einer ist: ein Priester, der den Krieg ablehnt… Das gibt’s doch gar nicht!“ 

Nikolai Platonow war der erste Schützling der neuen Organisation Mir Vsem [dt. „Friede für alle“ oder auch „Der Friede sei mit euch“]. Sie entstand im Oktober 2023 und hilft Dienern der Kirche, die wegen ihrer Ansichten verfolgt werden oder schlichtweg die Ideologie des Staates nicht teilen. Das Projekt wurde von drei Männern und einer Frau gegründet: den Priestern Andrej Kordotschkin und Walerian Dunin-Barkowski, dem Musiker Pawel Fachrtdinow und der Journalistin Swetlana Neplich-Tomas. 

„Die Menschen konnten überhaupt nicht verstehen, was das für einer ist: ein Priester, der den Krieg ablehnt… Das gibt’s doch gar nicht! Also mussten wir aller Welt erklären: Doch, das kann sehr wohl sein!“, erklärt Dunin-Barkowski. 

Vater Walerian Dunin-Barkowski spendet während eines Gottesdienstes der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf die Heilige Kommunion / Foto © Vadim Braydov

Vater Walerian dient als Priester in einer Düsseldorfer Kirche des Erzbistums der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa. Vor Empfang der Priesterwürde war er Mitglied einer Menschenrechtsorganisation, die unter anderem Aktivisten half, humanitäre Visa zu erlangen. 

„2023 sprach mich eine der Leiterinnen dieser NGO an: ‚Wir haben da einen Priester und wissen nicht, was wir mit dem machen sollen. Es gibt Stiftungen, die Journalisten, Aktivisten und Künstlern helfen. Aber was sollen wir mit euren Popen tun? Sie sind doch einer, kümmern Sie sich bitte darum‘…“ erinnert sich Walerian. Der Priester, um den es ging, war Nikolai Platonow. 

Nach diesem Gespräch begann Vater Walerian, Aktivisten zu suchen, die russischen Priestern helfen. Es stellte sich jedoch heraus: Das tut niemand.“

Vater Walerian schwenkt in seiner privaten Kapelle das Weihrauchfass / Foto © Vadim Braydov

„Der Krieg, die Morde, die Besetzung fremden Landes – Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Menschen erklären muss, dass das etwas Böses ist“ 

Vater Nikolai Platonow, mit dem die Geschichte von Mir Vsem begann, erhielt kürzlich in Frankreich politisches Asyl, wurde wieder in die Priesterwürde erhoben und möchte jetzt seinen Dienst in der Kirche fortsetzen. Er ist jetzt Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine.

„Ich war der Meinung und bin es weiterhin, dass es meine pastorale Pflicht ist, meine Haltung deutlich zu machen“, sagt er. „Es ist unsere Pflicht, dem Bösen offen entgegenzutreten. Denn wie sagte Maximus Confessor doch: ‚Über die Wahrheit zu schweigen kommt ihrer Leugnung gleich.‘ Der Krieg, die Morde, die Besetzung fremden Landes – Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Menschen erklären muss, dass das etwas Böses ist.“ 

Es gibt aber auch andere Geschichten bei Mir Vsem – allerdings mit tragischem Ausgang: Sie haben mit den besetzten Gebieten der Ukraine zu tun. Vater Feognost Puschkow ist ein Priester der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) aus dem Ort Markiwka in der Oblast Luhansk, das 2022 von den russischen Streitkräften besetzt wurde. Die Hilfe des Projektes hat er ausgeschlagen. Er ist seit 2014 offen gegen die russische Invasion in die Ukraine aufgetreten. Er unterhält einen Blog und einen YouTube-Kanal.  

Am 20. Juni schrieb er auf seinem Telegram-Kanal: „Mir geht es miserabel, Zittern und Husten in der Brust. Habe eine Tablette gegen meinen Blutdruck genommen. Die Polizei hat mich vorgeladen…“. 

Fast sieben Stunden später ein weiterer Post: „Ich bin im Krankenwagen. Die wollen mich in der Polizei einsperren… Ich steh zwischen Leben und Tod… Helft, wer kann. Meine Mutter überlebt das nicht! Es bleibt mir nur Selbstmord…“ 

Seitdem schweigt sein Kanal.

Vater Feognost Puschkow / Foto ©: Telegram-Kanal „Stein, den die Bauleute verworfen haben"

„Man hätte ihn natürlich sofort da rausholen müssen“, sagt Vater Walerian niedergeschlagen. „Die Polizeibehörden [der „Volksrepublik Luhansk“] haben ihn geschnappt, zwei Wochen schon gibt es keinerlei Nachricht von ihm, und wir haben keine Ahnung, wo er ist. So etwas passiert in den besetzten Gebieten; dort herrscht völlige Gesetzlosigkeit. Wir hätten ihm gern geholfen, aber jetzt bleibt uns nichts anderes mehr übrig, als die gesamte zivilisierte Welt auf die Situation aufmerksam zu machen. Er hat nur noch seine bettlägerige Mutter, die er als einziger pflegte. Was mit der wird, wissen wir nicht. Die Situation ist mehr als fürchterlich.“ 

„Wenn der Priester zu einem Beamten und zu einem Teil der Staatsmaschine wird, dann stimmt etwas nicht“ 

Ich kenne noch einen anderen Priester, der war früher fast schon das Klischee von einem Popen: ein rundlicher, gütiger Vater. Er hat 50 Kilo abgenommen, während er im Keller saß. Weil der einzige Ort, wo man sich vor den Bombenangriffen verstecken konnte, der Kirchenkeller war. Ein Jahr hat er dort verbracht, jetzt ist er dünn wie ein vertrockneter Stängel, nur die Augen sind noch so groß wie früher. Er war wie der Priester aus dem Märchen über den Popen und seinen Arbeiter Balda; jetzt wirkt er wie ein fastender Mönch aus den Heiligenbüchern. Er hat sehr vielen Menschen geholfen. Er hat den Keller nicht verlassen, ging nicht nach draußen, kümmerte sich um die Kranken, weil er rund um die Uhr seinen Dienst versah.“ 

Vater Walerian Dunin-Barkowski ist studierter Physiker, war früher Musiker und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Seelsorger als IT-ler. Er sagt, dass es in Westeuropa nicht üblich ist, sein Geld ausschließlich durch den Dienst als Priester zu verdienen. Alle Priester haben auch noch eine weltliche Arbeit: „Das ist im Christentum nichts Neues: Der Apostel Paulus hat ebenfalls gearbeitet. Es ist eher so, dass das System nicht stimmt, wenn der Priester zu einem Beamten und zu einem Teil der Staatsmaschine wird.“ 

Vater Walerian Dunin-Barkowski beim Gebet in seiner Kapelle / Foto © Vadim Braydov

Ihm zufolge gibt es unter Physikern viele Gläubige, auch solche, die in den Priesterstand eingetreten sind. Weil der Mensch, „wenn er die Welt zutiefst ergründet, früher oder später versteht, dass sie mit physikalischen Gesetzen allein nicht gänzlich beschrieben werden kann. Und dass das geistliche Leben in diesem Sinne nicht nur an die Geisteswissenschaften grenzt, sondern auch an die Physik und die Biologie.“ Auch unter den Unterstützten von Mir Vsem gibt es einen Priester, der Astronom ist. 

„Der Beginn des Krieges war ein tiefer Schock – nicht nur für unsere ukrainischen Gemeindemitglieder, sondern auch für die russischen“ 

Vater Walerian ist mit seiner Familie vor sechs Jahren nach Deutschland gekommen, aus politischen Gründen: „Mein Sohn war in der Organisation von Alexej Nawalny aktiv“, erzählt er. Unsere ganze Familie hat Alexej Anatoljewitsch Nawalny unterstützt. Ich habe viele Bekannte in Nawalnys Stiftung zur Korruptionsbekämpfung und war Freiwilliger in einem seiner Stäbe. 2018 drohten sie meinem Sohn, meiner Frau und mir selbst mit Strafverfahren. Da wurde uns klar, dass wir gehen müssen.“ 

Auch Andrej Kordotschkin lebt jetzt in Deutschland. Er hat einen Bachelor in Theologie an der Universität Oxford gemacht und einen Magister im gleichen Fach an der Universität London. Nach 2002 wurde er Priester und diente als Vorsteher einer Gemeinde der Russisch-Orthodoxen Kirche in Madrid. Die Gemeinde war klein und national sehr gemischt; die meisten waren Ukrainer. Im Laufe von zwanzig Jahren wurde eine Kirche gebaut; die Gemeinde ist gewachsen. 

Vater Andrej Kordotschkin in einem T-Shirt der russischen Rockband DDT. Er betreut jetzt eine kleine Gemeinde in Tilburg in den Niederlanden, die von Gläubigen verschiedener Nationalitäten besucht wird / Foto © Vadim Braydov

„Der Beginn des Krieges war ein tiefer Schock – nicht nur für unsere ukrainischen Gemeindemitglieder, sondern auch für die russischen“, erinnert sich Kordotschkin. „Im Laufe der ersten Tage und Wochen wurde klar, dass es nicht nur um einen Einmarsch auf das Territorium eines anderen Staates geht, sondern auch um tiefgreifende und schnelle Veränderungen auf dem Gebiet Russlands. Die Gesetze wurden zielstrebig verändert und machten jetzt praktisch jede kritische Haltung zum militärischen Vorgehen zu einem Verbrechen. 

Auch in meiner Gemeinde kam es zu einer Spaltung. Allerdings verlief die nicht nach nationaler Zugehörigkeit. Sie war sehr viel tiefgehender und komplexer: Es gab in unserer Gemeinde Ukrainer, die die russische Regierung unterstützten. Und es gab auch eine Reihe von Russen, die nicht für den Einmarsch waren.“ 

Nicht nur in Russland werden Priester verfolgt. Es gibt auch im Ausland Gemeinden, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind 

Nach Informationen der Zeitung Nowaja Gazeta Europe haben seit dem 24. Februar 2022 bis zum Mai dieses Jahres 59 Priester wegen ihrer Haltung gegen den Krieg Repressionen von Seiten der Russisch-Orthodoxen Kirche oder des Staates erlitten. Und diese Zahl wächst. Von Seiten der Kirche wurde den Priestern untersagt, den Gottesdienst zu feiern, sie wurden ihrer Priesterwürde enthoben und aus den Reihen der Kirche entfernt. Von Seiten des Staates wurden ihnen wegen „Diskreditierung“ der Armee Geldstrafen auferlegt oder Strafverfahren gegen sie eröffnet. Priester wurden nicht nur in Russland verfolgt: Es gibt auch im Ausland Bistümer und Gemeinden der Russisch-Orthodoxen Kirche, die dem Moskauer Patriarchat unterstellt sind.  

Vater Andrej hat zwanzig Jahre in der Kirche der Heiligen Maria Magdalena in Madrid gedient. Im Februar 2023 wurde ihm für drei Monate untersagt, Gottesdienste zu zelebrieren. Und im Herbst reichte Kordotschkin dann ein Gesuch über die Entlassung aus dem Dienst ein. 

„Da ich nach Beginn des russisch-ukrainischen Krieges öffentlich auf eine Art Stellung bezogen habe, die mit der von der russischen Regierung verkündeten Position unvereinbar war, musste ich meine Gemeinde in Spanien Ende letzten Jahres verlassen“, berichtet er. 

Jetzt befindet sich Vater Andrej nicht mehr unter der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats, sondern unter der des Patriarchen von Konstantinopel. Seine Gemeinde befindet sich in den Niederlanden. 

„Das Jüngste Gericht erwartet jeden“ 

Gottesdienst der orthodoxen St. Nikolaus–Gemeinde in Düsseldorf. Die Gemeinde ist in der katholischen Sankt Josephskapelle im Stadtzentrum untergekommen / Foto © Vadim Braydov

„Das Jüngste Gericht erwartet jeden. Keine irdische Macht, kein Arzt, kein Wächter bewahrt vor diesem Gericht. In der Sorge um die Rettung jedes Menschen, der sich als Kind der Russisch–Orthodoxen Kirche begreift, wünschen wir nicht, dass jemand vor dieses Gericht tritt und mit einem mütterlichen Fluch belastet ist. Wir erinnern daran, dass das Blut Jesu Christi, das der Erlöser für das Leben der Welt vergoss, im Sakrament der Eucharistie von jenen, die mörderische Befehle erteilen, nicht zum Leben, sondern zu ewiger Pein empfangen wird. Wir sind in Trauer um die Prüfungen, denen unsere Brüder und Schwestern in der Ukraine ohne Schuld unterzogen werden.“ 

Das ist ein Auszug aus einem offenen Brief russisch-orthodoxer Priester „mit einem Aufruf zur Versöhnung und Beendigung des Krieges“. Initiiert wurde der bereits am 1. März 2022 veröffentlichte Brief von Andrej Kordotschkin. Bis heute haben ihn 293 Geistliche unterzeichnet, auch Vater Walerian. 

„Was soll man mit Menschen tun, die die Fakten leugnen? Für sie beten, weil sie fehl gegangen sind und der Lüge folgen“ 

„Ganz zu Beginn haben wir noch nicht verstanden, was vor sich geht. Es gab ja keine massenhafte Verfolgung von Priestern“, sagt er. „Dass wegen der Haltung gegen den Krieg Verbote ausgesprochen werden, Gottesdienst zu feiern oder die Priesterwürde entzogen wird, hatte noch nicht begonnen. Das begann alles 2023. Anfangs gab es spontanen Protest von Priestern, die sagten, dass der Krieg den Geboten, der Heiligen Schrift und dem Willen Gottes widerspreche. Es sei Frevel und Gotteslästerung, den Krieg mit geistlichen Begründungen zu rechtfertigen. Es gibt Menschen, die einen Krieg begonnen haben, und es gibt einen Staat, der den Krieg entfesselt hat. Es gibt Fakten, die das belegen. Was soll man mit Menschen tun, die die Fakten leugnen? Für sie beten, weil sie fehl gegangen sind und der Lüge folgen.“ 

Einige russische Priester predigen aggressiv den Krieg. Andrej Tkatschow zum Beispiel, der von einem heiligen Krieg spricht und sagt, wenn es den Krieg nicht geben würde, „wären wir alle zugrunde gegangen“. Oder Artemij Wladimirow, der im Fernsehsender Sojus von einer „wundersamen Heilung“ eines chinesischen Soldaten im Krieg erzählt, wo seinen Worten zufolge „der Chinese und seine Familie den orthodoxen Glauben annahmen und Jünger der Russisch-Orthodoxen Kirche wurden.“ 

„Es gibt aber auch das direkte Gegenteil“, sagt Vater Walerian: „Menschen, die ihrem Bekenntnis folgen und offen ihre Haltung gegen den Krieg kundtun. Sie gehen praktisch den Weg des Kreuzes und der Leiden. Es gibt viele Menschen, die fernab in den Regionen der Kirche dienen, etwa einer meiner Freunde. Er unterstützte nicht den Krieg und hat keinerlei Illusionen. Er ist mit Ukrainern befreundet und will das auch bleiben. Allerdings ist er noch nicht so weit, sich heldenhaft zu bekennen. Ihm ist klar, dass er dort, wo er sich jetzt befindet, mit seinen Möglichkeiten helfen kann und wird daher nicht in eine offene Konfrontation gehen. 

Er verliest zwar das Gebet über die Heilige Rus. Er versucht aber, in seinen Predigten nicht über Politik zu sprechen und niemanden zu etwas aufzurufen. Menschen wie diesen Freund kann ich nicht verurteilen. Das steht mir nicht zu, schließlich befinde ich mich in Sicherheit. Ich weiß, dass es in seinem Herzen kein Hass gegen die Ukraine und die Ukrainer gibt. Es stimmt, aus geistlicher Sicht sollte er das Gebet nicht lesen. Ich hoffe aber, dass der Herrgott ihm verzeiht.“ 

„Wir legen Zeugnis davon ab, dass sich nicht alle dem Teufel verschrieben haben“ 

Vater Walerian und Vater Andrej feiern regelmäßig den Gottesdienst in ihrem Düsseldorfer Exil in der St. Josephskapelle / Foto © Vadim Braydov

Die Gründer des Projekts Mir Vsem sammeln über die Plattform Saodno (dt.: Gemeinsam) Mittel für die Priester und helfen bei der Erlangung europäischer Visa für diejenigen, die das Land verlassen wollen. Diese sind, den Worten der Priester zufolge, jedoch in der Minderheit. Mit Erlaubnis der Priester werden ihre Geschichten auf der Internetseite von Mir Vsem veröffentlicht, in der Rubrik Bekenner

„Einigen ist es sehr wichtig, dass ihre Haltung gegen den Krieg öffentlich wird“, sagt Vater Walerian Dunin-Barkowski. „Wir veröffentlichen ihre Beiträge, wir geben ihnen eine Stimme. Unter jedem unserer Videos und Posts schreiben die Leute: ‚Wir haben ja nicht gewusst, dass es noch eine Geistlichkeit gibt, die den christlichen Prinzipien treu ist.‘ 

Für uns ist es eine existenzielle Frage: Wir legen Zeugnis davon ab, dass sich nicht alle dem Teufel verschrieben haben, sondern in diesen schweren Zeiten weiterhin ihren Glauben predigen. Für uns ist wichtig, dass diese Flamme in ihnen nicht erlischt, dass sie ihrerseits Menschen inspirieren, ihre Gemeinde, die sie nicht im Stich lässt. Dadurch bewahren wir dieses Licht des Friedens und der christlichen Liebe.“ 

Vater Wadim Perminow ist 48 Jahre alt. 27 Jahre schon trägt er die Robe. Er hat das Priesterseminar Tomsk absolviert. Nach der Schule hat er eine Weile als Tischler gearbeitet, bevor er dort eintrat. Wadim war Vorsteher einer orthodoxen Kirche in Kuibyschew (Oblast Nowosibirsk). Er ist einer der Priester, die sich weigerten, das Gebet über die Heilige Rus zu verlesen. Am 3. Juli wurde bekannt, dass ihm der Gottesdienst untersagt wurde. 

„Im März 2022 erging aus dem Patriarchat die Anordnung an alle Gemeinden über die verpflichtende Verlesung des Gebets über die Wiederherstellung des Friedens während der Gottesdienste, und wir haben gebetet“, erzählt er. „Und bereits im September ersetzte der Patriarch Kirill es durch das Gebet über die Heilige Rus. Im ersten Gebet wurde Frieden erbeten, im zweiten jedoch der Sieg.“ 

„Es ist unchristlich, vom Herrgott den Sieg in einem Bruderkrieg zu erbitten. Das wäre so, als ob Kain Gott um Hilfe bittet, während er dabei ist, seinen Bruder Abel zu erschlagen“ 

Den Worten des Priesters zufolge wussten die Gemeindemitglieder praktisch nichts über das neue Gebet, einige vermuteten allerdings etwas. Es gab ja Meldungen, dass Priester wegen ihrer Haltung gegen den Krieg ihrer Priesterwürde enthoben wurden. Einmal kamen Angehörige russischer Soldaten zu ihm und baten, dass regelmäßig für diese gebetet werde. Perminow war einverstanden, wandte aber ein, dass das kein Gebet für den Sieg der einen und die Niederlage der anderen sein werde. Vielmehr werde es um die schnellstmögliche Rückkehr der Soldaten zu ihren Familien und die Genesung der Verwundeten gehen. 

„Es ist unchristlich, vom Herrgott den Sieg in einem Bruderkrieg zu erbitten. Das wäre so, als ob Kain Gott um Hilfe bittet, während er dabei ist, seinen Bruder Abel zu erschlagen“, erklärt er. „Die Laien haben auf das Geschehen überwiegend so reagiert, wie es ihnen der Fernseher eintrichterte. Der ist hier stärker gewesen als das Evangelium. Ich habe nicht versucht, jemanden umzustimmen. Psychologen sagen, dass das nicht möglich ist, wenn jemand durch Propaganda vergiftet ist und weiter damit gefüttert wird. Das wäre genau so, als wolle man einem nichtgläubigen Menschen beweisen, dass es Gott gibt.“ 

Vater Wadim glaubt, dass irgendjemand aus der Gemeinde ihn denunziert hat. Als das Bistum im Frühjahr einen neuen Bischof bekam, lud dieser den Priester zum Gespräch vor. Perminow zufolge sei der Bischof dabei laut geworden und habe „merkwürdige Fragen“ gestellt: Warum er und seine ältesten Söhne nicht in der Armee gedient hätten? Warum seine Eltern keine echten, vollwertigen Kirchgänger seien, wo doch die Familie von der Gemeinde einen Unterhalt erhält, der über dem Existenzminimum liege? Warum er das Gebet des Patriarchen über den Sieg nicht verlese? Und schließlich, ob er gleichgeschlechtliche Ehen unterstütze? 

Vater Wadim Perminow will seine Heimat nicht verlassen. In seiner Gemeinde in Kuibyschew in Sibirien darf er nicht mehr Gottesdienst feiern / Foto: istories, YouTube

„Es wurde mir verboten, Gottesdienste abzuhalten, den Segen zu spenden und das Kreuz zu tragen. Mehr ist ihnen wohl nicht eingefallen“ 

„Zu meinen Argumenten, dass der Unterhalt eines Priesters nach der Anzahl der zu versorgenden Familienmitglieder berechnet wird, lachte er mir nur ins Gesicht“, erinnert sich Vater Wadim. „Auf jedes Familienmitglied entfallen rund 25.000 Rubel, das ist etwas mehr als das Existenzminimum in der Oblast Nowosibirsk. Der Bischof hielt das für ungerechtfertigten Luxus.“ 

Es kam der Moment, dass Perminow auf Druck des Bischofs einfach den Mund hielt. Nach dem Gespräch wurde er in ein Dorf versetzt. Dann schrieb der Priester eine offizielle Weigerung, „für den Sieg in einem Bruderkrieg zwischen orthodoxen Christen zu beten“. 

„Als ich der Metropolie Nowosibirsk und dem Patriarchat die offizielle Weigerung schrieb, dieses verfehlte Gebet des Patriarchen zu verlesen, fuhr ich noch weiterhin in die neue Gemeinde. Und dann trat der Diözesenrat des Bistums zusammen. Ich war beim Rat nicht dabei, da ist mir die Gesundheit wichtiger… Dort wurde ich freigestellt, es wurde mir verboten, Gottesdienste abzuhalten, den Segen zu spenden und das Kreuz zu tragen. Mehr ist ihnen wohl nicht eingefallen“, sagt er. 

Im Bistum erklärte man, dass Perminow der Gottesdienst verboten wurde, weil er „seine Vollmachten als Kirchenvorsteher missbraucht“ und „einen unberechtigt großen Unterhalt“ bezogen habe. Weiter hieß es: „Ja, es gab einen Moment, dass Besucher der Kirche sich zu Wort meldeten, weil Vater Wadim das Gebet über die Heilige Rus nicht gelesen hat. Es gab Äußerungen von ihm, die sich gegen die ‚militärische Spezialoperation‘ richteten. Das war aber nur eine der Fragen. Nicht die wichtigste.“ 

Im Text des Erlasses über das Gottesdienstverbot für Vater Wadim ist weder von Unterhalt noch von Missbrauch der Vollmachten die Rede: „Sie werden von den Pflichten des Vorstehers der Kirche des Heiligen Sergius von Radonesh im Dorf Ubinskoje (Oblast Nowosibirsk) entbunden, aus den Reihen des Bistums entlassen, und Ihnen wird die Feier der Heiligen Liturgie untersagt, weil Sie sich geweigert haben, den kanonisch festgelegten Gottesdienst zu halten und die Pflichten eines Kirchenvorstehers zu erfüllen.“ 

„Üblicherweise wird in derartigen Erlassen nicht als Grund genannt, dass das Gebet über die Heilige Rus nicht gelesen wurde. Es wird auf mangelnden Gehorsam gegenüber der kirchlichen Obrigkeit oder disziplinarische Gründe verwiesen“, sagt Perminow. „Im Erlass über die Versetzung in eine dörfliche Gemeinde wurde überhaupt kein Grund genannt; einfach eine Versetzung ohne Angabe von Gründen. 

Im Dorf Ubinskoje [wo sich die neue Gemeinde befand] habe ich den Unterhalt nur einmal erhalten: 30.000 Rubel für die ganze Familie. Eine entlegene dörfliche Gemeinde ist nicht in der Lage, eine Familie mit mehreren Kindern mit finanziellem Unterhalt zu versorgen. Daher konnte ich an Werktagen die Kirche nicht aufsuchen und versuchte in der Stadt, in einem weltlichen Beruf Geld zu verdienen. Ich habe mich nicht geweigert, Gottesdienste abzuhalten, wie dort geschrieben steht. Wir haben zusammen mit den Gemeindemitgliedern gebetet, die heiligen Gaben empfangen, Oblaten backen gelernt. Ich habe getauft, Trauermessen gelesen, die Strafkolonie besucht.“ 

„Solidarität gibt genauso viel Kraft wie das Gebet“ 

Wie Vater Walerian berichtet, verlieren die meisten Priester, die mit Verboten belegt sind, ihren Lebensunterhalt. Die Mehrheit von ihnen braucht Zeit, einen neuen Beruf zu erwerben und ein weltliches Leben zu beginnen. In dieser Phase hilft Mir Vsem. So geschah es auch mit Wadim Perminow. 

„Auf der Internetseite von Mir Vsem gab es einen Artikel über einen mit Verboten belegten Priester; da habe ich in den Kommentaren geschrieben: ‚Mich hat man gestern auch entlassen und unter Verbot gestellt‘ “, erzählt Wadim darüber, wie er das Projekt kennenlernte. „Vater Andrej Kordotschkin bat mich in seiner Antwort, meine Geschichte zu erzählen. Auch Vater Walerian schrieb mir, der Mitbegründer der Organisation. Daraufhin hatte ich etwa 400 neue Abonnenten auf meinem Telegram-Kanal. Ich hatte noch nie derartige Worte der Unterstützung gehört. Eine solche Solidarität gibt genauso viel Kraft wie ein Gebet. Ich habe ein wenig finanzielle Unterstützung bekommen, weswegen mich die ‚Patrioten‘ schon des Verrats und der Käuflichkeit beschuldigt haben.“ 

Vater Walerian meint, das größte Problem seien jene, die Priester, die gegen den Krieg sind, denunzieren: „Das Umfeld ist das Problem: Gibt es dort einen Judas, einen Verräter, oder nicht? In dieser Hinsicht hat sich seit 2000 Jahren nichts geändert.“ 

Vater Andrej Kordotschkin hat die Organisation Mir Vsem gegründet, weil es sonst niemand gab, der Priester unterstützte, die von ihrer Kirche verstoßen wurden / Foto © Vadim Braydov

Von offiziellen Vertretern der Russisch-Orthodoxen Kirche erhalten die gegen den Krieg eingestellten Priester keine Unterstützung. Nach dem offenen Brief erklärte Wachtang Kipischidse, der stellvertretende Vorsitzende der Abteilung des Moskauer Patriarchats für die Beziehungen der Kirche zur Gesellschaft und den Medien, dass in dem Schreiben mit dem Aufruf eine Gefahr enthalten sei, weil die Unterzeichner versuchen, „Konflikte zu schüren“. 

„Die Kirche wird nicht Teil einer politischen Opposition werden, weil sie jenseits der Politik steht. Sie befindet sich auf der Seite des Volkes, sie befindet sich auf der Seite jener, denen sie ihre pastorale Fürsorge gewähren muss. Und unter diesen Menschen stehen Militärangehörige nicht an letzter Stelle“, erklärte er. 

„Wenn gesagt wird, die Popen mischen sich in die Politik ein, ist das oft ein schlecht maskierter Versuch, den Menschen den Mund zu verbieten.“ 

Vater Andrej Kordotschkin widerspricht dem: „Die Kirche ist keine Partei, wo die da oben im Namen der da unten sprechen. In ihr haben alle eine Stimme: Priester wie Laien, und auch jene Leute, deren Ansichten von der offiziellen Position abweichen. Es gibt die verbreitete Ansicht, dass die Kirche sich nicht in die Politik einmischen dürfe.  

Wenn wir von Politik als Kampf um die Macht sprechen, so kann die Kirche in diesem Spiel natürlich nicht als Akteur auftreten. Wenn wir aber von Politik als aktiver Beteiligung am Leben des Landes sprechen, und von der Kirche nicht nur als einer administrativen Struktur, sondern einer Gemeinschaft von Menschen, so gibt es keinerlei Grund, warum die Menschen nicht am Leben ihres Landes teilhaben sollen. Wenn gesagt wird, die Popen mischen sich in die Politik ein, ist das oft ein schlecht maskierter Versuch, den Menschen den Mund zu verbieten.“ 

In der Kirche sollten alle eine Stimme haben, Priester wie Laien, findet Vater Andrej / Foto © Vadim Braydov

Der Priester meint, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche bereits gespalten sei. Es gebe dort keine „totale Unterstützung für die Diktatur und den Krieg, obwohl der offizielle Diskurs mit dem des Staates übereinstimmt.“ Das werde längst nicht von allen Laien und Priestern geteilt. Eines der Ziele des Projektes Mir Vsem bestehe darin, das zu zeigen. Damit nicht nur die bekannten, öffentlich auftretenden Priester zu Wort kommen, sondern auch jene fernab in den Regionen. Allerdings bitten viele von ihnen, da sie sich weiterhin in Russland befinden, dass ihre Namen und Lebensgeschichten nicht genannt werden. Sie wollen nicht unter noch größeren Druck von Seiten kirchlicher oder staatlicher Institutionen geraten. 

„Ich bin von der Standhaftigkeit derjenigen beeindruckt, die uns aus abgelegenen Regionen schreiben“, sagt Andrej Kordotschkin. „Diese Menschen können nicht mit Medienpräsenz und damit auch nicht auf größere Unterstützung rechnen. Joseph Brodsky erinnerte sich, wie er im Zug in ein Dorf bei Archangelsk unterwegs war, wohin er wegen ‚Schmarotzertums‘ verschickt wurde. Dabei traf er einen Menschen, der mit ihm verlegt wurde. Das war ein Bauer, der wegen einer Nichtigkeit verurteilt worden war. Brodsky schreibt, dass niemand dessen Namen kannte und deshalb niemand ihm je helfen konnte. 

Für einen Priester in der Provinz ist es schwierig, für sich und seine Familie eine andere Unterhaltsquelle zu finden. Und es sind Menschen, die oft nicht zu einer Emigration bereit sind. Sie haben eine große Familie, viele Kinder, und sie können sich nicht so recht vorstellen, in einem anderen Land zu leben. Ihr Mut begeistert mich. Diesen Leuten helfen wir über die Plattform Saodno.“ 

Die Organisation ist jetzt dabei, sich als juristische Person in Deutschland registrieren zu lassen. Die Gesprächspartner von OVD-Info berichten, dass keiner der Gründer der Organisation Geld für seine Arbeit bekommt, und dass das Projekt in dieser Zeit auch keine Fördermittel erhielt. Es lebt von privaten Spenden. 

Eine vertraute Hierarchie 

„Es hat sich herausgestellt, dass der Fernseher stärker ist als das Evangelium“, sagt Vater Wadim Perminow resigniert. In der St. Nikolaus-Gemeinde in Düsseldorf hat die Heilige Schrift noch Wirkung / Foto © Vadim Braydov

„Leider kamen in den 2000er Jahren, als die Personalstärke der Streitkräfte zurückgefahren wurden, kamen viele ehemalige Offiziere des Militärs zur Kirche“, erzählt Walerian. Die haben ein System des Gehorsams verinnerlicht: Was der Chef sagt, das ist richtig. Die sind nur sehr schwer von etwas anderem zu überzeugen: Der Patriarch sagt, man müsse für den Krieg sein, also sind sie für den Krieg. Für sie ist das eine vertraute Hierarchie: Es gibt Generäle und den Oberkommandierenden. Ich kenne viele Priester, die ehemalige Militärs sind. Viele von ihnen unterstützen tatsächlich die „militärische Spezialoperation“ und „unsere Jungs“. Das ist für sie ganz selbstverständlich. Nur haben sie übersehen, dass das absolut dem Evangelium widerspricht.“ 

Andrej Kordotschkin erinnern die Repressionen im heutigen Russland zum Teil an die Situation in der Sowjetunion: „Erinnern wir uns nur an markante Figuren wie Vater Alexandr Men: Wenn die Menschen damals nicht zu Protesten auf die Straße gingen, bedeutete das absolut nicht, dass sie den Diskurs teilten, unter dem sie sich befanden. Der kirchliche Untergrund, den es in der UdSSR gab, den gibt es auch jetzt. Es ist noch nicht genug Zeit vergangen, um zu vergessen, wie man das macht.“ 

Vater Wadim Perminow, dem Mir Vsem seit kurzem hilft, hat bereits angefangen, eine Umschulung zu machen. Nachdem er in das Dorf kam, hat er werktags Arbeit gesucht. Sonntags fuhr er über hundert Kilometer mit dem Auto seines Vaters zu den Gottesdiensten. Seine Familie hat kein eigenes. So ging es bis zum Verbot. Die Familie hat fünf Kinder. Sie haben nicht vor, das Land zu verlassen. 

„Ob ich mich vor 2022 mit dem politischen Geschehen beschäftigt habe? Natürlich!“, sagt er. „Ich war Anhänger von Solowjow, Kisseljow und Skabejewa. Ich habe keine einzige Sendung verpasst. Als ich aber dann mal einen Recherchefilm von Alexej Nawalny sah, habe ich den Fernseher für immer ausgeschaltet. 

Ich erinnere mich an die Meldung, dass russische Truppen die Grenze zur Ukraine überschritten haben. Das konnte ich für mich im Kopf nicht klarkriegen, habe aber geschwiegen. Mein Schweigen war nicht mit Angst verknüpft. Die ganze Zeit versuchte ich, die Informationen zu verarbeiten, war Beobachter. Mit den Gemeindemitgliedern habe ich das nicht diskutiert und vom in meinen Predigten bat ich nur um eines, nämlich den Fernseher auszuschalten. Weil die Gemeindemitglieder über eine unerklärliche Gereiztheit und Schlafstörungen klagten.“ 

Von den Priestern haben nur drei angerufen und ihn unterstützt. Sein geistlicher Vater war nicht dabei. Perminow führt weiter seinen Telegram-Kanal Kainsker Pavillon

„Die Gemeindemitglieder verhalten sich wie immer und überall. Sie werden laut, sie klagen, und dann gewöhnen sie sich an alles. Auf die Frage ‚Wie geht’s?“ würde ich mit einer Zeile von Puschkin antworten: ‚Mir ist so schwer und leicht ums Herz, licht ist mein Schmerz‘.“

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Russisch-Orthodoxe Kirche

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

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Patriarch Kirill

Vor elf Jahren, am 27. Januar 2009, wurde Kirill zum Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche gewählt. Als solcher setzte er sich für ein stärkeres soziales Engagement der Kirche und eine bessere Klerikerausbildung ein. Gleichzeitig geriet er aufgrund der Annäherung der Kirche an den Kreml und mehrerer Korruptionsskandale in die Kritik. 

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Dimitri Kisseljow

Der Journalist Dimitri Kisseljow spielt im gelenkten russischen Staatsjournalismus eine zentrale Rolle. 2008 wurde er Vizedirektor der staatlichen Medienholding WGTRK. Seit 2014 leitet er die staatliche Nachrichtenagentur Rossija Sewodnja.

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Joseph Brodsky

Joseph Brodsky: eine Ikone und viel zu früh gestorben – am 28. Januar vor 25 Jahren. Eine Gnose über den Dichter und die Sowjetunion und die Dichtung und die Sprachen. Von Zakhar Ishov.

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Wladimir Solowjow

Wladimir Solowjow ist seit Jahren einer der einflussreichsten Akteure der kremltreuen Medienwelt Russlands. Er profiliert sich vor allem als Scharfmacher, der Olaf Scholz als „Motte“ bezeichnet und Deutschland mit Krieg droht.

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Russisch-Orthodoxe Kirche

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist die christliche Kirche mit der größten Glaubensgemeinschaft in Russland. Prägend für ihr Verhältnis zum russischen Staat ist das von der byzantinischen Mutterkirche übernommene Ideal der Symphonie, das heißt einer harmonischen Beziehung zwischen Staat und Kirche. Vor 1917 galt die Orthodoxie neben der Autokratie und dem „Volk“, genauer: einem volksverbundenen Patriotismus, als eine der wichtigsten Stützen des russischen Staates und des Zarenreichs – eine Traditionslinie, die heute wieder wirksam scheint.

Im zaristischen Russland waren staatliche und geistliche Macht stark miteinander verflochten. So wurden der Herrschaftsanspruch und die Legitimität des Zaren direkt von Gott abgeleitet und der neue Zar entsprechend in festlichen Gottesdiensten in sein Amt eingeführt. Administrativ war die Kirche Teil des Staatsapparats, so wurden etwa die Personenstandsakten von der Kirche geführt. Diese Privilegierung der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) – auch gegenüber anderen Religionsgemeinschaften im multireligiösen Zarenreich – ging dabei Hand in Hand mit zahlreichen Eingriffen in innere Angelegenheiten der ROK. Maßgebliche Kreise der ROK begrüßten daher die Abdankung des Zaren im Februar/März 1917 und sahen darin die Chance für eine größere Autonomie ihrer Kirche.

In der Sowjetunion versuchten die kommunistischen Machthaber zunächst, „fortschrittliche“ Geistliche, die teils für Kirchenreformen stritten, teils auch sozialistischen Ideen anhingen, gegen „reaktionäre“ Geistliche auszuspielen, bevor der Terror in den 1930er Jahren gleichermaßen Anhänger dieser sogenannten „Erneuererbewegung“ wie auch der Patriarchatskirche traf. Trotz dieser katastrophalen Erfahrungen riefen unmittelbar nach dem deutschen Überfall die wenigen überlebenden und noch in Freiheit befindlichen kirchlichen Würdenträger zur Verteidigung des – sowjetischen – Vaterlandes auf und initiierten Spendensammlungen.

Im Herbst 1943 revanchierte sich Stalin mit einer Neuausrichtung der staatlichen Kirchenpolitik, wobei auch außenpolitische Überlegungen zur Neugestaltung Europas maßgeblich waren und der ROK, wie auch anderen Religionsgemeinschaften in der Sowjetunion, eine Rolle als außenpolitischer Akteur zugedacht wurde. Dies bedeutete, dass nach den massiven Angriffen und Verfolgungen die ROK nun wiederum zu einem Instrument staatlicher Politik wurde und entsprechend gesteuert werden musste.

So wurde im Herbst 1943 – nach mehrjähriger Vakanz – die Wiederwahl eines Patriarchen forciert und zugleich ein staatlicher „Rat für die Angelegenheiten der Russisch-Orthodoxen Kirche“ eingerichtet, der als Vermittler der staatlichen Kirchenpolitik galt und zugleich eine Steuerungs- und Kontrollfunktion hatte. Anders als etwa in Polen oder der DDR bot die ROK aufgrund dieser spezifischen historischen Prägungen kein schützendes Dach für etwaige oppositionelle oder dissidentische Aktivitäten. Stattdessen bewegten sich christliche Andersdenkende eher in Strukturen jenseits der ROK.

Nach dem Ende der Sowjetunion erfuhr die ROK als Träger (ethnisch-) russischer Identität sowie moralischer Werte großen Zuspruch. Dem taten auch regelmäßig auftretende Skandale wenig Abbruch, die mit der zeitgleich stark wachsenden engen Verflechtung von Staat und Kirche einhergingen. So galt etwa der seit 2009 amtierende Patriarch Kirill (Gundjajew) in den 1990er Jahren als „Tabak-Metropolit“, der mit dem Verkauf zollfrei importierter Zigaretten zu Reichtum kam.1 Außerdem gehört es zum guten Ton, dass führende Politiker des Landes öffentlichkeitswirksam die Kirche aufsuchen und eigene Gottesdienste zur Amtseinführung des Präsidenten gefeiert werden. Die Russisch-Orthodoxe Kirche bietet in dieser Perspektive der Tradition des russischen Zarenreichs erneut eine nützliche Ideologie, die den Staat zusammenhält.

Vor diesem Hintergrund bewerten viele Beobachter die ukrainischen Bemühungen zu einer Loslösung von der ROK auch als eine Bedrohung für das geopolitische Selbstverständnis des Kreml. Denn mit der Einschränkung der geistlichen Deutungshoheit über die Ukraine wird auch der Anspruch des Kreml auf die eigene „Interessensphäre“ in dem Land zunehmend fraglicher.


1.Neue Zürcher Zeitung: Angekratztes Image. Patriarch Kyrill hat ein Problem
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)