Alle paar Jahre rauschen aufsehenerregende Fälle häuslicher Gewalt und Protestwellen dagegen durch Russland. 2016 berichteten Zehntausende per Internet-Flashmob #ЯнеБоюсьСказать (#IchhabkeineAngstzusprechen) von ihren Gewalterfahrungen. Doch 2017 wurden mit Verweis auf „traditionelle Werte“ die Strafen für häusliche Gewalt gesenkt. 2018 machte der Fall Chatschaturjan Schlagzeilen, in dem drei Schwestern ihren Vater ermordet haben sollen, der sie jahrelang misshandelt hatte.
Seit Russlands umfassendem Überfall auf die Ukraine nun werden immer mehr Fälle von gewalttätigen Übergriffen bis hin zu Morden durch Soldaten bekannt, die von der Front zurückkehren. Doch diesmal scheint die Regierung das Thema selbst angehen zu wollen, bevor es zu hohe Wellen schlägt. So haben im Juni 2024 gleich zwei Parteien Gesetzesentwürfe vorgelegt, die das Problem der häuslichen Gewalt lösen wollen.
In der Gesellschaft kommt dieser Vorstoß gut an: Umfragen zufolge unterstützt eine deutliche Mehrheit von 89 Prozent solch ein Gesetz gegen häusliche Gewalt: 95 Prozent der Frauen, 83 Prozent der Männer. Dennoch ist mit Stand Ende Dezember 2024 in einem halben Jahr nichts weiter mit den Gesetzesentwürfen passiert.
Das russische Onlinemedium Glasnaja, das sich auf soziale und Frauen-Themen spezialisiert, hat mit Expertinnen gesprochen, um herauszufinden, wie effektiv diese Vorschläge im Kampf gegen häusliche Gewalt wirklich sein könnten, würde man sie in der vorliegenden Form umsetzen. Einige Gesprächspartnerinnen werden aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt.
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Im Juni 2024 haben russische Abgeordnete und Beamte überraschend angefangen, sich aktiv zum Problem der häuslichen Gewalt zu äußern. So legten die Parteien LDPR und Nowyje Ljudi Gesetzentwürfe vor, die dieses Problem lösen sollen. Nebenbei nahmen sie sich darin auch den Schutz von Männern vor häuslicher Gewalt vor. Die Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa rief zudem dazu auf, überall im Land staatliche Krisenzentren einzurichten.
„Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“
Dieses neue staatliche Interesse am Problem der häuslichen Gewalt könnte, so die von Glasnaja befragten Expertinnen, mit der um sich greifenden Diskussion über Gewaltverbrechen und Mordfälle an Frauen durch Militärangehörige zusammenhängen, die aus der Ukraine zurückkehren.
„Der Elefant im Raum lässt sich nicht verstecken“, meint eine Menschenrechtsaktivistin. „Die Behörden haben wohl beschlossen, das Problem selbst in die Hand zu nehmen, anstatt den Anstieg von Gewalt durch Militärangehörige und Zivilisten einfach totzuschweigen.“
Es gibt aber auch andere Erklärungsansätze: So mutmaßte beispielsweise Verstka, der Kreml könnte Staatsbediensteten erlaubt haben, das Thema für PR-Zwecke und zum „Ruhigstellen der Gesellschaft“ zu nutzen. Dabei soll der Russisch-Orthodoxen Kirche, dem Hauptgegner des Gesetzes über häusliche Gewalt, zugesichert worden sein, dass man derartige Gesetzesinitiativen abprallen lassen würde. Auf jeden Fall wollen die Behörden wohl verhindern, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, die zunehmende Gewalt in russischen Familien sei auf die Rückkehr von Soldaten aus der Ukraine zurückzuführen. Verstkas Quellen zufolge soll der Kreml Politikern untersagt haben, solche Fälle öffentlich zu erwähnen.
Zwei Expertinnen betonten gegenüber Glasnaja aber auch, dass die Gesetzesentwürfe von LDPR und Nowyje Ljudi tatsächlich keine konkreten Vorschläge enthalten, um Gewalt durch Militärangehörige mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu verhindern oder ihnen vorzubeugen.
Männerschutz statt „radikalem Feminismus“
Warum in dem Entwurf nicht nur Frauen vor häuslicher Gewalt geschützt werden sollen, erklärte die Koautorin des Entwurfs, Sardana Awksentjewa von Nowyje Ljudi, folgendermaßen: „Ich glaube, es wird deutlich, dass der Gesetzentwurf nichts mit ‚radikalen Feministinnen‘ zu tun hat. Wie Sie sehen, können auch Männer Opfer von Übergriffen werden.“ Als Beispiel nannte sie den Fall des 37-jährigen Anton Jegowzew aus der Nähe von Moskau, der am 7. Juni im Treppenhaus seines Wohnhauses durch acht Messerstiche getötet wurde. Dem Aktivisten der Bewegung Sow narodow [Ruf der Völker], die traditionelle Werte propagiert, hatte ein Mann aufgelauert, der seit mehreren Jahren Jegowzews Ehefrau nachstellte. Laut ihrer Aussage hatte die Polizei bis dahin sämtliche Anzeigen ignoriert. Auch im LDPR-Entwurf ist die Rede davon, dass man Männer vor häuslicher Gefahr schützen müsse.
Unabhängige Frauen- und Menschenrechtsbewegungen sprechen bereits seit Jahren über das Problem der häuslichen Gewalt gegen Frauen. Eine Aktivistin sagte im Gespräch mit Glasnaja: Die Kritik an „radikalen Feministinnen“ sei auf das Bestreben des Staates zurückzuführen, sich die Agenda der verwundbaren Position der Frauen in der Familie zu eigen zu machen. Dieselben Ideen würden nun „von Leuten verbreitet, denen der Staat vertraut und die er kontrolliert“.
„Die Distanzierung von ausländischen Agenten und all jenen, die der Staat diskreditiert, erhöht die Chance, dass das Gesetz tatsächlich verabschiedet wird. Ich glaube nicht, dass auf diese Weise ein fiktives System geschaffen wird. Es ist schon gut, dass sie die Dinge endlich beim Namen nennen“, meint die Menschenrechtsaktivistin.
Andererseits könnte der Akzent auf dem Schutz der Männer auch von vornherein dem patriarchal gesinnten Teil der Gesellschaft die Luft aus den Segeln nehmen. Denn der wäre sicher auch gegen den Gesetzentwurf, selbst wenn er vom Staat initiiert würde, führt sie aus.
Mit diesem Fokus auf Männerschutz ignorierten die Abgeordneten schlicht die Realität, meint wiederum die Juristin und Expertin für geschlechtsspezifische Gewalt, Darjana Grjasnowa. Obwohl nach internationalen Standards, die in der Istanbul-Konvention festgelegt sind, häusliche Gewalt durchaus Menschen aller Geschlechter betrifft, seien Frauen doch „unverhältnismäßig stark betroffen“, betont die Anwältin.
„Rein populistischer Schachzug“
Von den beiden vorgeschlagenen Gesetzesentwürfen befasst sich nur die Initiative von Nowyje Ljudi auch mit dem Problem des Online- und Offline-Stalkings. Grjasnowa verweist diesbezüglich auf die internationalen Standards zum Schutz von Frauen vor Belästigung:
- Stalking ist eine Straftat.
- Schutzmaßnahmen und einstweilige Verfügungen müssen das Opfer sofort schützen können.
- Das Opfer muss umfassende Unterstützung erhalten können.
In seiner momentanen Form entspricht der Gesetzentwurf diesen internationalen Standards allerdings nicht, so Grjasnowa.
Um auf ihre Initiative aufmerksam zu machen, hat Nowyje Ljudi die Initiative Stalkingu net [Nein zu Stalking – dek] ins Leben gerufen: Betroffene sollen den Abgeordneten hier per detaillierter Nachricht ihren Fall schildern, damit diese „die Situation verstehen und helfen können“.
Glasnaja hat eine Expertin gebeten, sich die Plattform genauer anzuschauen. Sie kam zu dem Schluss, dass es sich „nicht um ein Arbeitsinstrument mit transparenten Methoden, sondern um eine rein populistische Aktion“ handele. Unter anderem bemängelte sie, dass man auf der Internetseite keine Informationen zu den Experten und deren Kompetenzen finde, die in das Projekt involviert sind.
„Wir haben lange gezweifelt, ob es nach dem 24. Februar [2022, Tag des vollumfänglichen Angriffs Russlands auf die Ukraine – dek] überhaupt vorstellbar ist, dass wir wieder über ein Gesetz gegen häusliche Gewalt sprechen. Aber anscheinend will man doch eine gesellschaftliche Diskussion auslösen, damit es irgendwie damit weitergeht“, resümiert die Menschenrechtlerin.
Nur Schutz für feste Familien
Im Juni dann verkündete Leonid Sluzki, Vorsitzender der LDPR und früher einmal selbst der sexuellen Belästigung beschuldigt, dass ein Gesetzentwurf zur „umfassenden Regulierung häuslicher Gewalt“ der russischen Regierung und dem Obersten Gericht zur Begutachtung vorgelegt worden sei. Allerdings erntete auch diese Initiative bei Experten Skepsis.
Das wichtigste Manko bestehe darin, so die Anwältin Grjasnowa, dass es nur um Familienmitglieder und Paare mit Kindern gehe: „Dem Entwurf zufolge ergeben sich familiäre Beziehungen aus der Beziehung zwischen Eheleuten, Eltern und Kindern sowie aus der Verbindung von Personen, die ein gemeinsames Kind haben und zusammenleben. [Durch diese Formulierung] fallen ehemalige Ehegatten und Partner, die keine Kinder haben, [aus der Schutzregelung] heraus.“
Der Gesetzentwurf erstreckt sich außerdem nicht auf kinderlose Frauen, die in einer nicht registrierten Beziehung leben, und auch nicht auf geschiedene Frauen, die den ehemaligen Gatten nach Auflösung der Ehe häuslicher Gewalt beschuldigen. Dabei meldeten laut Statistiken für die Jahre 1996 bis 2002 (aktuellere Daten gibt es nicht) Frauen in Russland öfter Gewalt durch Ehepartner, die nach der Scheidung erfolgt. Nach einer Statistik des Zentrums Nasiliu.net (Nein zu Gewalt) werden 40 Prozent der Gewaltverbrechen in Russland in der Familie begangen.
Ein weiteres Detail: Die Initiative der LDPR sieht vor, das Opfer vom Aggressor zu isolieren und nicht umgekehrt – den Aggressor vom Opfer, wie es in internationalen Dokumenten empfohlen wird, betont Grjasnowa. Und die Juristin Mari Dawtjan ergänzt, dass eine Isolierung des Opfers die Betroffene noch vulnerabler macht. Erst recht, da Art und Weise der Isolierung im Gesetzentwurf nicht geregelt werden.
Höhere Strafen für Verbrechen in der Ehe
Gegenwärtig wird im Strafgesetzbuch und im Gesetzbuch über Ordnungswidrigkeiten die Verantwortung für Gewalttaten nur allgemein definiert – ohne Feststellung einer erhöhten Verantwortung dafür, wenn die Tat innerhalb der Familie verübt wurde. Die LDPR fordert nun eine stärkere strafrechtliche Verantwortung für Familienmitglieder.
Das würde bei einer Vergewaltigung folgendermaßen wirken: Die Vergewaltigung einer Ehefrau, Mutter oder Frau, mit der der Mann ein gemeinsames Kind hat, wird zu einem besonders schweren Fall, wodurch sich die Gefängnisstrafe erhöht. Derzeit kann für eine derartige Vergewaltigung eine Haftstrafe von drei bis sechs Jahren verhängt werden. Dem Gesetzentwurf der LDPR zufolge sollen solche Taten mit 15 bis 20 Jahren Freiheitsentzug bestraft werden.
Die Anwältin Grjasnowa erläutert am Beispiel Mord: „Mord zum Beispiel wird gemäß Paragraf 105, Absatz 1 des Strafgesetzbuchs mit Freiheitsentzug bis zu 15 Jahren bestraft. In Absatz 2 dieses Paragrafen werden die qualifizierenden Merkmale aufgelistet, aufgrund derer Strafen ausgesprochen werden können, die bis lebenslänglich reichen: bei hilflosem Zustand oder Schwangerschaft [des Opfers], bei Mord mit besonderer Grausamkeit oder auf gemeingefährliche Weise. Die LDPR will dieses Verzeichnis erweitern und Taten gegen Kinder, Eltern, Eheleute und Personen, mit denen der Täter ein gemeinsames Kind hat, in Absatz 2 aufnehmen, die dann mit bis zu lebenslanger Haft bestraft werden können.“
Eine Million für Verleumdung
Doch die Menschenrechtlerinnen kritisieren: Die Definition häuslicher oder sexualisierter Gewalt im Gesetzespaket der LDPR ist so schwammig, dass mehrere Arten der Gewalt, die in Russland verbreitet sind, unberücksichtigt blieben. Die Anwältin Dawtjan zählt auf: „Aus der Definition physischer Gewalt wurden Schläge herausgenommen, obwohl sie am stärksten verbreitet sind; und bei wirtschaftlicher Gewalt sind keine Bestimmungen zur Nichtzahlung von Alimenten enthalten.“
Gleichzeitig will die LDPR auch Verleumdung im Bereich der Familien- und Alltagsbeziehungen kriminalisieren. Das könnte einen sehr starken „Abkühlungseffekt“ haben, ist Darjana Grjasnowa überzeugt: „Selbst ein paar Verfahren, die eröffnet würden, nachdem Betroffene von ihrer Geschichte berichteten, dürften ausreichen, um sie für immer verstummen zu lassen.“
Die Strafe für Verleumdung soll eine Million Rubel bzw. das Arbeitseinkommen für bis zu einem Jahr oder gemeinnützige Arbeiten von bis zu 240 Stunden betragen.
Dabei können Betroffene auch jetzt schon wegen Verleumdung belangt werden: Es gibt ja den Paragrafen 128.1 des Strafgesetzbuches. Die Initiative der LDPR sei nun aber ein direkter Versuch, sowohl den Opfern wie auch den Menschenrechtlerinnen, die den Mut haben, über verübte Gewalt zu sprechen, den Mund zu stopfen, betont Grjasnowa.
Mangel an Frauenhäusern
Tatjana Moskalkowa, die Menschenrechtsbeauftragte beim russischen Präsidenten, hat bei ihrem jährlichen Bericht vor dem Föderationsrat vorgeschlagen, staatliche Krisenzentren (ähnlich Frauenhäusern – dek) einzurichten und diese aus dem Staatshaushalt zu finanzieren. Diese Praxis gebe es bereits in 16 Regionen.
In derselben Rede sagte Moskalkowa aber auch, dass die wenigen bestehenden staatlichen Zentren überlastet seien. Und sie berichtete, wie sie mit Kolleginnen zwei Moskauer Zentren für Opfer häuslicher Gewalt besucht habe und „sehr erstaunt“ gewesen sei, dass es in den Einrichtungen für 100 Personen keine freien Plätze gebe.
„Wenn man sich die Statistik der UNO in Erinnerung ruft, der zufolge jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen ist, wird deutlich, dass die staatlichen Zentren schlicht nicht die nötige Anzahl Betten bereithalten“, bestätigt die Anwältin Darjana Grjasnowa.
Die Standards des Europarates besagen, dass pro 10.000 Personen eine Familienschlafstätte bereitgehalten werden sollte – also ein Bett für die Mutter und ein Kind (oder mehrere Kinder, je nach der durchschnittlichen Anzahl der minderjährigen Kinder im Land). Legt man diesen Schlüssel für Russland an, müsste es hier mindestens 14.700 Plätze für Opfer häuslicher Gewalt geben.
2014 und 2015 gab es in Russland in 53 Regionen 95 staatliche oder private Frauenhäuser mit insgesamt 1.349 Plätzen. Das sind elfmal weniger als der Europarat empfiehlt. Sogar in Moskau werden zwölf Mal mehr Plätze für Frauen in Krisensituationen benötigt als jetzt in den städtischen Einrichtungen vorhanden sind (2400 statt jetzt 200).
Sicherheit nicht für alle
Einfach nur neue staatliche Frauenhäuser zu eröffnen, reicht nicht, um das Problem häuslicher Gewalt zu bewältigen. Auch die komplexen Hilfsangebote müssen verbessert werden, sagt Darjana Grjasnowa weiter. Beispielsweise werden Frauen in einigen staatlichen oder kommunalen Einrichtungen nur mit lokaler Meldebescheinigung und einem ganzen Paket von Dokumenten aufgenommen. Dazu gehören dann eine Überweisung vom Sozialamt, der eigene Pass, die Geburtsurkunde des Kindes, Ergebnisse einer Röntgenuntersuchung, der Impfpass oder eine Bescheinigung über die epidemiologische Umgebung von Mutter und Kind.
Im Moskauer Krisenzentrum zur Hilfe für Frauen und Kinder, von dem Moskalkowa wohl sprach, kann eine Frau in „auswegloser Lage" aber auch einfach so aufgenommen werden. Die notwendigen Dokumente kann sie dann nachreichen. In den übrigen Fällen entscheidet innerhalb von 60 Tagen eine spezielle Kommission über die Unterbringung.
In nichtstaatlichen Frauenhäusern hingegen erfolgt die Aufnahme in der Regel ohne viele Papiere. Sogar Frauen mit HIV können aufgenommen werden, wenn sie Prep-Tabletten nehmen – in den staatlichen Schutzhäusern gelten sie als Epidemie-Gefahr.