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„Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg“

Ob freiwillig gemeldet oder eingezogen, ob Schweißer oder Student, Großstädter oder Dörfler – sie alle hat Russlands Krieg gegen die Ukraine an diesem Ort versammelt. Wo die Raucherpause das Highlight des Tages ist und die Einnahme von Neuroleptika Routine: die psychiatrische Abteilung der russischen Militärkrankenhäuser. Dort werden Soldaten mit diversen Diagnosen – von Schizophrenie bis PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) – monatelang behandelt, bis die Medizinische Kommission entscheidet: ausmustern oder weiter kämpfen? Keiner will wieder an die Front. Manche sagen, da gehen sie lieber ins Gefängnis oder bringen sich um. 

Für das russische Onlinemedium Nowaja Wkladka, das sich auf Veränderungen im Alltag in den russischen Regionen seit dem Überfall auf die Ukraine spezialisiert, hat eine Autorin eine Woche als „Ehrenamtliche“ in solch einem russischen Militärhospital verbracht. Als Journalistin hätte sie keinen Zutritt bekommen.  

Alle Namen wurden geändert, um die beschriebenen Personen nicht zu gefährden. 

Quelle The New Tab

Im Eingangsraum, wo Passierscheine für Besucher ausgestellt werden, stehen zwei Männer und sieben Frauen. Eine darf nicht rein: Der Patient, den sie besuchen will, hat keinen Schein für sie beantragt. Die Frau schnappt wütend die Einkaufstüten vom Discounter, die vor ihr auf dem Boden stehen. 

„Das ist doch Schikane!“, ruft sie mit tränenerstickter Stimme. 

„Jetzt bloß nicht heulen“, sagt die Frau hinter ihr in der Schlange streng.  

„Ich heul ja nicht.“ 

Auf einmal knattert ein Maschinengewehr: Im Fernseher an der Wand läuft ein Kriegsfilm. 

 

„Man will nur noch kämpfen“ 

Das Krankenhaus versinkt im Grünen. Alle zwanzig Meter eine Bank, auf der Männer sitzen: Dem Einen fehlt ein Bein, dem Anderen ein Arm, der Dritte hat den Kopf einbandagiert. 

Am Eingang zur Psychiatrie rauchen die Patienten. Wer keinen Stuhl mehr bekommt, hockt sich auf ein Schaumstoffpolster auf dem Bordstein. Der Spezialschlüssel für die Station steckt in der Kitteltasche der Krankenschwester, die daneben steht und aufpasst. 

Ein langer, hell beleuchteter Korridor, schummrige Zimmer, in denen die Vorhänge zugezogen sind. Die meisten Patienten verbringen den ganzen Tag am Handy. Nachrichten über den Krieg lesen sie keine: „Es wird überall gelogen.“ Neben manchen Betten stehen Rollstühle und auf den Fensterbrettern Wasserflaschen. 

Auf der Psychiatrie sind etwa 80 Menschen, die meisten aus niedrigeren Rängen bis hin zu Unteroffizieren: Feldwebel, Gefreite, Leutnants. Manche sind erst seit kurzem hier, andere schon seit dem Frühjahr, als draußen noch Schnee lag. 

Die Patienten sind unterteilt in „verschärftes“ und „strenges Regime“. Erstere dürfen sich frei im Krankenhaus bewegen, Zweitere nur in Begleitung, damit sie sich und anderen nichts antun. Nach jedem Besuch kontrollieren die Schwestern die persönlichen Sachen der Patienten auf spitze und scharfe Gegenstände, Alkohol und Drogen. 

Als Ehrenamtliche begleitet man die „Strengen“ zu den Ärzten. Die Männer müssen sich auch einer militärärztlichen Untersuchungskommission unterziehen, die feststellt, ob sie weiterhin diensttauglich sind oder nicht. 

Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. 

Im Flur ist es stickig, die Gesichter der herumlungernden Patienten glänzen verschwitzt. Viele tragen uniforme gestreifte Pyjamas mit Aufdruck „Russische Armee“. 

Die Patienten beäugen mich finster. Ein großer, schlanker Kerl in Unterhemd und Jogginghosen bricht das Schweigen. Alexej – so sein Name – baut sich dicht vor mir auf und sieht mir von oben direkt ins Gesicht: 

„Ich bin kerngesund. Aber für die Gesellschaft bin ich nicht normal, genau wie die Gesellschaft für mich. Verpasst mir doch gleich eine Spritze, damit ich verrecke. Wenn ich hier rauskomme, wird die ganze Menschheit sterben.“ 

Alexej hängt sich ein weißes Handtuch um den Hals und zieht mit einem unheimlichen Grinsen daran: „Der Stoff ist feeest.“  

Er ist einer von den „Strengen“, und manchmal wirkt er wirklich wahnsinnig. Die meisten Patienten verhalten sich hingegen ziemlich normal: Sie reden mit mir, stellen Fragen, interessieren sich für das Leben „in Freiheit“. Sie alle sind auf Neuroleptika. 

Ich bringe Alexej und ein paar andere Patienten zur schapka (dt. Mütze) – so nennen die Patienten hier die Elektroenzephalografie [EEG, da wird die elektrische Aktivität des Gehirns gemessen und grafisch dargestellt – dek]. Neben mir läuft schweigend Sergej, ein Mann Ende zwanzig aus einer Stadt an der Wolga. Im Krieg war er Späher. Während er auf die schapka wartet, spielt er auf seinem Handy Schach. 

Ein junger Mann wird auf seinem Bett durch den Flur gerollt. Sein linkes Auge verdeckt eine Mullbinde, anstelle des rechten Arms hat er einen Stumpf. Auch der Rest seines schmalen, tätowierten Körpers ist einbandagiert. Er versucht, die verbliebene Hand zu einer Faust zu ballen, aber es geht nicht – im linken Ellbogen steckt ein Splitter. 

Als Nächster ist Ruslan dran, ein großer, stämmiger Kerl aus einer Republik im Nordkaukasus. Er wurde im September 2022 eingezogen; in der Psychiatrie ist er gelandet, weil er nicht mehr schlafen konnte. Er ist 28 Jahre alt. 

Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken,  
und die anderen in Ruhe lassen.

Auf die Frage, was sie gearbeitet haben, nennen alle Patienten sofort ihre Funktion im Krieg, als hätten sie kein Leben davor gehabt. „Leitender Chemiker“, antwortet Ruslan ohne Umschweife. „Chemiker“, erklärt er, seien die, die das Gelände von Minen befreien. „In Wirklichkeit war ich einfach im Sturmtrupp. Da hat dich keiner gefragt, wer oder was du bist. Man sagt dir stürmen, und du stürmst.“ 

Ruslan sagt, nach so einem Sturm wolle man „immer nur noch immer weiterkämpfen“. Das zivile Leben sei ihm seitdem zu langweilig. 

„Man sollte alle, die wollen, in den Krieg schicken, und die anderen in Ruhe lassen.“   

Ruslan sagt, er sei in den Krieg gezogen, weil er mobilisiert wurde und weil seine Brüder schon dort seien. 

 

Verloren in der Zeit 

„Fertigmachen zum Rauchen!“, ruft die Krankenschwester und schließt die Tür auf. 

Alle strömen zum Ausgang, auch die, die erst vor fünf Minuten draußen waren. Ihre Gummilatschen quietschen auf dem Linoleum. Im Flur riecht es nach Desinfektionsmittel, die Lüftung rauscht leise. Ein Priester kommt uns entgegen: Er besucht die, die die Kommunion empfangen oder auch einfach nur reden wollen. 

Pjotr Pawlowitsch geht nicht mit rauchen: Er liegt mit einer Kompresse am Kopf in seinem Zimmer. Es ist sehr heiß. Er muss zur schapka, hat aber keine Kraft. Die ganz Schwachen werden mit einem Krankenwagen zwischen den Gebäudetrakten hin und her gefahren. Der Krankenwagen ist sauber und ordentlich, wie frisch vom Werk. Vorne beim Fahrer läuft leise Musik. 

Schleichende Demenz: Die Erinnerungen kommen nie wieder. 

Wie er hier in der Klinik gelandet ist, weiß Pjotr Pawlowitsch nicht mehr. Vielleicht war es im Herbst. Oder Frühjahr. Er studiert aufmerksam mein Gesicht und sagt: „Wir haben uns schon mal irgendwo gesehen.“ Er hat blaue Augen und lächelt abwesend; ich schätze ihn auf ungefähr 60. Er wirkt desorientiert, beim Laufen muss er sich an den Wänden abstützen. Mehrfach sagt er besorgt, er habe seine Papiere nicht dabei. Als wir die Treppe hinaufgehen, hakt er sich vorsichtig bei mir unter. 

Pjotr Pawlowitsch stammt aus einem Dorf in Zentralrussland. Bevor er sich freiwillig zum Krieg meldete, war er Schweißer. Abends finde ich sein Profil auf Odnoklassniki. Den Fotos nach war er passionierter Angler, der gern mit seinem Fang posierte. 

„Wie sind Sie hier in unserer Gegend gelandet? Zugeteilt? Ein Verlobter?“, fragt Pjotr Pawlowitsch schelmisch. Ihm ist nicht bewusst, dass er Hunderte Kilometer von seinem Zuhause entfernt ist. Immerhin gibt er zu, dass er vergessen hat, welches Jahr wir haben. „2024“, erinnere ich ihn. 

Entsetzter Blick. Er denkt, das sei ein Witz. 

Später erzählt mir die Krankenschwester, dass Pjotr Pawlowitsch Alkoholiker ist. Er habe eine schleichende Demenz, seine Erinnerung werde vermutlich nie wiederkommen. 

Während sie die Medikamente auf Plastikdöschen verteilt, schallen aus einem Zimmer Schüsse herüber: Ein Patient spielt Ballerspiele auf dem Notebook (die Patienten dürfen ihre Handys und Laptops auf die Station mitbringen). 

 

„Weil ich bescheuert bin“ 

„Strenges Regime, aber schwach“, sagt die Krankenschwester über den 55-jährigen Wladimir. Ausgeblichenes T-Shirt, strahlend blaue Augen, die nicht zu seinem abgestumpften, verlorenen Blick passen. Wladimir warnt mich vor, er sei nach einem Knalltrauma auf dem linken Ohr taub. 

Vor dem Krieg war Wladimir Lastwagenfahrer im russischen Fernen Osten. Für eine mehrtägige Fahrt nach Jakutien bekam er um die 220.000 Rubel [umgerechnet ca. 2.080 Euro – dek]. Den Vertrag bei der Armee unterschrieb er 2023, nach eigener Aussage aus patriotischen Beweggründen. Im Krieg – wojnuschka, wie er verniedlichend sagt – war er Minenräumer. Wie eine Mine funktioniert, habe er bei YouTube gelernt: „Ich habe einfach nach ‚Minen entschärfen‘ gesucht.“ Im Trainingslager habe man ihnen lediglich Poster mit verschiedenen Granatenmarken gezeigt, bevor sie an die Front geschickt wurden. 

In der Oblast Saporishshja, wo er im Einsatz war, hätten ihnen die Kommandeure verboten, mit Einheimischen zu sprechen. 

„Ich habe am Anfang auch gedacht, dass da lauter Banderowzy sind. Dann hab ich welche näher kennengelernt – die sind genau wie wir, keine Banderowzy! Wir haben eine Weile ein Haus von den Leuten da gemietet. Na ja, was heißt gemietet, wir haben da einfach gewohnt. Der Nachbar hat uns Eier für 50 Rubel [ca. 50 Cent – dek] das Stück verkauft, brachte Grünzeug aus seinem Garten.“ 

Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg.

Wladimir erinnert sich, wie sie gleich in den ersten Tagen im freien Feld abgesetzt wurden. Die Kommandeure hätten ihnen befohlen, Erdbunker zu bauen, und sie einfach zurückgelassen. 

„Wir hatten nicht einmal Spaten. Wir waren 20 Mann, jeder gab 5.000 [Rubel, ca. 50 Euro – dek] dazu, dann sind wir los, kauften einen Generator, eine Kettensäge, Schaufeln und fingen an zu graben.“ 

Auf die Drohnen, erinnert sich Wladimir, zielten sie mit Maschinengewehren: „Drohnenabwehr hatten wir nicht, die kostet eine halbe Mille.“ Dann landete Wladimir in einem „Säufertrupp“. 

„Sie soffen, ließen ihre Gewehre überall liegen, und ich sammelte sie ein und räumte sie auf. Die Magazine sind schwer, wenn du sie in die Taschen steckst, zieht es dir fast die Hosen aus. Wenn du überleben willst, trinkst du nicht im Krieg. Einmal habe ich im Verteilungspunkt was getrunken, und plötzlich – Luftalarm. Ich steh da und merke, dass ich in diesem Zustand zu nichts in der Lage bin. Wer säuft, den knallen sie gleich ab. Seitdem lass ich die Finger davon.“ 

Wladimir meint, dass der Krieg noch lange gehen wird: „Putin will sich so viel Land wie möglich abzwacken.“ Dass er den Vertrag unterschrieben hat, bereut er.  

„Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit Mäusen unter der Erde leben würde, wäre ich nie in den Krieg gezogen. Ich wusste überhaupt nicht, wie das wird. Ich wusste nicht einmal, was sie mir zahlen.“ 

„Warum sind Sie dann hin?“ 

„Weil ich bescheuert bin.“ 

 

Ruslan reist ab 

Am nächsten Tag treffe ich im Flur Ruslan. Er hat eine Sonnenbrille auf. 

„Wie sehe ich aus?“ 

Ruslan wird heute entlassen. Er will zurück in seine Einheit und fragt mich, ob ich ihn zur Bushaltestelle begleite. Ich lehne ab. 

Eine halbe Stunde später fragt er mich: 

„Gibt es heute Flüge nach Mineralnyje Wody?“ 

Ich schaue nach: Die Tickets kosten 30.000 Rubel [ca. 280 Euro – dek]. Ruslan seufzt. 

„Kommen Sie mit?“ 

Ich erzähle der Krankenschwester davon. Sie ist vehement dagegen:  

„Auf gar keinen Fall! Er hat die Behandlung verweigert. Keiner weiß, in welchem Zustand er ist!“ 

Als ich aus der Station komme, sitzt Ruslan auf einem Sitzpolster und raucht. Er erinnert sich nicht mehr an sein Angebot und verabschiedet sich ruhig. Ich sehe ihn nie wieder. 

 

„Lieber in den Knast“ 

Nur wenige Patienten der Psychiatrie wollen mit einem Priester sprechen, auch wenn es ihnen die Ehrenamtlichen regelmäßig anbieten. „Nach den Tabletten, die sie uns geben, prallt alles Heilige ab“, winkt einer der Männer ab, bittet aber dennoch um eine kleine Ikone des Heiligen Nikolaus von Myra. Ein anderer lacht: „Bei uns hier leben Dämonen.“ 

Andrej dagegen – er stammt aus einer Kleinstadt im Ural – ist erst nach einem Gespräch mit einem Priester in den Krieg gezogen. Bevor er den Vertrag unterzeichnete, ging er in die Kirche, um Rat zu suchen: Soll er an die Front oder nicht? Der Priester sagte, man müsse „für seine Sache einstehen“ und das sei „eine gute Sache“. So reden viele Geistliche, meint Andrej. Wenn der Pater damals gesagt hätte, dass kämpfen nicht gut ist, hätte er Zweifel bekommen. Jetzt trägt Andrej die gestreifte Krankenhauskleidung, geht mit Krücken und hört Stimmen ukrainischer Spione, die „auf den Bäumen sitzen“. 

In den Krankenakten, die wir Ehrenamtlichen manchmal von anderen Stationen holen sollen, stehen die militärische Spezialisierung und die Diagnose der Patienten: Granatenschütze, paranoide Schizophrenie; Sanitäter, psychopathische Schizophrenie. Heute begleite ich den 27-jährigen Pascha aus Kyjiw zum Urologen, er ist einer der „Strengen“. In seiner Akte steht: Posttraumatische Belastungsstörung. 

„Ich bin Fernmelder, hab ich mir selbst beigebracht. Ich habe mich im Bataillon bis zum Chef des Fernmeldetrupps hochgedient. Mit 18 bin ich in die Donezker Volksrepublik (DNR) gezogen, um gegen Nazis zu kämpfen.“ 

Paschas Verwandte leben in Kyjiw. „Meine Mutter und mein Stiefvater sind auf unserer Seite, die anderen für die ukropy. Mein Vater war früher bei der [ukrainischen] Staatssicherheit, wir reden nicht mehr miteinander. Er sagt: ‚Geh und verteidige deinen Putin.‘ Obwohl ich Putin doch gar nicht so toll finde. Ich kämpf natürlich nicht für ihn. Er hat so viel Leute auf dem Gewissen.“ 

Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. 

Ein Mann wird im Rollstuhl hereingeschoben. Ihm wurde vor kurzem ein Bein amputiert. Die Pflegerinnen diskutieren, wie sie ihn zum Ultraschall bringen sollen: „Sie haben ihm schon die Narkose gegeben, gleich ist er weg.“ Irgendwie wuchten sie ihn aufs Krankenbett. Der mit Mull verbundene Stumpf hängt in der Luft. 

„Da wurde nichts genäht, einfach nur abgesägt“, erklärt der junge Mann. Mit einem Stöhnen legt er den Stumpf aufs Kissen: „Au, au, au, Scheiße, verdammt.“ 

Pascha sitzt mit seinem Handy da, er scrollt durch TikTok. Nachrichten überspringt er: „Uninteressant.“ 2019 hatte er seinen Armeevertrag gekündigt, doch am 22. Februar 2022 lebte er in der DNR und wurde mobilisiert. „Vom Verteidigungsministerium gab es null Unterstützung. Meinen ganzen Lohn hab ich in diesen Scheißdienst gesteckt. Die Kommandeure hat das nicht interessiert“, erzählt Pascha. 

Im Krieg bekam er Panikattacken: hatte ständig Angst, konnte kaum noch schlafen. Er erklärt sich seinen Zustand durch den Stress und „die permanente Erniedrigung durch Vorgesetzte“: 

„Wenn irgendwer Druck macht, fang ich total zu zittern an, der Kopf macht nicht mehr mit. Seit drei Monaten schlucke ich Tabletten, die helfen kein bisschen. Ich liege richtig flach, voll depri. Ich kann mich kaum unterhalten, als ob mir das Hirn stehenbleibt, der Kopf schaltet sich ab. Ich kann mich schlecht konzentrieren. Ich komm mir vor wie ein Idiot. Manchmal würd ich am liebsten Tabletten fressen, damit’s ein Ende hat.“ 

Paschas Frau lebt mit den beiden Kindern in Zentralrussland, in einer kreditfinanzierten Wohnung. Sie wünscht sich, dass Pascha entlassen wird. Er sagt, dass sei „nicht realistisch“: 

„Entweder in den Knast oder wieder in den Krieg. Sollen sie mich doch einbuchten! Fünf Jahre, aber dafür überleb ich. Und wenn’s zehn sind, häng ich mich auf und aus. Da gibt’s keinen Ausweg außer Selbstmord. Ich habe versucht, diese Gedanken zu vertreiben, habe immer sofort ‘ne Tablette genommen, um mich zu beruhigen. Manchmal hab ich Aggressionen, das ist erst recht beschissen. Dann hab ich nur ein Ziel – töten. Und manchmal, da bin ich gut drauf, aber dann hab ich auf einmal Leichen vor Augen.“ 

Pascha und ich kommen vom Urologen auf die Psychiatrie zurück. Alte, hohe Linden, Halbschatten. 

„Hier lebt ein Eichhörnchen in den Baumkronen. Haben Sie’s gesehen?“, sage ich. 

Zum ersten Mal seit anderthalb Stunden lächelt Pascha. Ich zeige ihm ein Foto, er betrachtet es lange, gerührt. Als wir ins Krankenhaus hineingehen, erlischt Paschas Gesicht wieder. 

 

Witja will zu Mama 

Am Morgen regnet es, die Raucher drängen sich unter dem Vordach zu einer dichten Traube. Ich gehe mit dem 33-jährigen Witja zum Augenarzt. Vorsichtig stellt er in Gummilatschen einen Fuß vor den anderen. Er hatte eine Kontusion, jetzt fühlen sich seine Beine steif an. Die Zähne sind schlecht, er redet undeutlich. 

Witja ist vor einem halben Jahr freiwillig in den Krieg gezogen. Aus einem kleinen Dorf an der Wolga. Er sagt, er hatte dort ein gutes Leben. 2023 kamen zu Halloween verkleidete Kinder, und Witja gab ihnen Süßes. 

Seine Arbeit in der Holzfabrik brachte ihm 60.000 Rubel im Monat ein. Nicht genug, um einen Kredit über 40.000 für die Sanierung des Hauses abzubezahlen. Also unterschrieb er den Vertrag beim Militär. Witjas Mutter ist bettlägerig. Als ihr Sohn in den Krieg zog, „bekam sie Löcher, die Haut löste sich auf.“ Keiner kümmert sich um sie, sagt Witja. Er bereut seine Entscheidung, will zurück zu seiner Mutter. 

Ein Dutzend Wartende beim Augenarzt. Unter ihnen eine grauhaarige, hagere Dame von vielleicht 75 im Rollstuhl. Der Arzt kommt aus seinem Zimmer: 

Spezialoperation, wer ist der Nächste?“ 

„Und wann bin ich dran? Ich hab nicht mal gefrühstückt und warte immer noch“, sagt die Dame. 

„Sie müssen warten. Wer war noch bei der Spezialoperation, kommen Sie!“ 

Ein Mann mit Basecap und Unterhemd rollt in das Behandlungszimmer. Ihm fehlt der rechte Arm und das linke Bein. Als Nächster kommt Witja dran, der ein Bein nachzieht. 

 

Über Leichen gehen 

Kamil studierte in einer Regionalhauptstadt Tiermedizin. Ihm fehlte noch ein Jahr zum Abschluss. Im Sommer 2022 unterschrieb er bei der Armee. Seine Eltern waren dagegen. Die jüngeren Schwestern schenkten ihm zum Abschied Anhänger: ein Blümchen und ein Legomännchen. Er trägt sie als Armband. Kamil ist mit 26 der Älteste von fünf Geschwistern. 

Kamil hat ein feines Gesicht, lange Wimpern. Zuerst sagt er, er sei in den Krieg gegangen um „zu helfen“. Dann meint er: Wenn er gutbezahlte Arbeit als Übersetzer gefunden hätte, wäre er wohl nicht gegangen. Er erzählt, dass er einige Jahre in Syrien, der Heimat seines Vaters, gelebt hat und gut arabisch spricht. Kamil hat paranoide Schizophrenie. 

„Wäre nicht das Geld, wäre ich nicht gegangen. Aber wenn man ein paar Tausender dafür kriegt, dass man einer Oma über die Straße hilft – na klar“, lacht Kamil. Einen Teil des „Kriegsgeldes“ hat er im Fronturlaub verprasst, den Rest gab er seinen Eltern. 

Kampferfahrung hatte Kamil keine, er hatte lediglich in Russland seinen Grundwehrdienst geleistet. Er sollte einen Zug kommandieren, eine eigene Untereinheit der Kompanie. Kamil hatte keine Ahnung, was das bedeutet, willigte aber ein. 

Im November 2023 geriet er unter Beschuss und wurde durch Splitter schwer verletzt. Laufen und springen kann er nicht mehr, den Zeigefinger kann er nicht mehr bewegen. Vor kurzem rief ihn ein Kamerad von der Front an. Er sagte, er beneide alle, die Beine oder Arme verloren haben, denn die müssen nicht mehr kämpfen. 

Kamil erzählt, dass er um neun Uhr morgens verwundet wurde. Den ganzen Tag lag er mit einem Maschinengewehrschützen in einem Nadelwald, sie schossen zurück auf die Ukrainer in 500 Metern Entfernung. Er erinnert sich, wie er „Lieder sang, Zigaretten rauchte“ und sah, wie „die Kugeln die Äste abknickten“. Neben seinen Kopf hatte er eine Granate gelegt. 

„Ich dachte nicht, dass ich da lebend rauskomme.“ 

Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht.

Am Abend liefen die Männer übers Feld. Es kam ein „Vögelchen“ [eine Drohne – dek] geflogen und warf eine Granate ab. Der MG-Schütze wurde verwundet. Kamil gab ihm einen Klaps auf den Helm: Lauf weg! Als er allein war, gingen ihm Gebete durch den Kopf. Er schleppte sich zu seinen Leuten und wurde nach Rostow am Don gebracht. Ab da verloren ihn alle aus den Augen. Am dritten Tag rief ein Freund Kamils Eltern an: „Ihr Sohn ist gefallen.“ Die Mutter fiel im Supermarkt in Ohnmacht, der Vater schlachtete drei Hammel, als Qurban [arab. Opfergabe – dek] für den Verstorbenen. Zwei Tage später rief Kamil zu Hause an: „Ich bin noch am Leben.“ 

„Im Krieg gibt es viel Dreck, in jeder Hinsicht. Einmal haben wir eine Stellung bezogen, und dort gehen die Gräben nur bis zur Hüfte und sind sehr klein. Was für eine Scheiße, warum haben die nicht weiter gegraben? Da sagt einer: Schau nach unten! Da sehen wir, dass wir über Leichen gehen. So viele, dass sie sich schon mit der Erde vermischt haben. Keiner hat sie geborgen. Die Leichen waren Russen.“ 

Nach einem Moment des Schweigens fährt Kamil fort: „Ich habe in dem Krieg niemanden getötet.“ Auf die Frage, ob das für ihn wichtig sei, zuckt er mit den Schultern. Es sei schrecklich gewesen, als von den Vorgesetzten der Befehl kam: „Macht eure Leute zu 200ern“.  

Kamil zufolge kam das so: Zwei aus der Kompanie hatten sich betrunken und ballerten herum. Die Kommandeure verprügelten die beiden einen ganzen Tag lang, bis ihre Gesichter ganz blau waren. Dann übergaben sie sie an Kamil, „ohne Schutzwesten, ohne Waffe, ohne alles.“ „Macht sie fertig“, hieß es, berichtet Kamil. 

Ihm taten die Jungs leid; er besorgte ihnen irgendwie eine Uniform und schickte sie mit irgendeiner Aufgabe los. Einer fiel, einer überlebte. 

Kamil möchte am liebsten nach Hause und sein Veterinärstudium abschließen. 

 

„Das war’s Leute, ich bin raus.“ 

Drei Krankenschwestern sitzen beim Tee und beschreiben ihre Arbeit. Die Mutter eines Patienten hat selbstgebackenen Kirschkuchen mitgebracht. 

„Hier liegen solche Typen, schrecklich. Im Krankenhaus kann man auch alles kaufen: Drogen, Wodka, Nutten … Und so viele Löcher im Zaun! Wenn einer weglaufen will, kann man das nicht verhindern. Du gibst der Wache 500 Rubel, gehst raus, gibst dir die Kante und kommst zurück. Drogen- und Alkoholabhängige werden von der Gesundheitskommission als Kategorie D [untauglich – dek] eingestuft. Einige kehren nach dem Krankenhaus zum Stützpunkt zurück: Sie helfen den Sanitätern, hacken Holz ... Waffen bekommen sie nicht mehr in die Hand. Die anderen kriegen Kategorie C [eingeschränkt tauglich – dek] – und zurück geht’s. Die sitzen hier sieben, acht Monate [suchen Vorwände, um nicht wieder in den Krieg zu müssen]: Der Popo juckt, ein Pickel auf der Nase … Dass einer vom Krieg nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, gibt es hier nicht. Die drehen ab, weil sie sich irgendeinen Chemiescheiß reinziehen, oder wenn sie vorher schon schizo waren. Gibt’s irgendeinen Stress, macht’s sofort klick.“ 

Die Krankenschwestern erinnern sich aufgeregt, wie im Winter ein 20-jähriger Patient abhaute, ein Mobilisierter. 

„Er ging vor die Tür eine rauchen und sagte: ‚Das war’s Leute, ich bin raus.‘ Und ist einfach übers Eis verduftet.“ 

„Genau, in Sneakers durch den Zaun. Er hatte ein Taxi bestellt, das stand schon bereit." 

Die Krankenschwestern sagen, der junge Mann sei nach Hause gefahren, dort dann „voll auf Drogen abgestürzt“ und habe sich nach drei Monaten im Schuppen erhängt. Seine Mutter kam danach ins Krankenhaus und holte seine Sachen und den Pass ab. 

Die Krankenschwestern verstummen, kauen ihren Kuchen. Eine stellt ihre Tasse zur Seite und schaut mir fest in die Augen: „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg.“ 

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Krieg im Osten der Ukraine

Bei dem bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine beziehungsweise im Donbass handelt es sich um einen Krieg, der von seit April 2014 zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenbataillonen auf der einen Seite sowie separatistischen Milizen der selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (DNR und LNR) und russischen Soldaten auf der anderen Seite geführt wurde. Am 24. Februar 2022 befahl Putin den Angriff auf das Nachbarland – aus dem verdeckten ist ein offener Krieg geworden.

Die zentralen Vorgänge, die den Krieg in der Ostukraine bis dahin geprägt hatten: Vorgeblich ging es dabei um die Gebietshoheit der beiden ostukrainischen Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk – dem sogenannten Donbass, der zu etwa einem Drittel nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung ist. In der Ukraine sowie in der Europäischen Union ist man bis heute überzeugt, dass Russland die Separatisten immer finanziell, personell und logistisch unterstützt hat. Demnach hat Russland den Donbass vor allem als Instrument genutzt, um die Ukraine langfristig zu destabilisieren und somit gleichzeitig kontrollieren zu können. Russland hatte eine militärische Einflussnahme und Destabilisierungsabsichten stets bestritten.

Die Entstehung des Krieges und wie die EU und die USA mit Sanktionen darauf in dem jahrelangen Konflikt reagiert hatten – ein Überblick. 

Nachdem Ende Februar 2014 der ukrainische Präsident Janukowytsch im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt wurde, russische Truppen kurze Zeit später die Krim okkupierten und die Annexion der Halbinsel auf den Weg brachten, ist die Situation im Donbass schrittweise eskaliert.

Zunächst hatten pro-russische Aktivisten im April 2014 Verwaltungsgebäude in mehreren ostukrainischen Städten besetzt. Forderungen, die hier artikuliert wurden, waren diffus und reichten von mehr regionaler Selbstbestimmung bis hin zur Unabhängigkeit von der Ukraine und einem Anschluss an Russland.

Während sich in Charkiw die Situation nach der polizeilichen Räumung der besetzten Gebietsverwaltung rasch entspannte, kam es in Donezk und Luhansk zur Proklamation eigener Republiken. Parallel wurden Polizeistationen und Gebäude des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes gestürmt sowie dortige Waffenarsenale gekapert. Wenige Tage später traten in der Stadt Slowjansk (Donezker Verwaltungsbezirk) unter dem Kommando des russischen Geheimdienstoberst Igor Girkin erste bewaffnete „Rebellen“ in Erscheinung. Girkin, der bereits zuvor an Russlands Okkupation der Krim beteiligt gewesen war und zwischen Mai 2014 und August 2014 als Verteidigungsminister der DNR fungierte, behauptete später, dass der Krieg im Donbass mitnichten aus einem Aufstand russischsprachiger Bewohner der Region resultierte. Er betonte indes, dass dieser „Aufruhr“ ohne das Eingreifen seiner Einheit schnell zum Erliegen gekommen wäre.1

Eskalation

Tatsächlich begannen die bewaffneten Kampfhandlungen in dem von Girkins Einheit besetzten Slowjansk. Um die Stadt zurückzugewinnen, startete die ukrainische Regierung eine „Anti-Terror-Operation“ mit Beteiligung der Armee. Während die Separatisten in den von ihnen kontrollierten Orten des Donbass im Mai 2014 sogenannte Unabhängigkeitsreferenden durchführen ließen, weiteten sich in der Folgezeit die Gefechte zwischen ukrainischen Streitkräften und Freiwilligenverbänden auf der einen und den Separatisten auf der anderen Seite stetig aus.

In deutschsprachigen Medien und in der internationalen Diplomatie wurde seither häufig von einer „Krise“ oder einem „Konflikt“ gesprochen. Tatsächlich erreichte die militärische Eskalation unter quantitativen Aspekten, die sich auf eine bestimmte Anzahl von zivilen und nicht-zivilen Opfern pro Jahr beziehen, bereits 2014 den Zustand eines Krieges.2 Auch unter qualitativen Gesichtspunkten erfüllte der bewaffnete Konflikt ab 2014 sämtliche Merkmale eines Krieges, wie ihn beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg definiert3.

Neben der Involvierung russischer Freischärler und Söldner4 mehrten sich im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzungen Berichte über großkalibrige Kriegsgeräte, die den von den Separatisten kontrollierten Abschnitt der russisch-ukrainischen Grenze passiert haben sollen.5 Hierzu soll auch das Flugabwehrraketensystem BUK gehören, mit dem nach Auffassung des internationalen Ermittlungsteams das Passagierflugzeug MH17 im Juli 2014 über Separatistengebiet abgeschossen wurde.6 Reguläre russische Streitkräfte sollen indes ab August 2014 erstmalig in das Geschehen eingegriffen haben, nachdem die ukrainische Seite zuvor stetige Gebietsgewinne verbuchen und Städte wie Kramatorsk, Slowjansk, Mariupol und Awdijiwka zurückerobern konnte.7

Die EU verhängte im Sommer 2014 aufgrund der „vorsätzlichen Destabilisierung“8 der Ukraine weitreichende wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland. Russland stritt eine Kriegsbeteiligung eigener regulärer Soldaten jedoch stets ab: So hätten sich beispielsweise Soldaten einer russischen Luftlandlandedivision, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren, nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums verlaufen und die Grenze zur Ukraine nur  aus Versehen überquert.9 Die russische Menschenrechtsorganisation Komitee der Soldatenmütter Russlands indes beziffert die Zahl russischer Soldaten, die im Spätsommer 2014 auf ukrainischem Territorium im Einsatz gewesen seien, mit rund 10.000.10

Einen Wendepunkt des Kriegsverlaufs stellte schließlich die Schlacht um die ukrainische Kleinstadt Ilowajsk dar, bei der die ukrainische Seite im September 2014 eine herbe Niederlage erfuhr und mehrere hundert gefallene Soldaten zu beklagen hatte.11

Die ukrainische Regierung hat die NATO mehrfach vergeblich um Waffenhilfe gebeten. Allerdings legte die NATO spezielle Fonds an, die zu einer Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte beitragen sollen. Diese Fonds dienen unter anderem der Ausbildung ukrainischer Soldaten, der Verbesserung von Kommunikationsstrukturen, der Stärkung von Verteidigungskapazitäten im Bereich der Cyberkriegsführung sowie der medizinischen Versorgung von Soldaten.12 Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung in Form von sogenannter nichttödlicher Militärausrüstung wie Helmen und Schutzwesten, Funkgeräten und gepanzerten Geländewagen, unter anderem von den USA.13 

Verhandlungen

Die zunehmende Eskalation des Krieges brachte eine Intensivierung internationaler Vermittlungsbemühungen mit sich. Bereits im März 2014 hatte der Ständige Rat der OSZE eine zivile Sonderbeobachtermission für die Ukraine beauftragt und wenig später eine trilaterale Kontaktgruppe zwischen der Ukraine, Russland und der OSZE ins Leben gerufen. Auf Ebene der Staats- und Regierungschefs etablierte sich das sogenannte Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich. Im September 2014 machte es die Unterzeichnung des sogenannten Minsker Protokolls durch die OSZE-Kontaktgruppe möglich.

Nach anhaltenden Kämpfen, vor allem um den Flughafen von Donezk sowie die Stadt Debalzewe, kam es im Februar 2015 zu einem erneuten Zusammentreffen des Normandie-Formats in Minsk. Im Minsker Maßnahmenpaket (Minsk II) konkretisierten die Parteien sowohl einen Plan zur Entmilitarisierung als auch politische Schritte, die zur  Lösung des Konflikts beitragen sollten.

Das Maßnahmenpaket umfasst dreizehn Punkte, die schrittweise unter Beobachtung der OSZE umgesetzt werden sollen. Hierzu gehört der Waffenstillstand sowie der Abzug schwerer Kriegsgeräte und sogenannter „ausländischer bewaffneter Formationen“. Außerdem soll in der ukrainischen Verfassung ein Sonderstatus für die Separatistengebiete verankert werden. Nicht zuletzt sieht das Maßnahmenpaket vor, dass Kommunalwahlen in diesen Gebieten abgehalten werden. Außerdem soll die ukrainisch-russische Grenze wieder durch die ukrainische Regierung kontrolliert werden.14

Entwicklung seit Minsk II

Auch unmittelbar nach der Unterzeichnung des Minsker Abkommens hielten jedoch vor allem in Debalzewe heftige Gefechte an, bis die Stadt schließlich wenige Tage später unter die Kontrolle der Separatisten fiel. Auch hier soll – wie bereits zuvor in Ilowajsk – reguläres russisches Militär massiv in das Kriegsgeschehen eingegriffen haben.15 Erst nach dem Fall von Debalzewe nahmen die Kampfhandlungen ab. Zu Verletzungen der Waffenruhe, Toten und Verletzten entlang der Frontlinie kam es seither dennoch beinahe täglich.16 Dies macht eine Umsetzung des Minsker Maßnahmenpakets bis heute unmöglich.

Schwere Gefechte mit dutzenden Toten brachen zuletzt rund um die Stadt Awdijiwka aus. Awdijiwka, das im Sommer 2014 von ukrainischer Seite zurückerobert wurde und dem Minsker Protokoll entsprechend unter Kontrolle der ukrainischen Regierung steht, hat als Verkehrsknotenpunkt sowie aufgrund der dort ansässigen Kokerei eine besondere strategische und ökonomische Bedeutung. Die Stadt ist in der Vergangenheit immer wieder unter Beschuss geraten.17 Im Januar 2017 kam es dort auch zur Zerstörung kritischer Infrastruktur: Dabei fielen in der Stadt bei Temperaturen von unter minus 20 Grad mehrere Tage die Strom-, Wasser- und Wärmeversorgung aus. Allein am 31. Januar 2017 berichtete die Sonderbeobachtermission der OSZE von mehr als 10.000 registrierten Explosionen – die höchste von der Mission bisher registrierte Anzahl an Waffenstillstandsverletzungen.18

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019 sind seit Beginn des Krieges im Donbass rund 13.000 Menschen gestorben. Die Anzahl der Verletzten beziffern die Vereinten Nationen mit über 24.000. Bei mehr als 2000 Todesopfern sowie etwa 6000 bis 7000 Verletzten handelt es sich um Zivilisten.19 Menschenrechtsorganisationen geben zudem an, etliche Fälle von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen dokumentiert zu haben.20 Im November 2016 erklärte die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag, dass Anzeichen für einen internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vorliegen.21 Die russische Regierung zog daraufhin ihre Unterschrift unter dem Statut des ICC zurück. 

Neben tausenden Toten und Verletzten hat der Krieg auch zu enormen Flüchtlingsbewegungen geführt. Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bis Mitte 2016 über 1,6 Millionen Binnenflüchtlinge; das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen geht in seinen eigenen Berechnungen derweil von 800.000 bis einer Million Binnenflüchtlingen aus.22 Daneben haben knapp 1,5 Millionen Ukrainer seit Ausbruch des Krieges Asyl oder andere Formen des legalen Aufenthalts in Nachbarstaaten der Ukraine gesucht. Nach Angaben russischer Behörden sollen sich rund eine Million Ukrainer in der Russischen Föderation registriert haben.23


1.vgl.: Zavtra.ru: «Kto ty, «Strelok»?» und Süddeutsche Zeitung: „Den Auslöser zum Krieg habe ich gedrückt“
2.vgl. University of Uppsala: Uppsala Conflict Data Program
3.vgl. Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung der Universität Hamburg: Laufende Kriege
4.Neue Zürcher Zeitung: Nordkaukasier im Kampf gegen Kiew
5.The Guardian: Aid convoy stops short of border as Russian military vehicles enter Ukraine sowie Die Zeit: Russische Panzer sollen Grenze überquert haben
6.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Minutiös rekonstruiert
7.Für eine detaillierte Auflistung der im Krieg in der Ukraine involvierten regulären russischen Streitkräfte siehe Royal United Services Institute: Russian Forces in Ukraine
8.vgl. europa.eu: EU-Sanktionen gegen Russland aufgrund der Krise in der Ukraine
9.vgl. tass.ru: Minoborony: voennoslzužaščie RF slučajno peresekli učastok rossijsko-ukrainskoj granicy
10.vgl. TAZ: Es gibt schon Verweigerungen
11.vgl.Frankfurter Allgemeine Zeitung: Ein nicht erklärter Krieg
12.vgl. nato.int: NATO’s support to Ukraine
13.vgl. Die Zeit: US-Militärfahrzeuge in Ukraine angekommen
14.vgl. osce.org: Kompleks mer po vypolneniju Minskich soglašenij
15.vgl. ViceNews: Selfie Soldiers: Russia Checks in to Ukraine
16.vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung: Wer bricht den Waffenstillstand?
17.vgl. Die Zeit: Wo Kohlen und Geschosse glühen
18.osce.org: Latest from the OSCE Special Monitoring Mission to Ukraine (SMM), based on information received as of 19:30, 31 January 2017
19.vgl.: Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in Ukraine: 16 August to 15 November 2016
20.vgl. Helsinki Foundation for Human Rights/Justice for Peace in Donbas: Surviving hell - testimonies of victims on places of illegal detention in Donbas
21.vgl. International Criminal Court/The Office of the Prosecutor: Report on Preliminary Examination Activities 2016
22.vgl. unhcr.org: Ukraine
23.vgl. unhcr.org: UNHCR Ukraine Operational Update
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