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Nawalny vor dem Aus?

Vor allem mit seiner Unermüdlichkeit hat er viel Respekt gewonnen – auch bei seinen Kritikern: der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Allen Versuchen zum Trotz, seine politische Handlungsfähigkeit einzuschränken, eröffnete er ein Wahlkampfbüro nach dem anderen, brachte bei den Anti-Korruptionsprotesten – die auf Recherchen seines Fonds für Korruptionsbekämpfung beruhten – im März und im Juni landesweit Hunderttausende auf die Straßen.

Aus der Haftstrafe, die er deswegen absitzen musste, wurde er vergangenen Freitag entlassen. Es folgten Durchsuchungen zahlreicher Wahlkampfbüros von Nawalny durch die Polizei, seine Anhänger wurden verhaftet, laut offiziellen Angaben gab es allein in Moskau rund 70 Festnahmen. In Krasnodar war es keine Polizei, sondern es waren etwa 20 Personen – offenbar Aktivisten von Otrjady Putina (dt. Putin-Trupp) – die das Wahlkampfbüro verwüsteten und dabei Slogans wie Nasch Putin (dt. Unser Putin) skandierten [s. Video]. Am gleichen Wochenende wurde Putin auf dem G20-Gipfel danach gefragt, was er von Nawalny halte. Putin vermied es in seiner Antwort, den Namen des Oppositionspolitikers überhaupt zu nennen.

Oleg Kaschin fragt sich auf Republic unter anderem: Bedeuten die Polizei-Aktionen, dass der Kreml die Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits getroffen hat?

Quelle Republic

Rote Punkte kennzeichnen Städte, in denen polizeiliche Durchsuchungen und Festnahmen von Aktivisten stattfanden. Die Briefumschläge markieren Orte, an denen Wahlkampf-Materialien beschlagnahmt wurden. An den mit blauen Punkten gekennzeichneten Orten kam es zu Angriffen durch kremlnahe Aktivisten. Quelle: Meduza

Der gesamtrussische Pogrom gegen die Wahlkampfbüros von Alexej Nawalny lässt Erinnerungen an die Zeiten der Repressionen gegen [Eduard] Limonows [National-Bolschewistische] Partei wach werden: Dutzende verhaftete Aktivisten, durchsuchte Büros, beschlagnahmtes Agitationsmaterial. Gleichermaßen beeindruckend ist, wie flächendeckend und hart der Staat dabei vorging. Sowas wie Überspitzungen auf örtlicher Ebene oder Täterexzesse kann man ausschließen – weil es zu viele Orte, zu viele Täter sind.

Befehl aus den obersten Etagen

Attacken von derartigem Ausmaß sind nur möglich, wenn der Befehl aus den obersten Etagen kommt, und zwar nicht von der Polizei, sondern von der Politik. Wenn man sich vorstellt, dass irgendwo im Kreml regelmäßig Besprechungen zum „Problem Nawalny“ stattfinden, kann man leicht zu dem Schluss kommen, dass die Stimmung bei diesen Besprechungen in den vergangenen Monaten dreimal umgeschlagen ist.

Zunächst setzte man auf die sogenannte „Zivilgesellschaft“, auf staatsloyale Aktivisten, die zwar von der Polizei gedeckt wurden, aber formal eigenständig operieren. Seljonka, Pikets, Schlägereien und Provokationen bei öffentlichen Veranstaltungen – das Standardprogramm der anti-oppositionellen Aktivitäten, das offensichtlich nicht nur dazu gedacht ist, den letzten Nerv zu rauben und die Arbeit zu behindern, sondern auch eine Grundstimmung erzeugen soll, die vermittelt: Wo Nawalny ist, da sind Skandale, Pöbeleien und andere unangenehme Dinge, von denen man sich besser fernhält. 

„Wo Nawalny ist, da sind Skandale“

Zum Bruch kam es nach der Seljonka-Attacke, die für Nawalny mit einer Augenverletzung endete – zwischen psychischem und physischem Terror existiert sogar in Russland eine klare Grenze, und die Verantwortung für diese versuchte Verstümmelung trägt mindestens deswegen stillschweigend der Staat, weil die Polizei untätig zuschaute. 

Nach der unerwarteten Entscheidung, Nawalny zur Behandlung nach Spanien ausreisen zu lassen, sickerten zahlreiche Informationen durch, der Kreml sei verärgert über die enthemmten [staatsloyalen – dek] Provokateure; das Feuer ihrer Aktivitäten würde nun jedenfalls eingedämmt.

Startschuss für die Polizeioffensive

Es wurde tatsächlich für einige Wochen ziemlich still um die sogenannte „Zivilgesellschaft“, bis zu ihrem triumphalen Auftritt in Krasnodar Anfang Juli, der quasi den landesweiten Startschuss für eine weitere Attacke gab - diesmal sogar der Polizei: ohne Seljonka, dafür mit Gefangenentransportern und überbordender Gewalt. 

Zu deren Symbol wurde das Drama um den Aktivisten Alexander Turowski: Als er beim Polizeiangriff auf das Wahlkampfbüro in Moskau verletzt wurde, bugsierte man ihn, inklusive hämischer Kommentare vom Chefarzt, aus dem Sklifosowski-Krankenhaus geradewegs vors Gericht. Dort verdonnerte man das Opfer von polizeilichem Sadismus auch noch zu einer Strafe von 500 Rubel (von einer Strafe für die Polizisten, die mit Kampf-Sambo gegen Turowski vorgegangen waren, ist natürlich keine Rede).

Ein Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt

Offensichtlich hat sich in diesen Monaten etwas radikal geändert. Bis dato hatte die Staatsmacht Nawalny an seiner Expansion in die Regionen nicht gehindert, und auf einmal tut sie es mit einem Höllenradau, dass das Blut nur so spritzt. Die Episode mit den regionalen Büros und freiwilligen Wahlkampfhelfern war ohnehin nur ein Nebeneffekt der Unentschlossenheit, ob Nawalny zur Wahl zugelassen wird oder nicht – diese Unentschlossenheit wurde selbst von der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa offen benannt. Dann kam der Juli, und die Staatsmacht begann, mit den Wahlkampfbüros aufzuräumen, ohne sich weiterhin hinter den Kosaken, der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD) oder dem South East Radical Block (SERB) zu verstecken. Bedeutet das, dass die endgültige Entscheidung über die Nicht-Zulassung Nawalnys zur Wahl bereits gefallen ist?

Ist Nawalnys Nicht-Zulassung zur Wahl bereits entschieden?

Ohne zu optimistisch klingen zu wollen: Bisher gibt es keinen Anlass, in der Polizeiattacke gegen Nawalnys Kampagne Anzeichen für eine endgültige Entscheidung zu sehen. Höchst deutlich definiert ist der Gegenstand des staatlichen Unmuts: die Wahlkampfzentralen und die Nawalny-Anhänger. 

Innerhalb weniger Monaten ist im Land eine gewaltige neue überregionale Oppositionsbewegung entstanden – tausende neuer Anhänger konnten rekrutiert werden, die bislang jenseits der in den Regionen vermuteten zwei, drei Hanseln existiert haben. 

Seit März sprechen Nawalnys Kritiker von der sogenannten Schkolota [und meinen damit die „dummen Schüler“dek], doch unter dieses abfällige Label fallen nicht die, die man vermeintlich vernachlässigen könnte (zum Beispiel der typische Leiter eines regionalen Wahlkampfbüros, der „Gewinner der regionalen Schüler-Olympiade für Geschäftsleute“, der Harvard-Student in spe, der künftige Programmierer). 

Die Jugend wird Opposition

Dass diese Jugendlichen einmal zu Oppositionellen mutieren würden, damit hat die Staatsmacht wohl nicht gerechnet. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie diese Leute erbarmungslos aus der Politik jagen, genauso wie einst die Limonow-Anhänger. Die Unterbindung jeglichen größeren Aktivismus mithilfe von Polizeigewalt ist ja nicht einmal neu – es ist eine Konstante des gesellschaftspolitischen Lebens in Russland. Ein paar Monate lang hat man aus irgendeinem Grund zugelassen, dass die Menschen diese Konstante vergessen, und jetzt erinnert man sie wieder daran. 

Der Staat attackiert jetzt die Jugend

Die aktuelle Säuberung macht sowieso den Anschein, als hielte die Staatsmacht ihr bisheriges Verhalten für einen Fehler: Indem sie die Eröffnung von Wahlkampfbüros in diversen Städten des Landes nicht verhinderte, senkte sie den Grad an Leidenschaftlichkeit, den die jungen Menschen mitbringen mussten, um in die Opposition zu gehen. Ein legales Stabsquartier in einem echten Büroraum, angemietet irgendwo im Stadtzentrum – an einen solchen Ort zu kommen ist psychologisch deutlich leichter, als in irgendeine Wohnung, die dem Untergrund als Treffpunkt dient. Die jungen Leute, die gestern noch schlicht keine Möglichkeit gesehen hatten, sich der Opposition anzuschließen, strömten plötzlich in diese Wahlkampfbüros. Damit zerstörten sie die gestrigen Vorstellungen von den unpolitischen Massen und den begrenzten menschlichen Ressourcen der Opposition. 

Die Staatsmacht attackiert jetzt genau diese Jugend, versucht, sie von der Politik abzuschneiden. Sie versucht sie in den vorherigen Zustand zurückzuführen, als oppositionell zu sein noch bedeutete, in unnützen Pikets suspekter Organisationen herumzustehen und danach lange, unangenehme Gespräche in Extremismus-Zentren des FSB zu führen, am Arbeitsplatz, in der Schule oder Universität.

Nawalny: Alternativlos in Anti-Putin-Kreisen

Die Ränkespiele um Nawalnys politische Perspektiven bleiben dabei genauso offen wie im Frühjahr. Nawalnys Gelassenheit in Bezug auf Turowski und andere betroffene Aktivisten verunsichert viele, erscheint aber verständlich, wenn man die Attacken auf die Wahlkampfbüros und die gegen Nawalnys Kampagne selbst als zwei verschiedene, wenn auch miteinander verbundene, Dinge begreift. 

Während die Polizei auf Freiwillige einprügelt und Flugblätter und T-Shirts beschlagnahmt, wettern die Sprecher bei Echo Moskwy gegen Intellektuelle, die sich weigern, in Nawalny zu investieren, dessen Alternativlosigkeit längst zum Mainstream und allgemeinen Konsens in Anti-Putin-Kreisen geworden ist. Selbst wenn man alle Wahlkampfhelfer hintereinanderweg einbuchten und die Zentralen niederbrennen würde – an Nawalnys Führungsposition würde das nichts ändern. 

Damit Wladimir Putin sich vor Journalisten rechtfertigen muss, warum er denn nicht mit Nawalny debattiere, braucht es weder Wahlkampfbüros noch Wahlkampfhelfer. Die Kreml-Besprechung, bei der entschieden wird, was man mit Nawalny im Kontext der Präsidentschaftswahlen tun soll, die steht noch bevor.

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Alexej Nawalny

„Herr Nawalny, Sie haben das Wort.“ Ein großgewachsener Mann mit kräftigem Nacken erhebt sich, denn das letzte Wort gehört ihm, dem Angeklagten. Alexej Nawalny, der kurz zuvor seine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen angekündigt hat, macht die Anklagebank zu einer politischen Bühne. Seine Rede umfasst alle zentralen Punkte der Kampagne: Die allgegenwärtige Korruption, die politische Abhängigkeit der Gerichte, die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes, die so leicht zu beenden wäre. Er teilt in diesem Schlusswort die russische Gesellschaft in drei Gruppen und zeichnet damit ein scharfes Bild seiner Weltsicht. Da sind zuerst die „wenigen Tausend“ an der Spitze der politischen Hierarchie, die den Reichtum des Landes unter sich aufgeteilt haben. Zweitens ist da die kleine Gruppe von Nawalnys treuen Unterstützern und Mitstreitern. Die dritte schließlich ist die größte Gruppe. Die stillen Stützen der Macht: die niedrigen Ränge im Staatsdienst, die regierungstreuen Bürger. „Sie alle könnten viel besser leben“, ruft er und wendet sich persönlich an den Richter, den Staatsanwalt, den Wachmann im Saal, „wenn Sie sich nicht fürchten würden vor denen, die unser Land ausplündern!“1 Wahlkampf inmitten eines Prozesses, in dem er schließlich zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurde. 

Vier Jahre später, fast auf den Tag genau, hält der wieder angeklagte Oppositionelle eine Rede vor Gericht, in der er dem Kreml vorwirft, er wolle „einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“. Vorangegangen war eine Nowitschok-Vergiftung, Behandlung in der Berliner Charité und eine Rückkehr, die Beobachter zu Vergleichen mit Nelson Mandela hinriss: Schon vor der Verurteilung von Nawalny war vielen klar, dass der Oppositionspolitiker hinter Gitter kommt, einige prophezeiten ihm gar den Tod, sei er doch der größte Feind des Regimes. Wie der russische Strafvollzugsdienst FSIN am 16. Februar 2024 mitteilte, ist Nawalny in seiner Haft gestorben. 

Auch wenn die angriffslustig gesenkte Stirn, die aufgerissenen blauen Augen während seiner Reden zuweilen einen anderen Eindruck vermitteln mochten: Alexej Nawalny kannte die Regeln und er bediente sie virtuos. Ein Jura-Abschluss im Jahr 1997, im Anschluss ein Studium der Finanzwirtschaft und ein halbes Jahr in Yale – das waren seine formalen Qualifikationen. Dazu kamen einige Jahre Arbeit in der sozialliberalen Partei Jabloko, die ihm allerdings zu vorsichtig im Umgang mit der Regierung wurde und die ihn wegen nationalistischer Parolen im Jahr 2007 rauswarf.2

Mindestens ebenso wichtig für Nawalnys Werdegang aber war seine langjährige Erfahrung mit eigenen Unternehmen und mit den Behörden des Landes. Als Minderheitsaktionär mehrerer Staatskonzerne hatte er das Recht, interne Dokumente einzufordern. Darauf baute er seine Korruptionsbeschuldigungen auf. Doch auch die Bürger des Landes hat er in die Aufdeckungskampagnen einbezogen. Im Jahr 2011 gründete Nawalny den Fond borby s korrupziei (dt. Fonds für Korruptionsbekämpfung, FBK)3, der frühere Onlineprojekte zu Wohnungsbau, Straßen und Staatsaufträgen unter einem Dach verbindet. Sein Team spürt eingesandten Hinweisen nach und klagt – oft sogar gegen hohe Staatsbeamte, sogar gegen Wladimir Putin selbst.4 Auf diese Weise hat er nicht nur ein beachtliches Netzwerk an internetaffinen Unterstützern aufgebaut, sondern auch viel Erfahrung im Umgang mit Gerichten gesammelt. 

Gerichtsverfahren und politische Ambitionen

Im Sommer 2013 lautete das Urteil im berüchtigten Kirowles-Prozess auf fünf Jahre Haft, die Strafe wurde später überraschend zur Bewährung ausgesetzt. Ein Jahr später kam eine weitere Bewährungsstrafe hinzu. Sein mitangeklagter jüngerer Bruder Oleg wurde erst im Juli 2018 nach Verbüßung des vollen Strafmaßes aus der Haft entlassen. Zahlreiche Beobachter und Analysten halten die Prozesse für politisch motiviert.5 Und tatsächlich spricht einiges dafür – so zum Beispiel die Tatsache, dass es Putins Vertrauter Alexander Bastrykin war, der 2012 persönlich die Wiederaufnahme des Kirowles-Prozesses in Gang brachte, obgleich das Ermittlungskomitee den Fall zu den Akten gelegt hatte.6 Und auch abseits von Gerichtsprozessen war Nawalny beständigem Druck ausgesetzt, der die Staatskasse übrigens einiges gekostet hat: In einer investigativen Reportage deckte das Medium Projekt im August 2020 auf, dass der Kreml über Blogger und Social-Media-Influencer eine dauerhafte mediale Kampagne gegen Nawalny führt und dass der FSB ihn zu jeder Zeit und an jedem Ort überwacht. 

Doch hätte Putin von Nawalny wirklich etwas zu befürchten? Zumindest stand er im Zentrum mehrerer öffentlichkeitswirksamer Konfrontationen der letzten Jahre. Es war nicht Nawalny, der die Menschen im Jahr 2011 auf die Straße brachte – aber seine Losung von der „Partei der Gauner und Diebe“ gehörte zu den prominentesten Slogans. Und er kam als Kandidat der Partei PRP-PARNAS 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl – ohne jegliche Aufmerksamkeit vieler großer Medien – auf 27 Prozent der Stimmen. Diese Teilerfolge und seine immense Gefolgschaft im Netz ermutigten ihn zum nächsten Schritt: die Präsidentschaftswahl 2018.

Schon das Urteil vom 08. Februar 2017 verhinderte formal eine offizielle Kandidatur. Doch Nawalnys Kampagne ging weiter, sein Team hoffte auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, oder doch noch eine politische Intervention. Doch am 25. Dezember schloss die Zentrale Wahlkommission Nawalny von der Präsidentschaftswahl aus. Der reagierte darauf mit einem Boykottaufruf für die Wahl, russische Behörden überprüfen derzeit wiederum, ob dies gegen das Gesetz verstoße.

Soviel Aufregung um den potentiellen Kandidaten war Grund genug, sich zu fragen, was Nawalny außer seinen berüchtigten, detailreichen Recherchen zu komplexen Korruptionsnetzwerken anzubieten hatte.

Korruption als die Wurzel allen Übels?

Sein politisches Programm7 bestand aus sorgfältig austarierten, oft nicht allzu konkreten Statements. Befürworter eines starken, aktiven Staates fanden Anschluss in seinen Forderungen nach Mehrausgaben für Gesundheit, Bildung und Infrastruktur, einem deutlich höheren Spitzensteuersatz, einem Mindestlohn in Höhe von 25.000 Rubel und einer Subventionierung von Hauskrediten für Familien. Anhänger eines zurückhaltenden Staates hat er dagegen mit der Abschaffung jeglicher Steuern für Kleinunternehmer gelockt, mit einer zurückhaltenden Geldpolitik, Dezentralisierung und der Deregulierung des Wohnungsbaus.

Sucht man nach früheren Positionen, die keinen Eingang in sein Wahlprogramm gefunden haben, so findet man sein Bekenntnis zum orthodoxen Glauben – und seinen Hang zum Nationalismus: Er war bereits als Organisator und Redner beim Russischen Marsch in Erscheinung getreten8 und vertrat in seinem Blog eine „demokratisch“-ethnonationalistische Linie, die sich um Abgrenzung von Extremen bemüht. In einem YouTube-Clip (den er später als Witz bezeichnete) setzte er kaukasische Terroristen mit Kakerlaken gleich.9 Von solchen Botschaften hat er sich später distanziert, auch der Parole „Russland den Russen“ hat er ausdrücklich widersprochen.10

Seine Fixierung auf Korruption als die Wurzel allen Übels, seine nationalistischen Anklänge und auch seine Teilnahme an Wahlen, die dem politischen System Funktionsfähigkeit und damit Legitimität bescheinigt, haben dabei durchaus Anstoß in oppositionellen Milieus erregt. Keinesfalls war Nawalny daher der „Oppositionsführer“, als den deutsche und selbst einige russische Medien ihn zuweilen präsentieren. Aufregung im liberalen Lager erregte beispielsweise Nawalnys Aussage, die Krim sei kein Butterbrot, das man hin- und herreichen könne: Als Präsident würde er sie nicht an die Ukraine zurückgeben, sondern ein „normales“ Referendum über den Status der Halbinsel abhalten.11 Das klang nach einem wahlstrategischen Drahtseilakt. Wie auch bei seinen nationalistischen Tönen und seinen linken Forderungen zeigte sich hier, dass Nawalny auf Mehrheiten aus war – und auch, dass er bereit war, dem Publikum das zu sagen, was er für mehrheitsfähig hielt.

Gleichwohl hat Nawalny für viele auch eine Hoffnung symbolisiert – unabhängig davon, dass sein politischer Handlungsspielraum bis zu seiner Verurteilung im Februar 2021 sukzessive eingeschränkt wurde. Was ihn von anderen Politikern abgehoben hat, war aber nicht so sehr sein Programm, sondern vielmehr sein rhetorisches Talent und seine kompromisslose Gegnerschaft zur herrschenden Elite. Vereinfacht gesprochen sah Nawalny die Lösung von Russlands Problemen in der Formel Elitenwechsel plus Justizreform.12

Nawalny gleich Putin minus Korruption?

Tatsächlich war Nawalny seinem ärgsten Gegner, Präsident Putin, in mancher Hinsicht nicht unähnlich. Wie Putin zu seinem Amtsantritt im Jahr 2000, erschien er als eine charismatische und entschlossene Führungsfigur; mit seinem zentristischen Pragmatismus konnte sich theoretisch ein breites Spektrum von Bürgern identifizieren. Und Nawalny erklärte selbst: „Ein Großteil der Dinge, die ich vorhabe, formuliert Putin auch – nur setzt er sie nicht um.“13 Es fällt daher auch der regierungsnahen Presse schwer, ihn den verhassten Liberalen der 1990er zuzurechnen – vor Schmähkampagnen14 ist er trotzdem nicht sicher.

Nawalny hat mit den klassischen Instrumenten populistischer Rhetorik operiert – für ihn gab es keine horizontalen, politischen Grundsatzkonflikte, sondern nur unten gegen oben, Volk gegen Elite. In Kombination mit seinem zentristischen Programm hätte das eine erfolgreiche Strategie im Kampf gegen ein Regime sein können, das alles für alle zu sein vorgibt und daher ideologisch kaum zu greifen ist. Nawalny setzte dem allumfassenden Putin dasselbe allumfassende Bild entgegen. Der Unterschied: Unter Nawalny, so seine wichtigste Botschaft, würde die Staatsmacht ehrlich sein, transparent und effizient.

Gefahr für den Kreml?

Mit diesem Programm hatte Nawalny das Potential, der Macht auf lange Sicht gefährlich zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum für politische Reden so oft die Anklagebank herhalten musste, warum er letztendlich in der Strafkolonie gestorben ist.

Als Nawalny am Morgen des 20. August 2020 in ein Krankenhaus in Omsk eingeliefert wurde, nachdem er auf dem Rückflug von Sibirien nach Moskau das Bewusstsein verloren hatte, stand vor diesem Hintergrund schnell der Verdacht einer Vergiftung durch den Kreml im Raum. Erhärtet wurde dieser Verdacht für viele dadurch, dass der Fall sich in eine reiche Vergiftungs-Geschichte missliebiger Personen einreiht. Auch dass die russischen Ärzte zunächst die Diagnose einer Stoffwechselstörung stellten und die Vermutung einer Vergiftung zurückwiesen, erschien vielen als typisch für die Verschleierungstaktik des Kreml. 

Nawalny wurde jedenfalls am 22. August durch die Vermittlung der Organisation Cinema for Peace15 und die anschließende diplomatische Unterstützung der Bundesregierung nach Deutschland ausgeflogen. Während seiner Behandlung in der Berliner Charité erklärten die Ärzte am 24. August, man habe Hinweise auf eine Vergiftung mit Cholinesterase-Hemmern gefunden. Am 3. September 2020 äußerte sich die damalige Bundeskanzlerin Merkel schließlich in einem öffentlichen Statement dahingehend, dass Nawalny „Opfer eines Verbrechens“ geworden war: Ein Speziallabor der Bundeswehr hatte nachgewiesen, dass der Oppositionspolitiker mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden war.

Am 13. Januar 2021 kündigte Nawalny an, schon am nächsten Sonntag nach Moskau zurückzukehren. Da ihm eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen drohte, lobten viele in Russland Nawalnys „mutigen“ Schritt  und verglichen den Politiker mit Nelson Mandela.

Noch bei seiner Ankunft am Flughafen in Moskau wurde Nawalny festgenommen. In einem Gerichtsprozess, abgehalten auf einem Moskauer Polizeirevier, wurde er am Montag, 18. Januar, zu 30 Tagen U-Haft verurteilt, wie seine Sprecherin Kira Jarmysch auf Twitter mitteilte. Im anschließenden Verfahren am 2. Februar 2021 wurde seine Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher in eine Gefängnisstrafe umgewandelt. Er musste damit bis Oktober 2023 in eine Strafkolonie. Vorläufig bis 2023, so schien es schon damals einigen Beobachtern.

Diese Ereignisse zogen im Januar 2021 große Proteste nach sich. Die Demonstrationen waren wegen Corona-Beschränkungen an keinem Ort von den Behörden genehmigt. Gleichwohl gingen innerhalb einer Woche im ganzen Land zweimal zehntausende Menschen auf die Straße. Der Kreml warf Nawalnys Team wie auch zuvor schon vor, Minderjährige für politische Zwecke zu missbrauchen. Gleichzeitig ging die Polizei hart, mitunter brutal gegen die Protestierenden vor und unterstrich damit die Botschaft, die sie auch schon von Nawalnys Verurteilung verbreitete: Wer sich hartnäckig weigert, die Autorität der politischen Führung anzuerkennen, muss mit immer härterer Repression rechnen.

Nawalnys Haft, die in anschließenden Scheinprozessen immer wieder verlängert wurde, war von menschenunwürdigen Bedingungen geprägt. Das Wenige, was aus der Strafkolonie von ihm nach außen drang, klang nach Zweckoptimismus. Manchmal schien es, dass er gar darüber witzelt, immer noch am Leben zu sein. Am 16. Februar 2024 gab der russische Strafvollzugsdienst FSIN bekannt, dass Nawalny gestorben ist. 

Aktualisiert am 16.02.2024


1.youtube.com: Poslednee slovo Alekseja Navalnogo na povtornom processe po delu «Kirovlesa“ ↑​
2.shuum.ru: Aleksej Navalnyj: A ty, černožopaja, voobšče molči! 
3.Fond borby s korrupciej 
4.RBK: Navalnyj podal isk k Putinu 
5.Lexikon der Politischen Strafprozesse: Nawalny, Alexei Anatoljewitsch 
6.Nawalnys Unterstützer bezeichneten die Intervention als persönlichen Rachefeldzug Bastrykins, mit der Begründung, dass Nawalny einige Wochen zuvor Bastrykin vorgeworfen hatte, mit seinem Posten unvereinbare Geschäfte in Tschechien zu unterhalten, siehe vesti.ru: Politologi o Navalnom – realnom i virtualnom. Details zum Vorwurf hier: Livejournal Navalny: O nastojaščich inostrannych agentach 
7.vgl. 2018.navalny.com 
8.snob.ru: Navalnyj i nacionalizm 
9.youtube.com: Navalnyj za legalizaciju oružija 
10.Gleichwohl bringt er sich aber immer noch über ethnisch-religiöse Themen ins Gespräch, wie im Frühjahr 2016: Als in Moskau eine psychisch gestörte usbekische Muslima einem Kind den Kopf abschnitt, beklagte er lautstark die vermeintlich unzureichende Berichterstattung und sprach von Zensur aus politischer Korrektheit, siehe youtube.com: Debaty. Naval’nyj vs. Pozner: Polnaja versija 
11.RBK: Aleksej Naval’nyj – RBK: «Naša glavnaja zadača – izmenit’ sejčas vse» 
12.Zwar beklagt er auch institutionelle Schwächen des Systems, insbesondere die von der Exekutive dominierte Verfassung. Im Zentrum seiner Kritik stehen aber keine systemischen Eigenschaften, keine Anreize, denen Individuen folgen, keine Fragen der politischen Kultur. Nicht einmal die übermäßigen Befugnisse des staatlichen Gewaltapparates unterzieht er besonderer Kritik – es seien die Personen selbst, die jeglichen Sinn für Moral und ihren gesunden Menschenverstand verloren haben und in ihrer hemmungslosen Selbstbereicherung von niemandem effektiv kontrolliert werden können. 
13.Echo Moskvy: Osoboe Mnenie: Aleksej Naval’nyj 
14.Der regierungstreue Fernsehsender NTV lancierte bereits mehrere Sujets, die angeblich Nawalnys „versteckte Millionen“ dokumentieren sollen. 
15.Bezahlt wurde der Transport von dem russischen Unternehmer und Philanthropen Boris Simin 
 
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