Hetzjagd in Sozialen Medien: Durch Leaks wurden russlandweit Daten von Corona-Patienten öffentlich. Namen, Adressen und Beschimpfungen kursieren im Netz. Wie konnte das passieren? Eine Recherche von Meduza.
Am 13. April hörte Angela Tschernobajewa Geräusche im Treppenhaus und schaute durch den Türspion: Es war das Rascheln von Einkaufstüten, die jemand ihrer Nachbarin vor die Tür stellte. Als die Nachbarin die Tüten hereinholte, hatte sie einen Mundschutz um, berichtet Angela Viktorowna beruhigt. „Und sie ist gleich wieder zurück in die Wohnung – gut so, sie hält sich an die Vorschriften. Ich mache mir nämlich sehr viel Gedanken, dass sie rausgehen könnte“, sagt Tschernobajewa gegenüber Meduza.
Dass sie ihre Nachbarn jetzt im Auge behalten soll, weiß Angela Viktorowna aus den Sozialen Netzwerken der Kleinstadt Susemka in der Oblast Brjansk: Als dort die kompletten Daten eines älteren Ehepaares, das an Corona erkrankt war, veröffentlicht wurden, erfuhr Angela Viktorowna, dass sie Tür an Tür mit deren Tochter wohnt – bei der nun auch der Verdacht einer Covid-19-Infektion besteht. „Jetzt warte ich auf ihre Testergebnisse, damit ich weiß, ob ich weiter Angst haben muss oder nicht“, teilt Angela Tschernobajewa ihre Sorge mit uns.
Die persönlichen Daten des an Covid-19 erkrankten älteren Ehepaares waren unmittelbar nach der Diagnose ins Netz gelangt: Am 11. April tauchten auf der größten öffentlichen VKontakte-Seite der Stadt Adresse, Telefonnummern und sogar Informationen zu Kontaktpersonen auf. Insgesamt elf Personen waren von dem Datenleak betroffen – vom Partner der Tochter bis zur Ex-Schwiegertochter. „Und als die Liste mit den Namen [von der VK-Seite] verschwand, haben sich alle aufgeregt: ‚Die verbreiten hier diese Seuche, da müssen wir doch ihre Namen kennen! Was, wenn wir jetzt auch gefährdet sind?‘“, erinnert sich Angela.
Datenleak: Liste mit Namen von Covid-19-Patienten
Die im Netz veröffentlichte Liste sei von einem Polizeibeamten zusammengestellt worden, erklärt Alexej, der Sohn des betroffenen Ehepaares, gegenüber Meduza. „Ich wurde von einem Polizisten ausgefragt, und dann ist das offizielle Dokument im Internet aufgetaucht – wer hat das gemacht? Die Polizei, das Krankenhaus?“, empört sich unser Gesprächspartner. Die Informationen seien für den Verbraucherschutz Rospotrebnadsor des Bezirks Susemsk bestimmt, hatte es in dem Dokument geheißen.
Veröffentlicht wurden nicht nur die Namen, sondern auch die Adressen und Telefonnummern aller Familienmitglieder. „Zwei Tage lang hat mein Telefon keine Ruhe gegeben“, schildert Alexej die Folgen. „Man behandelt uns wie Aussätzige, als hätte ich mir die Beulenpest eingefangen.“
Wissen Sie, dass Sie an Covid-19 erkrankt sind?
In den vergangenen Wochen waren bereits weit größere Mengen personenbezogener Daten von Menschen mit Verdacht auf Covid-19 aus dem Innenministerium ins Netz gelangt. Im April bekam Artjom aus Orenburg einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Die Stimme habe „merkwürdig unhöflich“ geklungen, erinnert sich Artjom, der Anrufer war „seltsam aufdringlich“, rief mehrfach mit derselben Frage an: „Wissen Sie, dass Sie an Covid-19 erkrankt sind?“
Artjoms Privatnummer hatte der anonyme Anrufer aus folgendem Datenleak: Anfang April war im Internet eine Tabelle mit 277 Namen aufgetaucht – die Überschrift lautete: „Personen, die als potentielle Covid-19-Träger unter Bewachung stehen“. Artjom ist überzeugt, dass die Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern echt ist: Seine Familie sei nach einem Auslandsaufenthalt tatsächlich „unter Beobachtung“ gestellt worden, die Polizei war persönlich bei ihm zu Hause, um die Daten aufzunehmen. „Soweit wir sie überprüfen konnten, stimmen alle Angaben überein“, berichtet Artjom. „Dass die Informationen im Netz aufgetaucht sind, ist grob fahrlässig und kriminell.“
„Angesichts der Tatsache, dass die Behörden nach einer Totalüberwachung streben, habe ich keine Zweifel, dass Informationen über Infizierte an die Gesundheitsbehörden, an die Polizei und an alle möglichen ‚operativen Stäbe‘ übermittelt werden“, sagt Damir Gainutdinow. Der Jurist der Moskauer Menschenrechtsorganisation Agora beschäftigt sich derzeit auch mit dem Datenleak in Orenburg. „Die Polizei, aber auch das Gesundheitssystem, der Rospotrebnadsor – auf allen diesen Ebenen sind Sicherheitslücken denkbar.“
Sanitäter postet Testergebnis im Netz
12. April, Ortschaft Schadrinsk, östlich des Ural: Ein älterer Herr mit Mundschutz und Handschuhen betritt ein Lebensmittelgeschäft. Als die Verkäuferinnen ihn sehen, verschwinden sie in einem Nebenraum und tauchen nicht mehr auf; der Mann steht alleine im Laden.
„Mein Vater hat angefangen zu zittern“, erzählt Marina Makruschina, die kurz vorher positiv auf das Coronavirus getestet worden war. „Er hat nichts gekauft, ist einfach wieder gegangen.“
In der Nacht zuvor war Marina Makruschina, die Tochter des älteren Herrn, mit dem Notarztwagen von Schadrinsk ins Gebietskrankenhaus nach Kurgan gebracht worden: Auf der zweistündigen Fahrt gelangte das positive Testergebnis der Patientin auch an die Ohren des Sanitäters. Dieser postete am nächsten Morgen auf der VK-Seite Mitgehört in Schadrinsk, es gebe einen ersten Corona-Fall in der Stadt.
Als in den Kommentaren zum Post Marina Makruschinas persönliche Daten inklusive Adresse und Foto auftauchten, zeigte die junge Frau den Sanitäter bei der Polizei an. Wegen der Offenlegung ihrer Daten verdächtigt sie die Ärzte. „Um der Stadt zu demonstrieren, dass sie arbeiten, haben sie meine Daten weitergegeben“, sagt Makruschina. „Und jetzt sagen alle: ‚Marina Makruschina aus der Straße des Friedens hat das Coronavirus.‘“ (Auf Meduzas Nachfrage zu den Umständen des Datenleaks reagierte das Gesundheitsministerium nicht.)
Hetzjagd in Sozialen Medien
Die Hetzjagd, die nach dem ursprünglichen Post bei VKontakte begann, ging in den anderen Sozialen Netzwerken und Messengern der Stadt weiter. „In privaten Nachrichten und Gruppenchats – über die Arbeit, die Schule – werden meine Fotos geteilt, mit dem Kommentar: ‚Die hat das hier eingeschleppt‘. Man beschuldigt mich, dass ich absichtlich hergekommen sei, um meine Heimatstadt anzustecken!“, sagt Makruschina.
Einige dieser Nachrichten sind Drohungen, die mit mehrdeutigen Grab-Emojis versehen sind. „Mein Telefon hört nicht auf zu klingeln. Auch meine Eltern bekommen ständig Anrufe. Meine Freunde warnen mich: ‚Pass auf dich auf, wenn du zurückkommst: Die warten hier auf dich.‘ In der Stadt schreiben sie, dass man mich steinigen will, dass man sie [die Infizierten] ‚verbrennen‘ und mich ‚in eine Irrenanstalt stecken‘ sollte“, erzählt Makruschina. „So einer Horde ist alles zuzutrauen.“
Gesundheitsministerium schweigt zu den Vorwürfen
In Selenograd [im Norden von Moskau] wurde das positive Ergebnis eines Corona-Schnelltests gleich von dem Arzt verbreitet, der die Familie des Infizierten zu Hause besucht hatte. „Als er aus dem Haus ging, sagte er zu der Frau am Empfang: ‚In Wohnung Nr. 11 gibt es ein positives Ergebnis.‘ Ab da ging es los“, erzählt Jewgenija (Nachname ist der Redaktion bekannt). „Später hat der Chefarzt angerufen und sich entschuldigt.“
Jewgenija erstattete Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, sowohl gegen den Arzt als auch gegen die Empfangsdame, die das Testergebnis jedem mitteilt, der das Haus betritt. „Wenn die Nachbarn nach Hause kommen, sagt sie ihnen direkt ins Gesicht: ‚In Nr. 11 gibt es Corona‘“, erzählt Jewgenija.
Das Gesundheitsministerium wollte sich zu den Umständen der Leaks nicht äußern; unbeantwortet blieb auch Meduzas Frage, welche Maßnahmen das Ministerium ergreife, um die Patientendaten während der Coronavirus-Pandemie zu schützen.
Streit über ärztliche Schweigepflicht
„Uns wurde nahegelegt, die ganze Familie samt Hund zu vernichten“, erzählt Aljona aus Ust-Kut (Nachname ist der Redaktion bekannt). Von dieser Hetzjagd in der Oblast Irkutsk hatte die Komsomolskaja Prawda am 13. April berichtet: Nur 20 Minuten, nachdem die Familie selbst von dem Verdacht auf Covid-19 erfahren hatte, hatten Unbekannte die Nachricht von einem positiven Testergebnis verbreitet. Aljona vermutet, dass die Nachbarn dahinterstecken: „Über Instagram, Whatsapp, Odnoklassniki und VKontakte – überall wurde es geteilt“, erzählt unsere Gesprächspartnerin, die im März im Ausland gewesen ist. „Verbrennen, umbringen, erschießen sollte man diese Mutter! Nicht nur, dass die selbst unbedingt dahin musste, sie hat auch noch die Kinder mitgeschleppt!“
In den Nachrichten „über die Familie, die vor kurzem aus Thailand zurückgekommen ist“ werden die vollständigen Angaben zu den beiden Kindern, Aljonas Mann und ihrem Vater genannt. „Die ganze Familie erschießen“, heißt es in den Kommentaren bei Instagram. „Erschießen und verbrennen.“ Alle Testergebnisse, die die Familie am 15. April zurückbekommen hat, sind negativ.
Einen Streit über die ärztliche Schweigepflicht entfachten viele Posts, die einen Link zur Karte der Infektionen in Moskau geteilt hatten. Seit Ende März veröffentlicht die Internet-Plattform Mash, die von ehemaligen Mitarbeitern des Medienkonzerns Life gegründet wurde, Informationen darüber, „wo jemand in Moskau mit einer Covid-19-Diagnose herkommt“. Woher diese Daten stammen und wie die interaktive Karte aktualisiert wird, ist unbekannt. In den Sozialen Netzwerken werden die Adresslisten rege kommentiert: Die Nutzer tauschen sich über Auslandsreisen ihrer Nachbarn in betroffene Gebiete aus, teilen Kontaktdaten der Infizierten oder vervollständigen die Adressen – zum Beispiel mit dem konkreten Hauseingang, aus dem die Menschen mit dem Krankenwagen abgeholt wurden.
Die Leute sollen sehen, wie schnell sich die Krankheit ausbreitet
„Ich kann nicht ausschließen, dass es auch Trolling geben wird, aber ich will hoffen, dass es nicht zu Handgreiflichkeiten kommt“, sagt Mash-Projektleiter Maxim Ixanow. „Meine Idee war hauptsächlich, dass die Leute sehen sollen, wie schnell sich die Krankheit ausbreitet, und dass sie zu Hause bleiben.“ Woher die Daten in den Karten stammen, legt Mash nicht offen. „Wir sammeln aus verschiedenen Quellen. Viele Informationen erreichen uns über unseren Telegram-Kanal“, erklärt Ixanow. Ob unter den Informanten auch Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden oder Ärzte sind, sagt er nicht.
Der Chef-Epidemiologe der Oblast Wologda hat bereits dazu aufgerufen, Hetzjagden zu unterlassen. „In einer Gefahrensituation unterscheidet sich unser Verhalten nicht im Geringsten von dem von Herdentieren“, sagt Denis Moskwitschenko vom Lehrstuhl für klinische Psychologie an der Moskauer Universität für Zahnmedizin. „Wir beginnen die Interessen derer zu verteidigen, die uns am nächsten stehen: unsere Familienmitglieder, die Gemeinschaft. Das ist ein Schutzinstinkt, der Versuch, eine Situation, die uns gefährlich erscheint, unter Kontrolle zu bringen.“
Nach der Epidemie werden viele gerichtlich gegen solche Datenleaks vorgehen, ist sich Maxim Slobin, Gründer der Agentur für Imagemanagement ISN, sicher. „An uns hat sich zum Beispiel jemand gewandt, der am Coronavirus erkrankt ist und dessen private Daten in einer der Mitgehört-Gruppen veröffentlicht wurden. Die Situation erinnert an eine absurde Hetzjagd – es ging so weit, dass im Hausflur jemand an die Wand schrieb, er sei ‚ein Mörder‘, der ‚uns alle anstecken‘ würde“, erzählt Slobin. „Wenn die Geschichte mit dem Coronavirus vorbei ist, werden Menschen, nach denen sonst kein Hahn kräht, beim Googeln Dinge über sich finden wie ‚Iwan Petrow ist ansteckend und seine ganze Familie böse‘.“
Kaum juristische Handhabe
Ob es gelingen wird, persönliche Daten, die während der Pandemie ins Internet gedrungen sind, per Gerichtsbeschluss entfernen zu lassen, kann Meduza niemand genau beantworten. „Vor dem Coronavirus scheiterten 90 Prozent der Kläger an dem Versuch, ihre persönlichen Daten aus den Suchergebnissen entfernen zu lassen“, erklärt Slobin.
„Laut Artikel 152.2 des Zivilgesetzbuches können Sie zwar verlangen, dass private Informationen aus dem Internet entfernt werden. Aber grundsätzlich ist es sehr schwer, etwas aus dem Internet zu löschen. Solche Dinge werden außerdem in den meisten Fällen über die Sozialen Netzwerke geteilt. Man kann zwar einen Gerichtsbeschluss erwirken, aber die Durchsetzung ist sehr viel schwieriger“, meint auch Gainutdinow.
An eine ordentliche Untersuchung dieser Vorfälle glaubt Gainutdinow nicht. „Als im August 2019 die gesammelten Daten der Teilnehmer an den Moskauer Protesten im Internet verbreitet wurden, leitete das Untersuchungskomitee die Beschwerden der Betroffenen an die Polizei weiter, die Polizei wiederum antwortete, es sei alles ‚okay‘, man sehe ‚keine Hinweise auf einen Straftatbestand‘“, erinnert sich der Jurist. „Auch von Roskomnadsor kam eine formelle Antwort. Deshalb bin sehr skeptisch, was die Erfolgsaussichten auf nationaler Ebene angeht – vor allem, weil der Staat offensichtlich wenig Interesse daran hat, diesen Fällen nachzugehen.“