Der Propagandaapparat der russischen Staatsmedien läuft in Corona-Zeiten auf Hochtouren: Der Virus, so heißt es oft, sei eine biologische Waffe der USA gegen China (oder Iran oder Russland). In der EU herrsche Chaos, die Menschen seien auf sich selbst gestellt, die aufziehende Wirtschaftskrise werde massive Opfer fordern. Insgesamt sei das liberal-demokratische System am Ende, die Ohnmacht der westlichen Politiker gleiche einer Bankrotterklärung.
Laut Staatsmedien gibt es jedoch eine Lösung: Wenn der Westen seine Sanktionen aufhebt, dann könnten China und Russland die restliche Welt retten. China habe bereits eindrückliche Erfolge im Krisenmanagement nachgewiesen, und Russland habe sowieso alles unter Kontrolle: Offiziell gibt es keine Corona-Toten und auch die vergleichsweise niedrige offizielle Zahl von 438 Corona-Infizierten sei Zeugnis für die umsichtige Politik des Kreml.
Viele russische Experten jedoch zweifeln sowohl diese Zahlen an als auch die Wirksamkeit der bislang beschlossenen Maßnahmen gegen den Coronavirus. Auch Wassili Wlassow gehört dazu: In The Insider fragt der Epidemiologe nach der Verlässlichkeit russischer Statistiken – und ob die Gesundheitspolitik des Landes tatsächlich gewappnet ist für die Pandemie.
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Russische Statistiken sollte man weder für zutreffend noch für vertrauenswürdig halten. Sogar die Statistiken zu Geburten- und Sterberaten sind in Russland unzuverlässig. Russische Demographen, die im internationalen Vergleich zu den Bestqualifizierten auf ihrem Gebiet gehören, haben die Zuverlässigkeit der Statistiken zu Geburtenraten und Sterblichkeit untersucht und kamen zu dem Schluss, dass man lediglich den Ganzjahresergebnissen vertrauen könne. Die Quartalsergebnisse dagegen seien äußerst zweifelhaft und würden teilweise ganze Regionen aussparen. Und dies, obwohl wir es hier mit langsamen Entwicklungen und gut berechenbaren Ereignissen zu tun haben: Geburt und Tod. Doch sogar diese Daten schwanken, und es ist oftmals nicht nachzuvollziehen, wo der Fehler liegt. Darüber hinaus gibt es sogar hier Raum für Manipulation.
Noch keine Corona-Routine
Was die derzeitige Situation betrifft, so ist sie erstens viel weniger geregelt und sehr viel ungenauer einzuschätzen. Das liegt daran, dass jede Statistik auf entsprechenden Daten beruht. Diese statistischen Daten werden in regelmäßigen Abständen erhoben – einmal im Monat oder einmal in der Woche. Daten zu epidemischen Erkrankungen – wie Tuberkulose, Ruhr und so weiter – werden routinemäßig häufiger erhoben. Ich bin jedoch sicher, dass das Coronavirus nicht dazugehört und daher noch keine tägliche Routine besteht. Wahrscheinlich wissen die Menschen, dass sie jeden Tag berichten müssen, nur ist es noch keine alltägliche Routine.
Zweitens herrscht in allen Regionen ein Kampf. Und je nachdem, was im Kopf eines Funktionärs im Gesundheitsamt vorgeht, kann er den Informationsstrom verlangsamen oder die Dinge anders darstellen als sie sind. Es gibt viele Gründe, Meldungen zurückzuhalten oder Fakten absichtlich zu verzerren.
Probleme mit der Diagnostik
Und schließlich drittens: Es gibt sowohl in Russland als auch in anderen Ländern Probleme mit der Diagnostik. Wenn sich eine Epidemie ausbreitet, so stellt man die Zahl der Erkrankten fest, indem man diejenigen Personen erfasst, die mit ihren Symptomen den „Normkriterien“ entsprechen. Zunächst fällt unter diese Definition ein Mensch, der sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufhielt und nun unter Fieber und trockenem Husten leidet – dann wird er statistisch erfasst. Mit dem Aufkommen neuer diagnostischer Mittel verändert sich die Definition der Normkriterien jedoch, und es kommt zu einer Neuberechnung. Wenn man sich die Grafiken über die Entwicklung in China anguckt, kann man sehen, dass die Zahl der Erkrankten um den 8. Februar herum einen Höhepunkt erreicht. Und warum? Weil die Chinesen ihre Normkriterien neu definiert haben, woraufhin Menschen, die mit ihren Symptomen am Tag zuvor der Definition der Krankheit noch nicht entsprachen, plötzlich ebenfalls in die Kategorie fielen.
Die Fallzahlen sind noch nicht allzu hoch, aber um die Entwicklung einzuschätzen, schauen wir uns an, mit welcher Geschwindigkeit die Zahlen steigen. Derzeit erleben wir einen raschen Anstieg der Erkrankungsfälle, wir haben zur Zeit eine sehr hohe Wachstumsrate. Die Anfangsphase einer Epidemie ist durch exponentielles Wachstum gekennzeichnet. Während die Verdopplungszeit der Fälle bei den schweren Epidemien in Europa, in Italien und Frankreich, drei bis fünf Tage betrug, betrug sie bei uns in den letzten Tagen, in denen der Anstieg der Zahlen begann, weniger als zwei Tage. Das bedeutet, dass in zehn Tagen die Zahlen um das Tausendfache zunehmen werden.
Manipulation von Meinung
Darüber hinaus möchte ich noch einmal unterstreichen, dass wir den Zahlen, die uns vorliegen, nicht uneingeschränkt vertrauen können. Kürzlich sagte der angesehene Politologe Waleri Solowei, man habe ihm zugetragen, dass bereits 1600 Menschen [in Russland – dek] am Coronavirus gestorben seien. Er verweist sehr oft auf unbekannte Staatsdiener, die ihm Informationen „zugespielt“ hätten. So auch diesmal. Wie können wir sicher sein, dass er nicht selbst Opfer von Fehlinformationen ist? Umso mehr, da die Situation im Land momentan so ist, dass man aus politischen Erwägungen die öffentliche Meinung gezielt manipulieren kann.
Als Beispiel für eine solche Manipulation kann man den Erlass sehen, am 22. April über die Verfassungsänderungabzustimmen. Dies ist auch eine Folge dessen, dass die Regierung so stark ist – in jedem beliebigen Moment kann sie sagen: „Kommt, wir verschieben es um einen Monat. Das kostet uns ein paar Milliarden, aber was soll’s.“ Den Obersten ist das egal, sie können die Dinge jederzeit ändern, wenn sie wollen.
Ist der Virus in Russland weniger bösartig?
Es ist unmöglich, Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich die Situation in Russland entwickeln wird: ob so ähnlich wie in Italien oder schlimmer. Jeder, der sich darüber mit Überzeugung äußert, ist ein Schwachkopf. Erstens herrscht eine starke Ungewissheit hinsichtlich der Zahl der Erkrankten. Zweitens, wenn sich die Epidemie bei uns tatsächlich langsamer ausbreitet und die Daten stimmen sollten, kann dies zum Beispiel auch bedeuten, dass wir eine weniger bösartige Form des Virus haben. Der Virus mutiert schnell, seit November sind mehr als 20 Mutationen aufgetreten. Die Italiener haben möglicherweise eine besonders bösartige Form und die Koreaner vielleicht nicht.
Das Problem ist auch, dass die Möglichkeit unseres Gesundheitssystems, Massen von schwerkranken Patienten zu behandeln, gegen Null geht. Darüber hinaus haben wir ein sehr schlechtes Verwaltungssystem. So befindet sich zum Beispiel das epidemiologische Kontrollzentrum beim Rospotrebnadsor, während die Gesundheitsversorgung dem Gesundheitsministerium untersteht. Dieses wird jedoch nicht gerade von Experten geführt.
„Liberal“ kann in der russischen Sprache heute vieles bedeuten. Der Begriff hat mehrere Wandlungen durchgemacht und ist nun zumeist negativ besetzt. Oft wird er verwendet, um Menschen vorzuwerfen, sie seien unfähig, schwach und widersetzten sich dem Staat nur, weil sie zu nichts anderem in der Lage seien. Das liberale Credo vom Schutz der Menschen- und Eigentumsrechte, so heißt es oft, lenke davon ab, dass unter liberaler Führung der Staat zugrunde gehen würde.
Putin nawsegda (dt. Putin für immer) kommentieren manche Medien die Verfassungsänderung. Putin kann im Amt bleiben auch nach 2024: War das ein Teil seines Plans? Wird er dazu gedrängt? Oder bietet sich einfach eine günstige Gelegenheit? Eine Debattenschau.
Wie war das eigentlich Anfang der 1990er Jahre? Welche Fehler der Westen damals in Russland begangen hat und was er heute zusammen mit Russland tun kann, um sie zumindest ein bisschen zu korrigieren, kommentiert der Historiker und Spezialist für russisch-amerikanische Beziehungen Ivan Kurilla.
Mangelnde Aufklärung und soziales Stigma behindern den Umgang mit der Krankheit. Dazu kommt eine wachsende Politisierung des Themas: Stimmen, die die Existenz der Krankheit leugnen oder hinter ihr ein Komplott äußerer Kräfte vermuten, werden lauter.
Am 10. März stimmt die Duma in zweiter Lesung über die Verfassungsänderung ab. Vielen kommt diese skurril vor – doch auch Kremlsprecher Dimitri Peskow steht offenbar vor einigen Rätseln.
Vor dem Betrachter entfaltet sich eine utopische Stadtlandschaft: Einförmige Plattenbauten, gehalten in Blautönen, umringt von Parkanlagen und Springbrunnen reihen sich hintereinander in die Ferne; das deutlich umrissene Oval eines Stadions, Hochhäuser und rauchende Fabrikschlote sind zu sehen. Dazwischen seltene, kaum wahrnehmbare Punkte: die Menschen. Als würde sie diese Utopie umarmen, reckt im Vordergrund eine lächelnde Frau in weißem Kittel und weißer Haube ihre Arme empor. Sie ist das sowjetische Ideal einer Ärztin: eine Halbgöttin in Weiß. Über der Abbildung prangt das Staatswappen der Sowjetunion, eine Inschrift besagt: „Die Gesundheit des Menschen ist Gemeingut des Volkes“.
Es gibt wohl keine treffendere Allegorie auf das Gesundheitswesen der UdSSR als dieses Plakat von 1971. Es wirkt wie eine Illustration zur These des US-amerikanischen Soziologen und Medizinforschers Mark Field. Dieser sagte, dass das Gesundheitssystem der Sowjetunion keine Privatangelegenheit sei, sondern ein Dreieck bilde: Über dem Arzt und dem Patienten schwebt immer der Staat.1
Das heutige russische Gesundheitssystem ist in vielerlei Hinsicht das Erbe des sowjetischen Modells. Alle noch so tiefgreifenden Veränderungen stehen im Dialog mit der sozialistischen Vergangenheit – indem sie sie entweder ablehnen oder, im Gegenteil, reproduzieren. Die Dialektik von staatlicher Kontrolle und Liberalisierung bestimmt heute die Arbeitsweise der russischen Medizin
Das sowjetische Gesundheitswesen war zentralisiert und hierarchisch. Die Schlüsselrolle übernahm darin der Staat: Er garantierte allumfassenden Zugang zur medizinischen Versorgung für alle Bürger und übernahm Planung und Finanzierung. Private medizinische Praxis war in diesem Modell nicht vorgesehen, die Versorgung erfolgte ausschließlich in staatlichen Einrichtungen.
Das sowjetische System
Der Patient galt in diesem System als unwissend und unfähig, eigenverantwortliche Entscheidungen hinsichtlich seiner Gesundheit zu treffen. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient war auf Paternalismus gegründet. Diese Besonderheit illustriert der allseits bekannte sowjetische Witz: Ein Patient erwacht nach einer OP und will wissen, wohin man ihn bringt. „Leichenhalle“, antwortet man ihm. „Vielleicht doch lieber auf die Station?“ „Wer wird sich denn hier selbst behandeln! Der Arzt hat gesagt, Leichenhalle, also geht’s in die Leichenhalle!“
Das Versorgungssystem war nach dem Prinzip der geografischen Abdeckung und dem Grad der Komplexität organisiert: Von ländlichen medizinischen Einrichtungen, die oft nur eine Grundversorgung garantierten, bis hin zu gut ausgestatteten Kliniken auf Ebene der Sowjetrepubliken. Die Ressourcen zwischen diesen Einrichtungen waren ungleich verteilt. In der spätsowjetischen Zeit waren die Kliniken des Verteidigungsministeriums, aber auch Spezialkrankenhäuser für Vertreter der sowjetischen Elite, privilegiert – hier konzentrierten sich die besten Ärzte und die beste medizinische Ausstattung. Am anderen Ende der Hierarchieleiter befanden sich die Kranken- und Entbindungsstationen auf dem Land sowie Bezirkskrankenhäuser, in denen es spürbar an finanziellen Mitteln und medizinischem Personal mangelte.
Trotz seiner offensichtlichen Unzulänglichkeiten gehörte das sowjetische System zu den effektivsten seiner Zeit, wenn es um die Verwaltung und den Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung ging. Im Vorfeld der Perestroika mussten die sowjetischen Ärzte zwar den Rückstand hinter der europäischen und amerikanischen Medizin anerkennen, aber was die Organisation der Gesundheitsversorgung betraf, hatte die Sowjetunion zukunftsweisende Erfahrungen vorzuweisen, an denen sich die internationalen Gemeinschaft orientieren konnte.2
Gesundheit unter Marktbedingungen
Nach dem Zerfall der UdSSR stand das gesamte Gesundheitssystem vor einer Herausforderung: Es musste sich an die Bedingungen der Marktwirtschaft anpassen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat das russische Gesundheitswesen eine Reihe von Reformen durchlaufen. Im ersten Jahrzehnt erlebte die medizinische Versorgung eine rasante Kommerzialisierung bei gleichzeitiger Liberalisierung ihrer Verwaltung. Staatliche Krankenhäuser und Polikliniken boten zunehmend auch kostenpflichtige Dienstleistungen an, parallel dazu entwickelte sich auch der private Medizinmarkt. Insgesamt ging man damals davon aus, dass die Ressourcen im neuen System nicht nach einem Plan des Ministeriums verteilt, sondern „dem Kunden folgen“ würden.
Um dieses Prinzip in die Tat umzusetzen, wurde ein Krankenversicherungssystem entwickelt, das sich aus einer obligatorischen (OMS) und einer freiwilligen Versicherung (DMS) zusammensetzte. Die medizinische Versorgung im Rahmen der Pflichtversicherung blieb für den Patienten kostenfrei und wurde aus Steuergeldern finanziert, in Einzelfällen auch aus dem Staatshaushalt. Die freiwillige Versicherung dagegen sah vor, dass die Patienten auf eigene Kosten oder aber auf Kosten des Arbeitgebers eine Zusatzpolice abschließen, die die Behandlung in Privatkliniken oder den kostenpflichtigen Abteilungen staatlicher Krankenhäuser ermöglicht.
Die Auswirkungen der rasanten Reformen der 1990er Jahre auf die Medizin waren zwiespältig. Einerseits führte die Einschränkung der Rolle des Staates und der staatlichen Investitionen in das Gesundheitssystem zu wachsender Ungleichheit beim Zugang zur medizinischen Versorgung. Einkommensschwache Bevölkerungsgruppen und Bewohner entlegener Gebiete sahen sich mit der Situation konfrontiert, dass es in den Krankenhäusern an Verbandszeug und grundlegenden Medikamenten fehlte. Andererseits veränderte sich die Stellung des Patienten innerhalb des Gesundheitssystems maßgeblich. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit ging vom Staat auf den Einzelnen über – die Menschen waren plötzlich gezwungen, sich zu informieren und Entscheidungen zu treffen, ihnen zustehende Garantien einzufordern oder nach vertrauenswürdigen Privatkliniken zu suchen.
Die Verantwortung des Staates: Rhetorik und Praxis
Seit Beginn der 2000er Jahre kehrt die Sozialpolitik wieder zunehmend zu dieser sowjetischen Idee von der Verantwortung des Staates für die Gesundheit seiner Bürger zurück. So sprach Wladimir Putin bereits 2001 von einer staatlich garantierten „vollumfänglichen medizinischen Grundversorgung für die Bevölkerung“3. Allerdings passt diese Rhetorik nicht immer mit der institutionellen Gewährleistung zusammen: Das Versprechen von staatlichen Garantien verläuft parallel zum sogenannten „Optimierungsprozess“ des Gesundheitswesens.
Die Effizienz medizinischer Leistungen wird nicht mehr nach rein medizinischen Kriterien beurteilt, sondern anhand ökonomischer Faktoren. Die Wirtschaftlichkeit medizinischer Einrichtungen spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Im Zuge dieser „Optimierung“ wurden zahlreiche kleinere Krankenhäuser und Polikliniken geschlossen und ihre Funktionen auf regionale Institutionen übertragen. In der Folge sank die Zahl der Ärzte und der verfügbaren Leistungen in den Regionen.4
Reformen, die den Einfluss des Marktes erhöhen und den Übergang von einer Haushaltsfinanzierung zum Versicherungsmodell gestalten sollten, verfehlten ebenfalls ihr Ziel. Die Pflichtversicherung konnte sich nicht als eigenständiger Mechanismus zur Verteilung der finanziellen Ressourcen etablieren, sondern fungiert eher als zusätzliches Glied in der Kette, die die staatlichen Mittel in die medizinischen Einrichtungen transportiert.
Obwohl die Bürger seit den 1990er Jahren immer mehr für ihre Gesundheit ausgeben, bleibt der Anteil derjenigen, die eine freiwillige Versicherung abschließen oder eine Privatklinik aufsuchen, vergleichsweise gering: Nur knapp ein Viertel der Russen nimmt die Zusatzversicherung in Anspruch.5
Eine Sonderstellung innerhalb des Finanzierungssystems nehmen die sogenannten wsjatki ein: informelle, direkte Gelder der Patienten an die behandelnden Ärzte. Trotz der insgesamt sinkenden Tendenz dieser Praxis wird das Gesundheitswesens immer noch erheblich über solche Gelder finanziert, zumal Ärzte an staatlichen Einrichtungen in der Regel unterdurchschnittlich verdienen.6
Die wachsende Ungleichheit und die Unbeständigkeit des Gesundheitssystems führen schließlich dazu, dass das Vertrauen in die Medizin Umfragen zufolge weiter sinkt.
Am Beispiel der Vorsorge und Behandlung onkologischer Erkrankungen werden die Besonderheiten des Gesundheitssystems am deutlichsten. Dem Problem der Krebserkennung und -behandlung wird in Russland erklärtermaßen viel Aufmerksamkeit geschenkt: Es ist Bestandteil von föderalen Zielprogrammen und nationalen Projekten. Die Höhe der Mittel, die in die Diagnostik und Behandlung, die Ausbildung des medizinischen Personals und die Ausstattung der Krankenhäuser mit moderner Technik fließen, lassen auf ein hohes Interesse des Staates auf diesem Gebiet schließen. 17 Forschungsinstitute sind in Russland im Bereich der Onkologie tätig, regelmäßig finden große Konferenzen statt.
Aber auch hier herrscht eine Diskrepanz zwischen den Anforderungen, die an die Ärzte gestellt werden, und den strukturellen Möglichkeiten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.
Eine Schlüsselrolle bei der Diagnostik von onkologischen Erkrankungen spielen die Ärzte der Polikliniken. Ihre Aufgabe ist es, Symptome so früh wie möglich zu erkennen und den Patienten an einen Facharzt für Onkologie zu überweisen. Doch in der Praxis wird die Arbeit der Ärzte durch eine Reihe von Faktoren erschwert: Die oben genannte „Optimierung“ führt dazu, dass Ärzte innerhalb eines Dienstes eine größere Anzahl von Patienten versorgen und dabei die medizinische Leistung mit einer arbeitsintensiven bürokratischen Dokumentation vereinbaren müssen. Oft fehlt es den Poliklinik-Ärzten zudem an Vorwissen auf dem Gebiet der Onkologie. Das führt dazu, dass über ein Drittel aller onkologischen Erkrankungen in Russland erst in späteren Stadien festgestellt werden7, was wiederum eine hohe Sterblichkeit zur Folge hat.
Obwohl die Behandlung von onkologischen Erkrankungen in den staatlichen Einrichtungen offiziell kostenfrei ist, wenden sich Patienten oft gleichzeitig an private Institute. So gehen sie beispielsweise mit ihren Beschwerden in eine staatliche Klinik, aber um die monatelangen Wartezeiten zu vermeiden, lassen sie die notwendigen Untersuchungen in einer Privatpraxis machen oder bezahlen in der staatlichen Einrichtung dafür. Familien müssen häufig selbst für die Kosten für Anfahrt und Unterkunft aufkommen, die durch die Behandlung in einer anderen Stadt entstehen. Insgesamt wird der Behandlungs- und Genesungserfolg zu einem wesentlichen Teil von dem Einsatz und den Ressourcen der Patienten und ihres unmittelbaren Umfelds bestimmt.
Nicht der Staat allein
Einige der strukturellen Probleme und institutionellen Einschränkungen der russischen Medizin werden durch die Arbeit von nichtkommerziellen Organisationen kompensiert. In Russland existiert eine ganze Reihe von gemeinnützigen Stiftungen, wie etwa die Stiftung Podari Shisn [Schenke Leben], die sich um schwerkranke Kinder kümmert, die Konstantin-Chabenski-Stiftung, die Kindern mit Gehirnerkrankungen hilft, oder die Sankt Petersburger Stiftung AdVita, die Kinder und Erwachsene mit onkologischen Erkrankungen unterstützt.
Diese Organisationen erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen: angefangen bei der Aufklärung und der Begleitung der Patienten mit Informationen über die Anschaffung der nötigen Geräte und Medikamente bis hin zur Behandlung im Ausland. Nicht selten nehmen die NGOs eine aktive Position in der Gesetzgebung auf dem Gebiet der Medizin ein, prägen die politische Agenda und treten als Experten auf.
Besondere Bedeutung erlangte die Arbeit der Stiftungen in den letzten Jahren, wenn es um Importsubstitutionen ging: 2014 trat in Russland ein Gesetz in Kraft, das die Verwendung von importierten medizinischen Geräten und Medikamenten in staatlichen Einrichtungen einschränkt. Das Gesetz stellte viele Ärzte und Patienten vor Probleme, denn einheimische Präparate und Geräte sind hinsichtlich Qualität und Patientenkomfort nicht immer mit den ausländischen vergleichbar. Hier sind gemeinnützige Stiftungen und NGOs diejenigen, die einerseits Patienten mit seltenen genetischen Erkrankungen oder Krebspatienten bei der Beschaffung von notwendigen Medikamenten unterstützen – und andererseits eine breite öffentliche Debatte über das Problem anstoßen, wobei sie auch staatliche Akteure einbeziehen.
Prinzip Eigenverantwortung
Auf das Plakat von 1971 zurückkommend kann man fragen: Hat sich die russische Medizin seit damals verändert? Haben die zahlreichen Reformen zu einem wirklichen Wandel geführt? Einerseits bleibt der Staat trotz der wirtschaftlichen Umbrüche in der Gesundheitsversorgung der Hauptakteur: Sowohl Ärzte als auch Patienten sind von staatlicher Finanzierung und den Entscheidungen der Regierung abhängig. Grundlegende Leistungen der Gesundheitsfürsorge – angefangen bei der Vorsorgeuntersuchung bis hin zum Notarzteinsatz und Abdeckung hochtechnisierter medizinischer Versorgung – liegen in der Verantwortung des Staates. Der Zugang zu diesen Leistungen und ihre Qualität entsprechen jedoch bei weitem nicht immer den Bedürfnissen der Patienten. Häufig müssen die Menschen selbst für die Behandlungen aufkommen, oder sie sind auf die Hilfe von NGOs und gemeinnützigen Stiftungen angewiesen. Angesichts der unzureichenden staatlichen Unterstützung muss die nächste Generation notgedrungen bereit sein, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, in die medizinische Versorgung zu investieren und als Bürger aktiv zu werden.
1.Field, M. G. (1957). Doctor and patient in Soviet Russia. Cambridge, Mass., S. 266. ↑
2.Geltzer A. (2012) Surrogate Epistemology: the Transformation from Soviet to Russian Biomedicine. PhD Dissertation. Cornell University ↑
5.Šiškin S. V., Vlasov V. V., Kolosnicyna M. G., Bojarskij S. G., Zasimova L. S., Kuznecov P. P., Ovčarova L. N., Chorkina N. A., Šejman I. M., Stepanov I. M., Ševskij V. I., Jakobson L. I. (2018): Zdravoochranenie: neobchodimye otvety na vyzovy vremeni. Sovmestnyj doklad Centra Strategičeskich Razrabotok i Vysšej školy ėkonomiki ot 21.02.2018 g.- 56 s., in: Ruk.: S. V. Šiškin. M. (2018): Centr strategičeskich razrabotok. ↑
Korruption ist in Russland weit verbreitet – sowohl in Politik und Wirtschaft als auch im Alltagsleben. Korruption, die nicht zuletzt durch niedrige Gehälter befördert wird, kommt in zahlreichen Variationen vor: gegenseitige Gefälligkeiten, Tausch unter der Hand, Abzweigung staatlicher Mittel, Bestechungsgelder und vieles mehr. Da die Korruption systemischen Charakter angenommen hat, ist vorerst nicht damit zu rechnen, dass sie wirksam bekämpft werden kann.
Weit verbreitet sind in Russland Proteste zu Sozialthemen wie Lohnrückstände, Sozialabbau oder LKW-Maut. Im Gegensatz zu Protestaktionen der Oppositionellen und Aktionskünstler wird jedoch über sie gerade von den westlichen Medien selten berichtet. Die Aktionsformen reichen vom Bummelstreik bis zur Selbstverbrennung. Von einigen Beobachtern als unpolitisch abgetan, gilt der Sozialprotest anderen als der wahrhaft politische, da es um konkrete Interessen statt eines abstrakten Wandels geht.
Der Zustand des russischen Gesundheitssystems ist alarmierend, schreibt ein Kardiologe und Klinikleiter. Vor allem die Ausbildung muss dringend reformiert werden, will man nicht die Patienten in Gefahr bringen.
Ruf nach sozialer Gerechtigkeit: In aktuellen Umfragen wird deutlich, dass viele Russen mit dem Status Quo unzufrieden sind. Die Mehrheit wünscht sich nicht so sehr Stabilität und harte Hand, als vielmehr Veränderung. Aber welcher Art? Soziologe Wladimir Petuchow warnt davor, gleich auf Revolution und Perestroika zu schließen und stellt die aktuellen Zahlen in einen größeren Kontext.
Mangelnde Aufklärung und soziales Stigma behindern den Umgang mit der Krankheit. Dazu kommt eine wachsende Politisierung des Themas: Stimmen, die die Existenz der Krankheit leugnen oder hinter ihr ein Komplott äußerer Kräfte vermuten, werden lauter.
Ildar Dadin hatte mehrfach friedlich in Moskau demonstriert und war dafür vor zwei Jahren zu Gefängnis verurteilt worden. Nun hat der Oberste Gerichtshof die Strafe aufgehoben. Dadins Form des Protests war das Piket, ein kleinerer, stationärer Ausdruck des Nichteinverstandenseins. Oft wird er von Einzelnen veranstaltet und war lange Zeit ohne Anmeldung möglich – bis die Bedingungen für diese Protestform mehrmals verschärft wurden.
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