Am Mittwoch, 25. März 2020, hat sich Wladimir Putin in einer Fernsehansprache an die russischen Bürger gewandt – zum ersten Mal seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Nachdem es noch wenige Tage zuvor aus dem Kreml hieß, dass Russland alles unter Kontrolle hat, die offizielle Zahl der Infizierten mit wenigen Hundert sehr niedrig war und die der Corona-Toten lange bei Null lag, kündigte er nun Maßnahmen an: Die Abstimmung über die Verfassungsänderung ist verschoben, die meisten Bürger bekommen ab dem 30. März eine arbeitsfreie Woche, mit Lohnfortzahlung.
Nach der Fernsehansprache Putins beschlossen mehrere Regionen Maßnahmen gegen die Pandemie. Zuvor war vor allem Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin mit einzelnen Beschränkungen vorangegangen. Offiziell gibt es in dem rund 144-Millionen-Einwohner-Land gegenwärtig (Stand: 27. März) 1036 Corona-Infizierte (703 davon in Moskau), drei Menschen sind bislang an den Folgen einer Corona-Infektion verstorben. Staatsnahe Medien vermitteln derzeit den Eindruck, dass ein Ruck durch Russland geht. Iwan Dawydow glaubt dagegen, dass die Maßnahmen in der Gesellschaft eher Verwirrung stiften: Auf The New Times argumentiert der Journalist, dass der Kreml widersprüchliche Signale sendet – und damit Menschenleben riskiert.
Nun denn, eine Woche Ferien also – mit Lohnfortzahlung (allem Anschein nach auf Kosten der Arbeitgeber), und als kleiner Trost für die Arbeitgeber Steuervorteile für kleine und mittlere Unternehmen, ein Schuldenmoratorium für das nächste halbe Jahr, Hilfe für Familien mit Kindern, Zahlungen an Veteranen, und die Verschiebung der Abstimmung über die Verfassungsänderung auf unbestimmte Zeit. Das ist der unvollständige Maßnahmenkatalog, den Präsident Wladimir Putin gestern in seiner Ansprache die Bürger genannt hat.
Aber das Wichtigste an dieser Ansprache waren nicht mal die vorgeschlagenen Maßnahmen, sondern erstens die Tatsache, dass sie stattfand, zweitens ihr Kontext und drittens einige stilistische Besonderheiten am Auftritt des Präsidenten.
Aufrichtiges Eingeständnis: Die Sache ist ernst
Die ungeplante Ansprache (erst am Mittwoch wurde bekannt, dass Putin zum Volk sprechen will) ist ein aufrichtiges Eingeständnis: Die Regierung hat beschlossen, ohne Umschweife zu erklären, dass die Sache mit dem Coronavirus sehr ernst ist. Naja, zumindest fast ohne Umschweife. Ziemlich lang sah schließlich alles danach aus, als habe man entschieden zu lügen und zu versuchen, möglichst kein Aufheben darum zu machen – sei es, um Panik zu vermeiden oder um die berüchtigte Abstimmung über die Verfassungsänderung durchzuziehen.
Es hatte geheißen, man habe eine Rekordzahl an Tests durchgeführt – gar mehr als in allen Ländern Europas zusammengenommen – und es gäbe nur einzelne Infektionsfälle. Allerdings gab es zunächst im ganzen Land nur ein einziges Labor, das die Proben überhaupt auswerten konnte – und zwar in Nowosibirsk.
Die Stunde des Sergej Sobjanin
Die Lage änderte sich erst in den vergangenen eineinhalb Wochen. Die Zahl der offiziell Infizierten schnellte in die Höhe auf einige Hundert. Allerdings hieß es laut offiziellen Daten, dass in ganz Russland niemand am Coronavirus gestorben sei. Es wurde ein Kontrollgremium gebildet, das die Ausbreitung der Infektion überwachen soll und von Sergej Sobjanin geleitet wird. Und außerdem gibt es einen Koordinationsrat der Regierung unter der Leitung von Premier Michail Mischustin.
Glaubt man den Gerüchten, ist Sobjanin jetzt der Mann in der Regierung, der den Ernst der Lage besser verstanden hat als alle anderen. Einfach deswegen, weil er nicht zum Sündenbock gemacht werden will, wenn sich alles nach italienischem Szenario entwickelt. Er war es, der beim Treffen mit dem Präsidenten am 24. März erklärte, dass die „Ansteckung hochdynamisch“ verläuft, dass in den Regionen „keiner weiß, wie die Lage wirklich ist“ und die lokalen Behörden einfach keine Ahnung haben, was zu tun ist. Natürlich gewinnt Sobjanin an politischem Gewicht, wenn er als größter Alarmist der Regierung auftritt. Wenn alles vorüber ist, hat er die Chance als einer der einflussreichsten Politiker des Landes dazustehen, der alle Konkurrenten aus Putins engstem Kreis beiseite gedrängt hat.
Plakative Unbedachtsamkeit
Die Fahrt des Präsidenten ins Infektionskrankenhaus von Kommunarka am Montag – übrigens, in Begleitung von, genau, Sobjanin – war das erste Signal: Die höchste Staatsspitze ist – endlich – bereit anzuerkennen, dass in Russland, genauso wie in anderen Ländern, eine echte Gefahr droht. Davon schienen auch die Aufnahmen aus dem Krankenhaus zu sprechen: Der Präsident im gelben Schutzanzug (der US-amerikanischen Firma DuPont) hat klar erkannt, was er riskiert, und versucht, die Risiken zu minimieren.
Übrigens begrüßte er unmittelbar danach – dann ohne jeglichen Schutz – den Chefarzt der Klinik mit Handschlag. Nachdem alle die Schutzanzüge ausgezogen hatten, trug nur noch einer der hochrangigen Gäste seinen Mundschutz, nämlich der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow. Diese plakative Unbedachtsamkeit, diese Halbherzigkeit ist zentral im Umgang mit Bedrohungen. Ich komme später nochmal darauf zurück.
Kapitän, der vom Schiff flieht
Doch zunächst eine weitere kleine Überlegung: Einer der Gründe für seinen Besuch im Krankenhaus könnte die am Vortag auf Telegram und in sozialen Netzwerken verbreitete Meldung gewesen sein, dass Putin angeblich aus Moskau in seine Residenz in Waldai evakuiert wurde, „mit seiner Familie und seinem geliebten Pony“. Es ist natürlich nicht klar, was für eine „Familie“ das ist, aber im Großen und Ganzen sind die Gerüchte ziemlich kränkend: Ein Kapitän, der vom Schiff flieht – das hat Geschmäckle. Der Besuch in Kommunarka war die wirksamste Widerlegung dieser Gerüchte.
Und am Mittwoch hieß es ausdrücklich: „Als Ergebnis der vielen stundenlangen Sitzungen, die zuvor stattfanden“, musste sich der Leader an das Volk wenden.
All diese Ereignisse bilden den Kontext der improvisierten Ansprache des Präsidenten an das Volk. Was sind die wichtigsten Schlussfolgerungen daraus? Erstens erkennt der Kreml den Ernst der Lage an. Keiner kann mehr so tun, als würde das globale Unheil Russland verschonen. Im weiteren Verlauf wird es noch schwieriger, und es wird ganz bestimmt nicht nur eine Woche so weitergehen.
Keiner kann mehr so tun, als würde das globale Unheil Russland verschonen
Allein die Ankündigung, dass der Präsident sich an das Volk wenden wird, hat die Öffentlichkeit aufgewühlt. Genauso haben sie auch die Neuigkeit selbst aufgenommen: Es ist alles sehr ernst, und das ist nun auch offiziell. Der Präsident hat sich [mit der Ansprache – dek] traditionsgemäß um mehr als eine Stunde verspätet, was die Nervosität nur steigerte. Putin war in sozialen Netzwerken in und den Medien dafür gescholten worden, dass er keine offizielle Position verkündet hatte, obwohl sich bereits alle europäischen Staats- und Regierungschefs dazu geäußert haben. Wenn er sich nun doch vor die Kameras stellt, dann bedeutet dies, dass Herumdrucksen nicht mehr möglich ist.
Zweitens geben die Behörden zwar zu, dass die Situation ernst ist, sie scheuen sich aber davor, dies ohne Umschweife zu sagen. Putin wählte äußerst schwammige Formulierungen, um den Grund seiner Ansprache zu verdeutlichen: „Dank der im Vorfeld getroffenen Maßnahmen sind wir noch immer in der Lage, sowohl die weite Streuung als auch die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Krankheit einzudämmen.“ Das Unheil herrscht weiterhin irgendwo da draußen, weit hinter den Grenzen Russlands, wir aber bereiten uns vor und nutzen den Vorsprung. Und selbst die eine Woche Quarantäne nannte der Präsident nicht Quarantäne, sondern Ferien.
Als ob es bei uns keine Epidemie gäbe, sondern Feiertage. Übrigens, während die Leute auf die Ansprache warteten, sind schon ungeduldige Witze zu diesem Thema aufgetaucht: „Der Präsident im Fernsehen, aber irgendwie kommt keine Silvesterstimmung auf.“
Zudem ist das auch keine Quarantäne: Schwer vorstellbar, dass die Russen in einer bezahlten Urlaubswoche zu Hause sitzen werden, auch wenn Cafés, Restaurants und andere Vergnügungseinrichtungen geschlossen werden. Die Sonne scheint, das Wetter wird besser, die Leidenschaft für Schaschlik hat noch keiner verboten, und auch die Liebe zur Disziplin hat uns bislang niemand eingeimpft.
Um Panik zu vermeiden, sendet der Staat – trotz Eingeständnis der Gefahr – dem Volk weiterhin widersprüchliche Signale. Er setzt weiterhin das Leben der Bevölkerung aufs Spiel und baut dabei auf das „russische gut Glück“ – wovon Putin noch dringlichst abgeraten hatte.
Und Hand aufs Herz: Wir glauben doch wohl kaum, dass eine strenge Quarantäne po-russki so aussehen wird wie in den Videos aus europäischen Städten. Wohl kaum werden die Nationalgardisten – wie die spanischen Polizisten – improvisierte Konzerte für die Menschen in Quarantäne geben. Aber die Regelbrecher schlagen, einfangen, den Knüppel schwingen – das können sie (zumal sich die Duma gerade jetzt an eine Verschärfung der entsprechenden Gesetze gemacht hat) schon eher.
Und dann überleg nochmal, was schlimmer ist: die Epidemie oder eine russische Quarantäne, sinnlos und erbarmungslos.