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Editorial: Good bye, dekoder!

Quelle dekoder

Good bye, dekoder,

oder, wie es natürlich besser heißen sollte: До свидания! Nein, keine Sorge: dekoder wird weiter Russland entschlüsseln. Aber nun sind die Redakteure die alleinigen Herren und Damen im Haus! Und ich kehre, zwei Jahre nachdem ich dekoder gegründet habe und das Portal im Herbst 2015 online ging, auf meine alten, wissenschaftlichen Bahnen zurück. Was das für dekoder bedeutet – davon später.

Im Dezember 2014, dem Jahr der Ukraine-Krise und der Krim-Annexion, hielt ich es nicht mehr aus: Jeder sprach von Russland, dem Land, in dem ich zehn Jahre lang gelebt habe, das ich so liebe und das mich doch gleichzeitig so oft beunruhigt. Aber dabei schien kaum jemand von dem Russland zu reden, das ich kannte, vom Russland meiner russischen Freunde, vom Russland der unabhängigen russischen Medien, die ich jeden Tag las.

Ich wollte die Stimmen dieser Medien hierher in den Westen bringen, und ich wollte sie hier verständlich machen. Dafür habe ich mir das dekoder-Konzept ausgedacht, mit seiner Mischung aus Journalismus und Entschlüsselungs-Texten aus der Wissenschaft. Und dieses Konzept hat sich bewährt: Innerhalb dieser zwei Jahre ist dekoder zu einem Modellprojekt des jungen, innovativen Journalismus aufgestiegen.

Ich war in der glücklichen Lage, die dekoder-Idee dank einer persönlichen Erbschaft direkt verwirklichen zu können. Wer die Geschichte von dekoder verfolgt hat, weiß, dass das Portal derzeit hauptsächlich von meiner Konvert-Stiftung finanziert wird, in die ich diese Erbschaft eingebracht habe – aber auch, dass die Mittel dieser Stiftung begrenzt sind. 

Ohne Geld kann dekoder nicht funktionieren. Aber was dekoder ausmacht, das sind die Menschen – ihre Kompetenz, ihr Wissen, ihre Leidenschaft. Die Menschen, die Tag für Tag, Woche für Woche für euch Russland entschlüsseln. Und wenn ich als Gründer mich für etwas wirklich glücklich schätzen kann, dann dafür, dass sich genau diese Menschen gefunden haben. Ihr, die Leser, kennt sie alle aus Editorials, Interviews, Newslettern oder einfach, weil ihr der Redaktion Mails und Messages geschrieben und mit den Kollegen diskutiert und debattiert habt. 

Meine Ansicht ist, dass dekoder denjenigen gehören soll, die auch tagtäglich den Content erstellen, neue Ideen entwickeln, das Schicksal des Projekts gestalten. Deshalb waren wir neulich alle gemeinsam beim Notar, haben die Übergabe an die dekoder-Macher besiegelt und nachher ein klein wenig diesen wichtigen Tag gefeiert – so, wie es sein soll! Ich bin von nun an bei dekoder nur noch Mit-Gesellschafter.

Für mich persönlich geht es nun dort weiter, wo ich 2014 unterbrochen habe. Wenn ihr euch manchmal fragt, wie eigentlich die Bäume, Vögel, Bakterien um uns herum und natürlich auch wir selbst zustandekommen und ob eure Vorstellungen dazu up-to-date sind, dann klickt ruhig einmal hier: Re-imagine Evolution! Ich denke, dass dieser Text euer Bild von der Welt des Lebendigen ein ganzes Stück verändern wird (natürlich ist auch Russland wieder mit von der Partie – ganz ohne geht’s einfach nicht). Und wenn ihr generell Interesse an Online-Publishing habt, dann könnte auch das neue Publishing-Tool Pleks etwas für euch sein, das ich derzeit entwickle.

Aber die Hauptsache in diesem Brief ist natürlich dekoder. Die Finanzen, die ich zur Verfügung stellen kann (nicht jeder ist ein Warren Buffett) reichen noch für knapp ein Jahr. Große deutsche Stiftungen, die sich ebenfalls den gemeinnützigen Journalismus auf die Fahnen geschrieben haben, fördern immer wieder Einzelprojekte bei dekoder. Aber eine neue Grundfinanzierung für den laufenden Betrieb muss bald gefunden werden – das gesamte dekoder-Team hat schon seine Fühler in alle denkbaren Richtungen ausgestreckt. 

Und wie es immer so ist: Je mehr Leute mit anpacken, desto einfacher wird es – gerade jetzt, wo die Finanz-Sanduhr läuft. Daher gibt es künftig für die Leser, die sich regelmäßig für dekoder engagieren wollen, eine dekoder-Community: den dekoder-Klub. Macht mit – es gibt viel Neues zu entdecken! Zu den Einzelheiten erzählen die Kollegen euch hier mehr

Nun aber ist es Zeit, wirklich zu sagen: Пока, dekoder. Mach es gut, mach deinen Weg. Macht es gut Tamina, Leonid, Rike, Alena, Daniel, Anton. Dieses schöne Stück Publizistik, das wir gemeinsam aufgebaut haben, liegt in euren Händen, und es sind die besten Hände, die man sich wünschen kann. Und euch, liebe Leser, wünsche ich weiter viel aufschlussreiche Lektüre, hörenswerte, relevante Stimmen aus Russland und fundierte, sachliche Erläuterungen dazu. 

In diesem Sinne! Euer

Martin Krohs

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Kommunalka

„Aber wo wollen Sie wohnen?“ – „In Ihrer Wohnung.” Dieser kurze aber vereinnahmende Dialog auf der Straße zwischen Berlioz und Voland, dem Teufel, in Michail Bulgakows Klassiker Meister und Margarita (1929–1940) lässt erkennen, wie fließend die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen in Sowjetrussland war.

Als dominante städtische Wohnform, als Quintessenz des stalinistischen Alltags, als fortschrittliches „Labor für den zukünftigen Kommunismus“ ist die Kommunalwohnung (auf Russisch kommunalnaja kwartira, kurz kommunalka) der Hauptschauplatz der neuen sowjetischen Lebensweise.

 Die Zuwanderer vom Land brachten ihre dörflichen Traditionen mit in die Städte – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988

Mit der Machtergreifung der Bolschewiken 1917 wurde die Enteignung und Umverteilung bürgerlicher Wohnungen symbolisch inszeniert – gleichzeitig löste man so die Wohnraumkrise, die vor allem durch eine massive Landflucht und Zuwanderung in die Städte ausgelöst worden war. Meist durften die ehemaligen Wohnungseigentümer in ihrer Wohnung bleiben und sich ein Zimmer aussuchen, die restlichen wurden von den lokalen Wohngenossenschaften beliebig an Wohnraumsuchende umverteilt: Ein Zimmer für je eine Familie.

Manchmal wohnten bis zu drei Generationen in einem im Durchschnitt 20m² messenden Zimmer, sodass sich zum Beispiel in einer relativ großen 10-Zimmer-Altbauwohnung bis zu 50 Menschen Küche, Bad und Toilette teilten. Bewohner befanden sich ständig auf der kommunalen Bühne, Nachbarn waren omnipräsent und der Raum transparent.

Bulgakow beschreibt die Situation folgendermaßen:

„Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze, um über Moskau zu schreiben, steht der verfluchte Wassili Iwanowitsch vor mir in der Ecke. Dieser Alptraum in Jackett und gestreifter Unterhose versperrt mir die Sonne. Ich lehne die Stirn an die steinerne Wand, und Wassili Iwanowitsch liegt über mir wie ein Sargdeckel.”1

Mithin herrschten unzumutbar beengte, unhygienische und konfliktreiche Zustände, zumal die Zuwanderer vom Land nicht nur ihre Hühner, sondern auch Ihre dörflichen Ansichts­weisen und Traditionen mit in die städtischen Räume brachten.

Anfänglich war sie als Not- und Übergangslösung gedacht, bald aber etablierte sich die Kommunalka als permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand und soziale Instanz. Was die Kommunalka einzigartig unter den frühindustriellen Arbeiter­quartieren macht, ist nicht nur das erzwungene Zusammenleben einander fremder Menschen unterschiedlichster Schichten, Bildungsgrade, Regionen, Religionen etc. Die extreme Ideologisierung und Politisierung des neuen sowjetischen Alltags schuf einen komplexen und vielschichtigen (Wohn-)Raum.

Manchmal wohnten drei Generationen in einem Zimmer – Foto © Oleg Iwanow/ITAR-TASS, 1988Oft waren es die geräumigen Wohnungen wohlhabender Familien, die in Kommunalwohnungen umgewandelt und für das Zusammenleben mehrerer Familien angepasst wurden. Zwischentüren wurden vermauert oder mit Schränken zugestellt, dunkle, schmale Flure entstanden, die separaten Zugang zu den einzelnen Zimmern boten. Nicht selten wurden Badezimmer in Wohnräume umgebaut, dafür dann in den geräumigen Küchen eine Badewanne installiert. Persönliche Hausgeräte hingen oft, nach Familien geordnet und entsprechend beschriftet, an Nägeln an der Wand: Auf diese Weise waren etwa Küchenutensilien organisiert, aber auch die Toilettensitze im kleinen Raum der Toilette. Die Schwierigkeiten, die eine solche gemeinsame Nutzung der wohntechnischen Infrastruktur mit sich brachte, waren Gegenstand zahlloser Alltagsgeschichten und wurden auch in Literatur und Film immer wieder humoristisch aufgegriffen.

Dieser totale wie ambivalente Raum und die darin handelnden Akteure werden in der Forschung aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, die beide ihre Berechtigung haben: Die eine sieht in der Kommunalka vor allem ein Instrument gesellschaftlicher Kontrolle, der die Bewohner ausgesetzt waren.2 Die andere entdeckt bei den Kommunalkabewohnern eine besondere Handlungsfähigkeit, die den ambivalenten Lebensumständen entsprang: Zwischen der von außen aufgezwungenen Ideologie und der Realität vor Ort gab es gewaltige Unterschiede, also mussten die Bewohner situationsbedingt Lösungen finden, um Diskrepanzen entgegenzuwirken.3

 Dabei hatte natürlich jede/r eine eigene Meinung bzw. ein eigenes Interesse.

Welcher Aspekt auch immer im Vordergrund stehen mag: Die Kommunalka ist eine kollektive Lebensform, an die sich die Bewohner anpassen mussten, ob sie es wollten oder nicht. Als (Schicksals-)Gemeinschaft entwickelten die Bewohner eigene Regeln der Alltagsgestaltung und des Verhaltens, die sich ungeachtet der soziopolitischen und -kulturellen Veränderungen fortsetzen. Auch heute noch: Etwa ein fünftel der St. Petersburger Bevölkerung wohnt in Kommunalkas. „Immerhin waren dies die Universitäten neuer zwischenmenschlicher Beziehungen. Es gibt keinen Zweifel, es waren bittere Lehrjahre, aber es ist etwas mehr von ihnen geblieben als Küchenzank und Kerosin in der Suppe […].“4


Die Kommunalka spielt auch eine wichtige Rolle in unserer Fotostrecke für den Monat Juli. Und noch einen ganz anderen Blick auf die sowjetische Gemeinschaftswohnung gibt es in diesem sehr populären Song aus den frühen 90ern:

https://www.youtube.com/watch?v=D_mVylRi_T0

 

Pop-Band Djuna „Kommunalnaja Kwartira" – humoristischer Song aus den 90ern zum Thema Kommunalka

1.Bulgakow, Michail (1995): Moskau in den zwanziger Jahren, in: Ich habe getötet: Erzählungen und Feuilletons: Gesammelte Werke 7/I, Berlin, S. 74-87, hier: S. 79
2.Siehe Meerović, Mark (2003): Očerki istorij žilishchnoj politiki v SSR i ee realizacij v architekturnom projektirovanii (1917 - 1974 gg.), Irkutsk und Boym, Svetlana (1994): Common Places: Mythologies of Everyday Life in Russia, Harvard
3.Gerasimova, Ekaterina (2000): Sovetskaja kommunal’naja kvartira kak social’nyi institut: Istoriko-sociologičeskii analiz (na materialach Leningrada, 1917 - 1991), Promotion, European University at St. Petersburg und Evans, Sandra (2011): Sowjetisch Wohnen: Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka, Bielefeld
4.Pjecuch, Vjačeslav (1991): Die neue Moskauer Philosophie: Ein russischer Kriminalroman, München 1991, S. 127f.
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Leonid Breshnew

Am 19. Dezember vor 115 Jahren ist Leonid Breshnew (1906-1982) als Sohn eines Metallarbeiters geboren.  Von 1964 bis 1982 prägte er als erster Mann im Staat fast zwei Jahrzehnte lang das Geschehen der Sowjetunion. Seine Herrschaft wird einerseits mit einem bescheidenen gesellschaftlichen Wohlstand assoziiert, gleichzeitig jedoch auch als Ära der Stagnation bezeichnet.

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Perestroika

Im engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion.

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Perestroika: Wirtschaft im Umbruch

In den 1980ern verschlechterte sich die Lage der sowjetischen Planwirtschaft Jahr für Jahr. Als Gorbatschow die Krise ab 1985 durch punktuelle marktwirtschaftliche Reformen überwinden wollte, kam die sozialistische Ökonomie erst recht ins Straucheln.

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Die Wilden 1990er

Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

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Samogon

Als Samogon bezeichnet man einen in häuslicher Eigenproduktion und für den Eigenbedarf hergestellten Schnaps. Grundlage bildet eine Maische, die in der Regel aus Kartoffeln, Früchten, Zucker oder Getreideprodukten besteht und in selbstgebauten Anlagen destilliert wird. Vor allem in den Übergangsphasen vom Zarenreich zur Sowjetunion und später während der Perestroika war der Samogon, der inzwischen fest zur russischen Alltagskultur zählt, weit verbreitet.

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Tauwetter

Befreiung vom Despoten, zarte Protestkultur und Poeten als Volkshelden: Die Zeit des Tauwetters in den Jahren nach Stalins Tod brachte eine Neudefinition des sowjetischen Lebens. Kultur und Politik erfuhren eine euphorische Phase der Liberalisierung. Doch schon mit der Entmachtung Nikita Chruschtschows setzte eine politische Restaurationsphase ein, die bis zur Perestroika andauern sollte. Heutzutage wird das Tauwetter oft nostalgisch verklärt, unter Historikern ist seine Deutung weiterhin umstritten.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)