Wie stabil ist das System Putin? Ein schneller Überblick in vier Fragen und Antworten – einfach durchklicken oder durchwischen.
1. Umfragen zufolge steigt derzeit die Protestbereitschaft in Russland. Können Proteste, wie die gegen die Rentenreform, das System Putin ins Wanken bringen?
Tendenziell nicht. Obwohl sich die jüngsten Proteste teilweise nicht mehr nur gegen die Regierungspartei Einiges Russland, sondern auch gegen den Präsidenten wandten. Dennoch ist ihr Destabilisierungspotential recht gering: Der Druck der Straße ist üblicherweise nämlich dann am wirksamsten, wenn der Anteil von 15- bis 30-jährigen Männern an der Gesamtbevölkerung besonders hoch ist, und wenn die Arbeits- und Perspektivlosigkeit in dieser Alterskohorte ebenfalls hoch ist. Dies ist in Russland bei Weitem nicht der Fall.
Allerdings sinkt das Realeinkommen nun schon seit vier Jahren in Folge, und notwendige Wirtschaftsreformen bleiben aus. Damit wächst in der Gesellschaft laut Umfragen sowohl die Unzufriedenheit mit der Staatsführung als auch der Ruf nach Veränderungen.-
2. Immer wieder heißt es, dass immer noch zwei Drittel der Russen hinter ihrem Präsidenten stehen. Die Wahlen hat Putin auch gewonnen. Muss man das nicht anerkennen?
Die Präsidentschaftswahl im März hat er zwar gewonnen, politische Konkurrenz war aber schon im Vorfeld unterbunden – es war also keine demokratische Wahl. Bei den Gouverneurswahlen im September musste die Regierungspartei Einiges Russland dann außerdem einige herbe Schlappen einstecken. Putins Zustimmungswerte liegen derzeit zwar tatsächlich bei 66 Prozent, sind damit aber seit April 2018 um 16 Prozentpunkte gesunken.
Parallel zur steigenden Armutsquote wächst auch der gesellschaftliche Ruf nach Veränderungen. Umfragen zufolge ist dieser Wunsch erstmals seit Mitte der 1990er Jahre wichtiger als jener nach Stabilität. Der sogenannte Krim-Konsens scheint ebenfalls zu bröckeln, doch ist es unwahrscheinlich, dass der Kreml keine Gegenmaßnahmen ergreifen wird. In Rubel gerechnet ist der durchschnittliche Ölpreis 2018 so hoch wie noch nie, damit könnten aus dem Staatshaushalt zum Beispiel Sozialprogramme bezahlt werden, um neuen Zuspruch zu gewinnen.
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3. Der russischen Wirtschaft geht es schlecht. Bringt das Putin keine Minuspunkte in der Gesellschaft?
Tatsächlich wächst die Unzufriedenheit mit dem System Putin: Die Korruption grassiert, gleichzeitig werden bei einem relativ hohen Ölpreis Steuern erhöht und das Rentenalter heraufgesetzt. Viele Menschen in Russland bekommen vor diesem Hintergrund vermehrt den Eindruck, dass „Menschen das neue Erdöl“ seien.
Projektionsfläche für diese Unzufriedenheit ist allerdings nicht so sehr Putin, sondern vor allem Staatsbedienstete. Sie und ihre Familienmitglieder stellen in Russland rund zwölf Millionen Menschen. Sie sind gewissermaßen Profiteure des Systems und dürften kaum an Reformen interessiert sein. Demgegenüber gelten laut offiziellen Zahlen rund 20 Millionen (laut inoffiziellen: 36 Millionen) Menschen als arm. Da sich ihre Situation mit der Zeit verschlechtert, ist es denkbar, dass ihre Unzufriedenheit wachsen könnte. 4. Und was sagen russische Wissenschaftler? Wie schätzen Sie die Stabilität des System Putin ein?
Da gibt es unterschiedliche Szenarien. Da die Wohlstandsdividenden in den letzten Jahren wegbrechen, behaupten einige Politologen, dass die Verdienste (Meritokratie) Putins aus den 2000er Jahren heute nur noch eine Art Amtsbonus sind. Auch der Persönlichkeitskult bricht laut Soziologen ein. Das Regime sei eine lahme Ente, innenpolitisch weitgehend handlungsunfähig. Es habe zwar noch einige Stabilisierungs-Instrumente in petto, heute wirke aber vor allem das Feindbild legitimierend. Dies ist mittelfristig jedoch ein dünner Faden, der laut manchen Wissenschaftlern durchaus vom Westen eingerissen werden könnte.
Andere Wissenschaftler meinen dagegen, dass das Herrschaftssystem stabil und nachhaltig sei. Einer der wichtigsten Gründe sei die sogenannte Alternativlosigkeit: Durch die systematische Ausschaltung politischer Konkurrenz gebe es im heutigen Russland keine massentauglichen Alternativen, so die Argumentation. Hinzu kommen die in den letzten Jahren massiv ausgebauten Sicherheitsstrukturen: Solche Institutionen wie die Nationalgarde schaffen einerseits eine Drohkulisse, könnten bei Protesten andererseits aber auch die Repressionen verschärfen.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Anton Himmelspach
Stand: 06.12.2018