Teodor Shanin war neun Jahre alt, als sein Heimatland Polen von Deutschland und der Sowjetunion überfallen wurde. Als er zehn war, wurde seine Heimatstadt Wilno (heute: Vilnius) Teil der Sowjetunion. Die Familie wurde inhaftiert und nach Sibirien deportiert, von wo aus sie nach Usbekistan umsiedelte. Kälte, Hunger, Krankheiten, Zersplitterung der Familie – das war der Hintergrund seiner Jugend, die ihn hätte zerstören können. „Ich habe aber nie Angst gehabt“, sagte er in einem seiner letzten Interviews.
Nach dem Krieg durfte die Familie die Sowjetunion verlassen. Shanin war in Polen und Frankreich, kämpfte in Israel mit der Waffe in der Hand für die Entstehung des israelischen Staates und machte eine steile akademische Karriere in Großbritannien.
Jahrzehnte später kehrte er nach Russland zurück, in ein Land, dem er nichts schuldete. Dort gründete er 1995 The Moscow School of Social and Economic Sciences, von seinem Namen abgeleitet vor allem als Schaninka bekannt – eine russisch-britische private Hochschule, die zu den besten und renommiertesten des Landes zählt.
Teodor Shanin war ein intellektueller und kultureller Grenzgänger zwischen Ost und West, der in den dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhundert aufgewachsenen ist. „Sei Realist, fordere das Unmögliche“ – das war Shanins Lebensmotto. Am 4. Februar 2020 ist er im Alter von 89 Jahren gestorben. dekoder bringt einen Nachruf von seinem Nachfolger an der Schaninka Anatoli Kasprshak.
aus: Alexander Archangelski, Nessoglasny Teodor (dt.: Der trotzige Teodor), Kapitel 5
Zu fast jedem Geburtstag bekam Shanin kleine Don-Quijote-Figuren geschenkt oder solche, die ihn selbst als Don Quijote zeigten. Und es stimmt: So einer war er. Er löste Probleme, die man nicht lösen konnte. Sein Geheimnis war, dass er alle Hindernisse überwand, wenn er fest daran glaubte, dass seine Sache rechtens war. Er war einerseits extrem zielstrebig und wusste genau, wie er dieses Ziel erreicht, andererseits hatte er etwas sehr Naives. Man konnte ihn oft weinen sehen oder sehen, wie er feuchte Augen bekam, weil jemand offensichtlich ungerecht behandelt wurde. Und das war keine Alterssentimentalität. Als ich ihn kennenlernte, war er vielleicht Anfang 60, schon da war das so. Er war ein zielstrebiger, unbeirrbarer Mensch mit einem bemerkenswert sanftmütigen Charakter, wie man ihn eher bei Kindern als bei Erwachsenen findet.
Nach Russland kam Shanin als einer der Leiter der heute verpönten Soros-Stiftung, die damals innovative Schulen unterstützte und Bücher verlegte. Er war einer von denen, die George Soros davon überzeugten, dass Russland noch mehr zu bieten hatte außer Ballett, Waffen und Raketen – nämlich Bildung. Und wenn wir Russland als Teil der zivilisierten Welt behalten wollten, müssten wir die Menschen unterstützen, die das Bildungswesen und die Forschung auf ihren Schultern tragen, aber an den Rand der Existenz gedrängt werden. Shanin hat dafür gesorgt, dass diese Menschen leben konnten.
Ich glaube, dass es nicht leicht war, Soros davon zu überzeugen, solche gewaltigen Summen in die Unterstützung von Lehrern und Gelehrten in Russland zu stecken, ihre Bücher zu verlegen oder die Stiftung Kulturnaja inizijatiwa zu gründen (heute ist das die Stiftung Otkrytoje obschtschestwo, dt.: Offene Gesellschaft). Aber genau das war die rechte Sache, an die Shanin glaubte und an die er andere glauben machte.
Allein die Gründung der Moskauer Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die heute Schaninka genannt wird, war für Russland eine Sensation. Stellen Sie sich vor, da kommt Anfang der 1990er Jahre so ein seltsamer Ausländer mit Akzent ins Kulturministerium und behauptet, Russland brauche eine Hochschule für Geisteswissenschaften. Er sagte, in Sachen Physik und Mathematik seid ihr zwar ausgezeichnet, aber bei den Geisteswissenschaften macht ihr etwas falsch. Dazu muss man wissen, dass die Universität für Geisteswissenschaften Anfang der 1990er Jahre aus den ehemaligen Parteischulen des Komsomol bestand, die jetzt zwar anders hießen, aber im Kern noch dieselben waren. Insofern kann man getrost behaupten, dass Shanin in diesem Moment die [erste] Universität für Geisteswissenschaften in Russland gegründet hat.
Wenn wir heute Bibliotheken mit öffentlichem Zugang, Wahlkurse und Sprechstunden mit Professoren für selbstverständlich halten, nichts, worüber sich Studenten wundern, dann war das damals ein Modell aus dem Westen, das Shanin dazu nutzte, die besten Hochschulen Russlands aufzubauen. Die Hochschule für Wirtschaft und Handel, wie wir sie heute kennen, zum Beispiel: Die kleine beschauliche Schaninka hatte einen riesigen Einfluss auf sie, weil sie gezeigt hat, dass man in Russland eine geisteswissenschaftliche Elite-Universität aufbauen kann.
Ebenfalls elementar und für viele führende Hochschulen bis heute ein Novum und eine bildungstechnische Offenbarung ist, dass die Lehrenden nicht die Arbeiten der Studierenden korrigieren. Denn genau daher kommt ja die Unterwürfigkeit des Schülers vor dem Lehrer. Shanin hat dieses Verfahren an der Schaninka gleich Mitte der 1990er Jahre eingeführt. Das war eine Revolution im Bewusstsein von Dozenten und Professoren, es veränderte ihren Blick auf das Wesen der Bildung.
Shanin hat das westliche Modell nicht eins zu eins übertragen, sondern gezeigt, dass sich diese Modelle mit den besten Methoden der russischen Pädagogen verbinden lassen. Es wäre leicht gewesen, Harvard oder Oxford einfach zu kopieren, aber Shanin wusste genau, dass das nicht funktionieren würde. Stattdessen hat er die besten Traditionen des russischen und des westlichen Bildungssystems miteinander in Einklang gebracht. Er hat nicht einfach das West-Modell übergestülpt, sondern das Beste daraus genommen und mit dem Besten verknüpft, was das russische Bildungswesen zu bieten hatte. In diesem Sinne führen Shanins Schüler, die heute an zahlreichen Hochschulen des Landes tätig sind und die gesehen haben, dass seine Sache rechtens ist, diese Sache jetzt fort.