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„Jeder Fall hat seine eigene Logik“

Im Juni gab die Higher School of Economics an, den Fachbereich für Politikwissenschaft mit einem anderen Fachbereich zusammenzulegen – das Schicksal zahlreicher Lehrender an der Wyschka, wie die Hochschule genannt wird, ist damit offen. Gleichzeitig wurde der renommierte Politologe Waleri Solowei von der staatlichen MGIMO entlassen, er selbst sieht politische Motive dahinter.

Unabhängige Hochschulen, wie die Moscow School of Social and Economical Sciences oder auch die Europäische Universität Sankt Petersburg, stoßen immer wieder auf bürokratische Hürden. An der Europäischen Universität etwa wurde rund eineinhalb Jahre lang nur noch geforscht, ihre Lehrlizenz hat die Hochschule erst nach zähem Ringen im August 2018 zurückerhalten.

Wie frei ist die Wissenschaft in Russland? Wie stark nimmt der Staat Einfluss, welche Rolle hat dabei der FSB? Und trifft es nur „unangepasste“ Wissenschaftler? 

Znak hat mit dem Politikwissenschaftler Alexander Kynew gesprochen – der als Dozent an der Wyschka noch bis 1. September angestellt ist. Wie es im neuen Semester für ihn weitergeht, ist nach den jüngsten Entwicklungen an der Hochschule derzeit noch ungewiss.

Quelle Znak

Kürzlich wurde an der Higher School of Economics der Fachbereich für Politikwissenschaft aufgelöst. Dann informierte Professor Waleri Solowei über seine Kündigung an der MGIMO. Und bereits im Februar wurde ein Lehrbuch für Ökonomie von Igor Lipsiz aufgrund mangelnden Patriotismus nicht für den Schulunterricht empfohlen. 

Erkennen Sie in diesen Ereignissen eine gewisse Gesetzmäßigkeit?

Alle diese Fälle sind nicht Teil eines einheitlichen Plans, aber eine Gesetzmäßigkeit gibt es. Die Staatsmacht reagiert nervös auf abweichende Meinungen, und zwar proportional zu den sinkenden Umfragewerten. Unter diesen Bedingungen wird jeder abweichende Standpunkt als Bedrohung angesehen, insbesondere an den Hochschulen, da dort die bei Protestaktionen aktive Jugend ausgebildet wird. 

Eigentlich ist das nichts Neues für Russland. Gegen Lehrer und Professoren ist man schon im 19. Jahrhundert vorgegangen. Vielleicht versucht die Staatsmacht mit solchen Säuberungen, die Jugend vor dem „zersetzenden“ Einfluss allzu freigeistiger Lehrer zu bewahren.

Der Spielraum, einen unabhängigen Standpunkt einzunehmen, ist kleiner geworden

In den letzten Jahren ist der Spielraum für Hochschullehrer, einen unabhängigen Standpunkt einzunehmen, zweifellos kleiner geworden. Entlassungen unbequemer Hochschullehrer gibt es ständig im ganzen Land. Und es wird Druck auf ganze Institute ausgeübt. Da gibt es beispielsweise die Geschichte mit der Europäischen Universität [Sankt Petersburg], den Fall der Moscow School of Social and Economic Sciences (Schaninka) und so weiter.

Begonnen hat das alles an der Peripherie, aber mittlerweile hat diese Welle auch Moskau erreicht. Früher oder später musste es auch die Spitzenhochschulen in Moskau treffen. Aber natürlich hat jeder Fall seine eigene innere Logik, seine Vorgeschichte, seine Besonderheiten.

Politikwissenschaftler Alexander Kynew / Foto © privat

Welche Vorgeschichte und welche Besonderheiten gibt es in Ihrem Fall?

Ich bin sicher, dass es in meinem Fall keine Anordnung irgendeines Beamten gab. Mein Fall ist eine interne Geschichte, in der unter Ausnutzung des allgemeinen Trends versucht wird, Platz freizuräumen für „nützliche“ Freunde und einen wichtigen Bereich der Hochschule unter Kontrolle zu bringen. Das ist wie mit Plünderungen – Raub geht am besten im Krieg oder bei Naturkatastrophen. 

Mein Fall ist eine interne Geschichte, in der unter Ausnutzung des allgemeinen Trends versucht wird, Platz freizuräumen für „nützliche“ Freunde

Die Version, es hätte Anrufe vom FSB gegeben, hält keiner Kritik stand, das ist ohnehin bereits gewohnte, gängige Praxis. Dem einen passt vielleicht ein kommentierter Artikel nicht, wieder einem anderen ein kritischer öffentlicher Vortrag auf einer angesehenen Konferenz im Ausland – Erfahrungen mit Anrufen und Beschwerden verschiedener, besonders wichtiger Personen gibt es seit Jahren zuhauf. Die haben jedes Jahr angerufen, rufen an und werden wohl weiter anrufen. Aber deswegen wird man nicht entlassen. Dahinter will sich einfach nur jemand verstecken. 
Die wirklichen Gründe erkennt man gut an den Versprechern in den Befragungen wie auch daran, wer die Stelle stattdessen übernimmt und wer versucht, die Kontrolle über die Fakultät zu gewinnen.

Ich bin davon überzeugt und weiß aus eigener Erfahrung, dass die Politologie an der Wyschka ungeachtet aller Verluste insgesamt die beste (oder eine der besten) im Land bleiben wird. Viele hervorragende Fachleute werden weiterhin dort arbeiten. Und in diesem Sinne hat der öffentliche Skandal im Grunde einige von ihnen gerettet: In dieser Situation noch weiter zu gehen, haben die Initiatoren der Attacke nicht riskiert. Und ich hoffe, sie werden es auch nicht riskieren. Und ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass auch die Sache mit meinen Kursen noch geklärt werden kann.

Handelt es sich dabei Ihrer Ansicht nach um Repressionen gegen die Geistes- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen oder nur gegen einzelne Lehrkräfte, die sich einen unabhängigen Standpunkt erlauben?

Einerseits gibt es offensichtliche Versuche des Staates, im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften einzugreifen. Wir wissen, dass die Geheimdienste an den Hochschulen ihre Leute haben, die sich in die Lehre einmischen und versuchen Druck auszuüben. Das ist normal geworden.

Wir wissen, dass die Geheimdienste an den Hochschulen ihre Leute haben. Das ist normal geworden

Andererseits wird innerhalb der Hochschulen ständig intrigiert, und die Unzufriedenheit der Staatsmacht mit Lehrkräften kann als Argument dienen, um unliebsame Personen loszuwerden.

Bei uns wird die Politologie zwar als Dienerin der Staatsmacht angesehen und nicht als Wissenschaft, aber dennoch gibt es in den staatlichen Behörden genügend Beamte, die verstehen, dass sie Fachleute aus dem Bereich der Sozialwissenschaften benötigen. Denn Russland ist ein sehr kompliziertes Land, und heute umso mehr, da es eine Vielzahl an Widersprüchen und Konflikten gibt. 
Gleichzeitig geht dieses Verständnis jedoch einher mit einer instinktiven Angst vor allen, die einen anderen Standpunkt vertreten. Daher weiß man irgendwie, dass Geistes- und Sozialwissenschaften notwendig sind, allerdings nur im Sinne der eigenen Interessen.

Wenn der Faktor Loyalität an erster Stelle steht, wird jede Wissenschaft zunichte gemacht.

Ihr Kollege Waleri Solowei gilt als Oppositioneller, wenn auch nicht als aktiver. Sie haben nicht zufällig vor, sich der Opposition anzuschließen?

Ich war und bleibe Experte. Ich habe nicht vor, in die öffentliche Politik zu gehen. Ich bin mit vielen Oppositionellen bekannt und befreundet, die übrigens verschiedenen Parteien angehören und verschiedene Ansichten haben. Breitgefächerte Kontakte sind notwendig, um Professionalität zu bewahren.

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Die Higher School of Economics zählt zu den renommiertesten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein.

Die Entstehung der Hochschule geht auf die Initiative führender liberaler Ökonomen und Reformer wie Jewgeni Jasin, Jaroslaw Kusminow und Jegor Gaidar zurück. Sie gründeten 1992 mit der Higher School of Economics (HSE) eine neue Universität nach westlichem Vorbild, um dringend benötigtes Fachpersonal für die Systemtransformation auszubilden und die Regierung bei ihren Reformbemühungen zu unterstützen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es praktisch keine Wirtschaftswissenschaften nach „westlichem“ Vorbild, denn die ökonomische Ausbildung orientierte sich an der marxistischen Ideologie.

Unterstützt durch eine üppige Finanzierung aus dem Wirtschaftsministerium entwickelte sich die HSE schnell zur führenden liberalen Wirtschaftsuniversität in Russland. Die Wyschka, wie die Higher School of Economics (russ. Wysschaja Schkola Ekonomiki) im Volksmund genannt wird, erweiterte sukzessive ihr Fächerspektrum und zählt inzwischen auch im Bereich der Sozialwissenschaften zu den besten Hochschulen im Land, gemeinsam mit der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität und dem Moskauer Institut für Internationale Beziehungen. Sie betreibt, neben dem Moskauer Hauptsitz, auch Filialen in Sankt Petersburg, Perm und Nishni Nowgorod.

Die wissenschaftliche Bedeutung der HSE wurde zuletzt weiter aufgewertet: Als einzige Universität mit sozialwissenschaftlichem Profil erhielt sie 2009 den begehrten Titel „Nationale Forschungsuniversität“. Zudem wird die HSE in einer Art russischer Exzellenzinitiative seit 2013 als eine von 21 russischen Universitäten zusätzlich gefördert, um international zur Weltspitze aufzuschließen.    

Aber nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch politisch kommt der HSE eine wichtige Rolle zu: Als zentrale Institution des wirtschaftsliberalen Flügels im Machtapparat wirkt die HSE an zahlreichen Reformen der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit und war zum Beispiel maßgeblich an den Bildungsreformen der letzten Dekade und an der Ausarbeitung der Strategie 2020 beteiligt. Die liberalen Vertreter und Experten der HSE kritisieren regelmäßig politische Fehlentwicklungen im Land und zeigen in ihren Analysen Missstände verfehlter Politik auf. 

Als im Juni 2019 bekannt wurde, dass die HSE den Fachbereich für Politikwissenschaft mit einem anderen Fachbereich zusammenlegen will, glaubten viele Beobachter in Russland, dass diese Umstrukturierung vor allem eines zum Ziel hat: kritische Lehrende zum Verstummen zu bringen. Tatsächlich ist das Schicksal zahlreicher Professoren und Dozenten an der sogenannten Wyschka damit offen. Vor diesem Hintergrund meinte Alexander Kynew in einem Interview mit Znak, dass die Hochschulpolitik der letzten Jahre einer Gesetzmäßigkeit folge: Jeder abweichende Standpunkt, so der HSE-Politologe, werde als Bedrohung angesehen. Insbesondere würden aber Hochschulen zur Zielscheibe, denn dort werde die bei Protestaktionen aktive Jugend ausgebildet.

Stand: 09.07.2019

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