Die Philologin und Publizistin Irina Prochorowa ist eine der wichtigsten russischen Intellektuellen. Im Radiosender Echo Moskwy spricht sie über das Russland jenseits von Putin und über das Russland jenseits glänzender WM-Fassaden.
Olga Shurawljowa: Haben Sie den Eindruck, dass sich die Stadt verändert hat, wenn Sie jetzt durch die Straßen gehen? Ist irgendetwas passiert, weil das große Fußballfest bei uns stattfindet?
Irina Prochorowa: Es gibt viele ausländische Fans. Die Stimmung ist gut, wie beim Karneval, die Leute sind ausgelassen und ziemlich freundlich.
Gibt es mehr Freiheit?
Ich habe zumindest keine harten Einschränkungen bemerkt. Mir ist etwas anderes aufgefallen: Wie sauber Moskau plötzlich ist. Denn ich laufe ja viel durch die Innenstadt – eigentlich ist es immer ziemlich dreckig: überall Staub, Smog, Schmutz und so. Aber jetzt ist alles blitzblank. Da denke ich mir, interessant, sie können’s ja, wenn sie wollen. Es wäre schön, wenn das einfach auch nach der WM so bliebe.
Das ist natürlich unwahrscheinlich. Während solcher internationalen Großereignisse wird ja auch gern diskutiert, dass sie ein wichtiger Sieg für Putin seien – eine schicke, großartige WM mit bemerkenswert schönen Bildern und einer Riesenmenge Fans. Das könnte doch Putins Image tatsächlich korrigieren, was meinen Sie?
Vielleicht. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Letzten Endes wird es auch etwas Gutes haben … Die Menschen freuen sich, die Fans freuen sich … Und schauen sich um …
Wir denken die ganze Zeit nur an einen Menschen und reden auch immer nur über diesen einen Menschen. Was machen wir uns die ganze Zeit Gedanken um den Präsidenten? Der Präsident kommt ganz gut ohne uns zurecht.
Was machen wir uns die ganze Zeit Gedanken um den Präsidenten? Wichtiger wäre, dass wir uns über unsere eigenen Aufgaben klar werden
Wichtiger wäre es, dass wir uns erstmal über unsere eigenen Aufgaben klar werden. Und Ziele benennen, die für uns wichtig sind, damit wir ein würdiges Leben führen. Bisher gelingt uns das nicht besonders. Wir sind nicht gut darin, uns zu organisieren und haben bislang keine Mittel gefunden, um unsere Anliegen durchzubringen.
Dann stelle ich die Frage anders: Ist die WM eine Möglichkeit, Putins Image oder das Image Russlands und der Russen zu verbessern?
Wenn alles gut läuft und es zu keinen Exzessen kommt, und das nicht zuletzt, weil für die Ausländer besondere Bedingungen geschaffen wurden, werden die Menschen wahrscheinlich in ihre Länder zurückkehren und sagen: „Mensch, war das toll!“
Und da ist noch etwas, das mich beschleicht. Plötzlich laufe ich durch Moskau, sehe die Stadt mit den Augen eines Zugereisten und denke mir: Wirklich eine schöne Stadt, verdammt nochmal!
Im Endeffekt werden die Menschen nicht nur die Putinregierung sehen, sondern auch, dass es hier ganz normale Menschen gibt …
… und nicht alle die Skripals vergiften.
Ganz genau. Gewissermaßen geht es nicht um das Image der Regierung, manchmal funktioniert das völlig anders. Es geht darum, dass es ein anderes Leben gibt, jenseits von Putin, jenseits aller politischen Skandale …
Die Leute sehen nicht nur die Putinregierung, sondern auch, dass es hier ganz normale Menschen gibt
Ich erzähle gern eine erstaunliche Geschichte, die ich einfach nicht vergessen kann. Als ich Anfang der 1990er nach Österreich reiste, gestand mir ein beeindruckender Österreicher, er sei völlig verblüfft gewesen, als er Ende der 1980er eine Liveaufnahme von den Straßen Moskaus gesehen habe.
Warum? Er sah eine europäische Stadt, europäische, gutaussehende Menschen, die sogar ganz schick gekleidet waren.
Ich sagte: „Mein Gott! Was haben Sie denn erwartet?“ Und er erwiderte: „Ich weiß es nicht. Aber die Propaganda war so mächtig, dass ich nicht damit gerechnet habe, normale Menschen zu sehen.“
Deswegen denke ich: Es kann nicht schaden, wenn sie sehen, dass hier ganz normale Menschen leben.
Aber irgendwie stellen Sie nur traurige Fragen.
Die WM scheint sogar noch das fröhlichste unserer Themen zu sein. Leider geschehen parallel dazu viele Dinge, die derzeit nicht viel Beachtung finden. Doch es gibt Menschen, die jeden Tag von Senzows Hungerstreik mitzählen.
Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte wurde wiederholt nicht zu ukrainischen Strafgefangenen vorgelassen, zu einem, der wegen Spionage zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde. Dieser Prozess läuft unbemerkt nebenbei.
Was denken Sie? Kann man dagegen etwas tun?
Man kann immer etwas tun. Wenn die Gesellschaft nicht reagiert, hat ein Mensch keine Chance. Wenn wir uns neben Senzow, über den viel gesprochen und geschrieben wird …
Dmitrijew zum Beispiel, sein Fall wird neu aufgerollt.
Ganz richtig. Nehmen wir Juri Dmitrijew, für dessen Freiheit wurde lange gekämpft, und das Gericht hatte ihn praktisch schon freigesprochen. Und plötzlich hebt das Oberste Gericht von Karelien den Freispruch wieder auf …
Der Prozess wird neu aufgerollt. Es wurde nicht nur der Freispruch, sondern auch die Verurteilung annulliert. [Update: Am 28. Juni 2018 ordnete das Gericht in Petrosawodsk an, dass Dmitrijew in zweimonatige Untersuchungshaft muss – dek] Es geht also wieder von vorn los.
Ich war ehrlich gesagt nicht sehr überrascht, ich kenne ja unser Rechtssystem. Zu dessen Aufgaben gehört der Schutz von Menschen leider nur selten …
Die Gesellschaft muss einen langen, schweren Kampf gegen diesen Repressionsapparat führen
Was ich sagen will, ist: Die Gesellschaft wird offenbar einen langen, schweren Kampf gegen diesen Repressionsapparat führen müssen, der einen unschuldigen Menschen einfach fertigmachen will … ihn im Gefängnis einfach umbringen will. Denn Dmitrijew ist ein alter Mann, wenn er verurteilt wird, wird er seine Freilassung wohl kaum noch erleben.
Und trotz all dem, wenn die Gesellschaft nicht nachgibt und weiterkämpft, kommen Gespräche zwischen den Menschenrechtsbeauftragten in Gang, die internationale Gemeinschaft entrüstet sich. Und wenn die da oben noch so oft behaupten, es sei uns schnurz – es ist uns nicht schnurz.
Ja, wir sehen am Fall von Serebrennikow sehr gut, wie die internationale Gemeinschaft handelt: Kein Festival, keine Veranstaltung vergeht, ohne dass jemand Serebrennikow erwähnt.
Genau. Und das ist sehr wichtig. Es geht hier nicht nur darum, dass es sich um einen herausragenden Regisseur handelt. Auch dieser Fall ist allem Anschein nach – ich war bei zwei Gerichtssitzungen dabei – von vorn bis hinten mit heißen Nadeln gestrickt. Es liegt nicht die Spur eines Diebstahls vor. Die Sache wurde aus dem Nichts aufgeblasen.
Ich denke, darauf muss man die Aufmerksamkeit lenken und bis zum Letzten kämpfen. Das ist weitaus wichtiger als über das Image vom Präsidenten, Premierminister oder sonstwem nachzudenken.
Aber wir hoffen doch, dass denen ein Prestigeverlust nicht völlig egal ist.
Einen Prestigeverlust wird es nur geben, wenn genügend Menschen geschlossen verkünden: „Wir lassen das nicht zu.“ Das heißt nicht, dass wir dann sofort gewinnen. Dennoch ist es wichtig.
Wenn wir daran denken, dass in unserem Land ein Menschenleben und die Menschenwürde überhaupt nichts wert sind: Ein Lebensabend nach der Pensionierung – das hättet ihr wohl gern! Das Soll erfüllt und ab ins Grab; medizinische Versorgung gibt es für euch auch keine, versorgt euch selbst …
In unserem Land sind Menschenleben und die Menschenwürde überhaupt nichts wert
Von der Rechtsprechung ganz zu schweigen. Das ganze Justizsystem, das den Bürger vor staatlicher Willkür schützen sollte, tut bei uns seit Sowjetzeiten das exakte Gegenteil.
Sicher, wir haben noch keine ausgeprägte Rechtskultur, sie ist noch sehr jung. Ich finde, es scheint nur so, als würden wir uns mit Kleinigkeiten befassen – was sind schon eine Handvoll Menschen, die für irgendeine Person eintreten. Aber das ist falsch. Denn es wird trotzdem wahrgenommen und beeinflusst die öffentliche Meinung.
Keine Regierung, und sei sie noch so hart, kann das ignorieren. Deswegen denke ich, dass es großartig ist und wir mit großer Beharrlichkeit weitermachen sollten.
Wir haben Ojub Titijew noch nicht erwähnt.
Richtig. Ein ganz einfacher Mensch – und Fälle wie seiner häufen sich – kann einfach so, völlig nichtsahnend in diesen Fleischwolf geraten.
Auch dieser arme Junge, der, an sich völlig loyal, nach Deutschland gefahren ist und dort irgendetwas im Bundestag gesagt hat, von wegen nicht alle Deutschen wollten kämpfen. Womit er ja völlig Recht hat! Denn wissen Sie, wenn ein Krieg ausbricht, wird niemand gefragt, ob er kämpfen will oder nicht. Gewehr in die Hand und Abmarsch. Und was ist passiert? Man hat eine Riesenhysterie wegen nichts losgetreten.
Das arme Kind versteht wahrscheinlich bis heute nicht, wo das Problem lag – es gibt ja auch keins. Es ist einfach plötzlich der Mechanismus der Hexenjagd angesprungen. Man hatte ihnen schon lange niemanden zum Fraß vorgeworfen, wie man so sagt.
Allerdings ist hier ein Mechanismus quasi von unten angesprungen. Bei uns beginnen unzählige Prozesse damit, dass es irgendeinem Bürger in den Fingern juckt.
Damals hat sich, glaube ich, irgendein Abgeordneter empört, es kam also nicht ganz von unten. Wissen Sie, wenn man es provoziert – es wird ja sogar dazu aufgerufen, zu denunzieren – dann entsteht natürlich ein System, dass die Leute anregt, so etwas zu tun. Dann tauchen all diese Hetzer auf. Kein Wunder! Die gibt es immer und überall, in jeder Gesellschaft. Die Frage ist allerdings, was dann aus diesen Vorfällen wird.
Und da wird das Problem mit unserem Rechtssystem offensichtlich. Die schrecklichste Situation ist die absolute Hilflosigkeit eines Menschen, der sich nirgends hinwenden kann. Die Rechtsprechung funktioniert nicht.
Wir haben einen Direkten Draht zum Präsidenten.
Ich würde sagen, selbst wenn unser Präsident ein Engel wäre, könnte er als Einzelperson nicht jedem helfen, nicht mal ein bisschen. Er hat einigen wenigen geholfen. Das sind tatsächlich Glückspilze.
Aber wir wissen doch, dass ein Staat als System funktionieren muss, dass es Mechanismen geben muss, die es ermöglichen, Gerechtigkeit und Wahrheit zu erlangen. Wenn diese Mechanismen nicht funktionieren, kann auch der mächtigste Präsident der Welt nichts ausrichten.
Ich fürchte, dass wir in diesem Stadium immer noch auf irgendeine Einzelperson hoffen, die alles regelt. Offen gesagt: Ich kenne die Antwort nicht. Aber ich stelle zumindest Fragen.
Vielen Dank! Das war Irina Prochorowa, die Chefredakteurin von Nowoje Literaturnoje Obosrenije. Mein Name ist Olga Shurawljowa. Ich danke allen, auf Wiedersehen!