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Hymnen auf den falschen Führer

Die literarische Karriere des Dichters Gennadij Rakitin war steil aber nicht von langer Dauer. Über den Zeitraum von einem Jahr erschienen unter seinem Namen 18 Gedichte zu patriotischen Themen. Zahlreiche Abgeordnete der Kreml-treuen Staatsduma freundeten sich auf social Media mit ihm an. Er kam sogar fast in die Endrunde eines Literaturwettbewerbs. Doch dann erschien sein letztes Gedicht:

Lang drehte hier Gennadij
Aus Z-Gedichten einen Strick,
Am Ende aber sprach er:
Scheißkrieg.

Tatsächlich war es das einzige, das er selbst verfasst hatte. Genauer gesagt: Die Gruppe von Kriegsgegnern, die sich den patriotischen Dorflehrer Rakitin ausgedacht hatten. In Wahrheit handelte es sich bei den Gedichten, die russische Patrioten so begeistert hatten, um Übersetzungen deutscher Dichter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Alexander Estis hat für Mediazona mit einem der Initiatoren über die Aktion gesprochen.

Quelle Mediazona

Gennadij Rakitin, 49 Jahre alt, Lehrer in einer kleinen Schule im Moskauer Umland und Hobby-Poet, war eine Erfindung russischer Anti-Kriegs-Aktivisten. Das Bild ließen sie von einer KI erstellen. / Screenshot: VK

Der fiktive Poet Gennadij Rakitin ist das Ergebnis kollektiver Arbeit. Wer hat ihn erfunden?

Aus naheliegenden Gründen können wir die Namen dieser Menschen nicht öffentlich machen. Am besten formuliert man das so: Es handelt sich um gewöhnliche Bürger Russlands, die keiner Partei oder politischen Bewegung angehören. Eine Gruppe von Freunden hat sich einfach zusammengefunden und beschlossen, so ein Projekt zu machen. Ohne jegliches Budget, in der Freizeit. Denn das Schlimmste, was man heute tun kann, wäre zu schweigen und nichts zu tun – im Glauben, jemand würde den Kampf an deiner statt führen.

Wann und wie entstand die Idee zu diesem Projekt?

Die Idee entstand größtenteils dank Margarita Simonjan und dem Schriftstellerverband Russlands. Im Frühling 2023 begannen sie, ihre beiden Anthologien von Z-Poesie intensiv zu bewerben. Wir haben sie – natürlich nicht in Gänze – gelesen und waren erschüttert: Darin verströmt beinah jedes zweite Gedicht, wenn man so will, den Geruch von ganz gewöhnlichem Faschismus.

Mit dem Projekt Gennadij Rakitin wollten wir den Lesern von Z-Poesie demonstrieren, dass sie sich für Texte begeistern, die sich kaum von der Lieblingslektüre der Nationalsozialisten unterscheiden. Ein besonders bedeutsamer Aspekt, über den wir lange nachgedacht haben: Wie können wir ein antimilitaristisches Statement machen, um nicht nur diejenigen zu erreichen, die ohnehin gegen den Krieg sind, sondern umgekehrt solche, die ihn befürworten? Wie können wir ihnen in gewissem Sinn den Boden unter den Füßen wegziehen? Damit sie, sobald sie wieder ein „patriotisches Gedicht“ sehen, darüber ins Grübeln geraten, ob es nicht genau den Nazismus enthält, gegen den sie zu kämpfen vorgeben. Natürlich verstehen wir, dass dieses Ansinnen höchst idealistisch bleibt.

Hat der erfundene Name des Fake-Dichters irgendeinen bestimmten Sinn?

So gut wie keinen. Zunächst haben wir über irgendwelche Anagramme oder andere Wortspiele nachgedacht. Aber dann kamen wir zu dem Schluss, dies könne riskant sein: Man sollte uns ja nicht früher entlarven, als wir es selbst wollten. Also haben wir einfach einen Namen gewählt, der möglichst russisch klang – gemäß dem Prinzip Rakitin-Bereskin (von beresa – „Birke“). Dagegen stammen die Fotos der „heimatlichen Gefilde“, die auf Rakitins Profil im Netzwerk VK zu finden sind, aus deutschen Wäldern. Das war eine weitere Stellungnahme zum Thema „Einzigartigkeit der russischen Natur“.

Auf seinem Profil im Netzwerk Vkontate veröffentlichte Rakitin Bilder der einzigartigen russischen Natur. Auch hierbei handelte es sich in Wahrheit um Fotos aus deutschen Wäldern / Screenshot: VK

Und was ist mit den Fotos von Gennadij Rakitin selbst? Wie viele Bilder gibt es überhaupt von ihm?

Das war ein einfacher Prompt an eine KI, so etwas wie „ein russischer Intellektueller auf der Datscha in einem Moskauer Vorort“. Insgesamt gibt es nur zwei Fotos von Gennadij Rakitin.

Haben Sie sich von der Tradition literarischer Fälschungen und Mystifikationen inspirieren lassen?

Vielleicht nicht unmittelbar, aber selbstverständlich lieben wir unterschiedliche Mystifikationen. Etwa die Geschichte mit Jonathan Swift und seiner Suppe aus Säuglingen als Beispiel doppelten Trollings.

Wer erstellte die Übersetzungen und Adaptationen?

Wir selbst. Ein Kollektiv aus einigen wenigen Freunden.

Nach welchen Kriterien wurden die Originaltexte ausgewählt?

Uns stand kein umfangreiches Archiv nationalsozialistischer Poesie zur Verfügung – nur das, worauf man über Google frei zugreifen kann. Tatsächlich folgten wir keinen strikten Auswahlkriterien. Wir wollten, dass die Gedichte zur russischen Gegenwart passen – aber es passten beinah alle. Aussortiert haben wir vor allem diejenigen, die zu eindeutigen Anachronismen geworden wären, weil darin beispielshalber irgendwelche Ackerbauern, Bergmänner, Propeller oder Trommeln erwähnt werden.

Von welchen Prinzipien ließen Sie sich bei der Übersetzung der Texte leiten?

Wir haben uns um maximale Nähe zum Wortlaut des Originals bemüht. Nach Möglichkeit fast schon eine Interlinearübersetzung. Es scheint, als sei uns das lediglich beim ersten Gedicht nicht ganz gelungen. Aber bei den meisten Übersetzungen versuchten wir sogar das jeweilige Reimschema beizubehalten, obwohl in unserem Kollektiv weder professionelle Lyriker noch professionelle Übersetzer sind. Wir mussten so gut wie nichts verändern. Außer höchstens „Russland“ statt „Deutschland“ oder einfach „Uniform“ anstelle von „braunes Hemd“. Natürlich nahmen wir uns bei der Übersetzung ab und an kleinere Freiheiten heraus, aber die waren ästhetisch bedingt und hatten nicht das Ziel, die Quelle irgendwie zu verschleiern.

Wie gelangte Rakitin zu Anerkennung innerhalb der Z-Community?

Als wir anfingen, wussten wir nicht genau, ob das Projekt Fahrt aufnehmen würde und wie wir es genau vorantreiben sollten. Zuerst wollten wir einfach eine gewisse Menge an Internet-Freundschaften sammeln, in der Hoffnung, dass der Motor irgendwie von selbst anspringt. Dann sahen wir plötzlich, wie Rakitin auf dem Kanal Kriegspoesie zum militärischen Sondereinsatz geteilt wurde – dem größten digitalen Kanal, der ausschließlich der Z-Poesie gewidmet ist. Erst danach verstanden wir, dass wir auch selbst bei verschiedenen Foren anklopfen und um Veröffentlichung von Rakitins Texten bitten konnten. Die meisten publizierten es. Einige Foren mit mehreren hunderttausend Followern verlangten Geld, in diesen Fällen nahmen wir davon Abstand.

Erhielt Rakitin auch persönliche Zuschrifen?

Persönlich schrieben nur wenige. Meist wurde direkt unter den Posts kommentiert: „Gut gemacht!“, „Alles richtig!“ Es gab auch einen lustigen Kommentar: „So jung – und schon so ein Guter!“ Dabei ist Rakitin 49 Jahre alt.

Gab es auch Kritik?

Eigentlich nicht. Einmal schrieb jemand, es sei inhaltlich alles richtig, aber holprig formuliert. Und einmal wurde Rakitin, nachdem wir ein Gedicht zum Geburtstag des Führers beziehungsweise Putins gepostet hatten, von ein paar Leuten „entfreundet“.

Hat jemand im Laufe der Zeit Verdacht geschöpft?

Erstaunlicherweise nicht. Tatsächlich kann man sämtliche Texte Rakitins in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe besteht aus Gedichten, die Krieg und Heimat verherrlichen. Also reinste Z-Poesie. Dass man sich dafür begeistert, das ist das Kranke am heutigen Russland. Die zweite Gruppe bildet gewöhnliche Lyrik über allgemeinmenschliche Kümmernisse (insbesondere über die Trauer des Verlusts), die theoretisch jeder erdenkliche Mensch in einer jeden Epoche und einem jeden Land hätte schreiben können. Dass sie den russischen Patrioten gefielen, bedeutet nicht, dass sie darin nazistische Ideen entdeckt und geschätzt hätten. Es war uns aber enorm wichtig, mit diesen Beispielen zu zeigen, dass es keine besondere russische Spiritualität – keinen kulturellen Code oder was auch immer man heute wieder predigt – gibt, die den russischen Menschen irgendwie den anderen gegenüber abheben, geschweige denn über sie stellen würde. Die dritte Gruppe umfasst zwei „Führergedichte“. Wir waren überzeugt, dass solch ein Unsinn nun wirklich niemandem schmecken könne. Im 21. Jahrhundert jemanden auf diese Art lobpreisen – ernsthaft? Das wäre nur in Nordkorea vorstellbar. Doch dann erwiesen sich diese Gedichte überraschend beinah als die populärsten. Und niemandem fiel etwas auf.

Wie würden sie die heutige russische Propagandalyrik einordnen?

Äußerst selten begegnet man guten Gedichten von Z-Poeten, und dies nur, wenn sie über echte menschliche Gefühle schreiben, über den Schmerz. Also wenn es sich letztlich auch gar nicht mehr um propagandistische Poesie handelt. Doch schauen Sie sich ein beliebiges Forum zur Z-Poesie an – eine überwältigende Mehrheit der Gedichte ist schlichtweg grauenvoll. In dieser Hinsicht hatte Rakitin ein Problem: Je besser in künstlerischer Hinsicht ein Gedicht gelang, desto weniger Chancen auf Erfolg hatte es.

Wie sehr ähnelt diese Art von Lyrik der propagandistischen Literatur des Dritten Reichs?

Danach zu urteilen, dass wir beinah jedes Gedicht wählen, übersetzen und für ein zeitgenössisches russisches Gedicht ausgeben konnten, ist die Nähe groß. Insbesondere natürlich in der Verherrlichung und Erhebung eines Volkes über alle anderen. Genau das stach sofort hervor in den Sammlungen, die ich oben erwähnte. Darüber hinaus stimmen natürlich auch die Ideen von der Pflicht gegenüber der Heimat überein. (Die Einstellung zum »Führer« kann unter den Z-Dichtern variieren, aber in der Propaganda ist sie naturgemäß einheitlich.) Der einzige Unterschied, den wir bemerkt haben, besteht wohl darin, dass „Disziplin“ als Vorstellung, wie sie in Gedichten nationalsozialistischer Zeit recht oft begegnet, der russischen Propaganda und Z-Poesie völlig abgeht.

Inwieweit lässt sich das heutige Russland insgesamt mit Hitlerdeutschland vergleichen?

Einerseits möchte man derartige Vergleiche aufgrund ihrer Begrenztheit immer vermeiden. Andererseits drängen sie sich wie von selbst auf. Bücher über das Deutschland der Dreißiger- und Vierzigerjahre stoßen in Russland – innerhalb bestimmter kleiner Bevölkerungssegmente – in jüngster Zeit auf große Nachfrage. Und eines springt ins Auge: Hier wie dort existiert eine verhältnismäßig kleine Zahl (aber es sind Zehn- oder Hunderttausende) аn Regimegegnern, eine deutlich, wenn auch nicht übermäßig größere Zahl an Hurra-Patrioten, aber zugleich existiert eine enorme Menge, eine erdrückende Mehrheit von Menschen, die versuchen wegzuschauen. Eines der Ziele unseres Projekts war es, dass dort, wohin sie schauen, kein Band mit Z-Poesie stehen möge.

Warum haben Sie beschlossen, den Fake zu enthüllen?

Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens ist es sehr bedrückend, sich in derart toxischen Sphären zu bewegen – wenn man einerseits nationalsozialistische Zeitschriften der Dreißiger und Vierziger studieren, andererseits durch den Newsfeed scrollen und die »Werke« neuer russischer Patrioten zur Kenntnis nehmen muss. Und während du derartige Übersetzungen machst, entsteht der Eindruck, als würdest du etwas sehr Schmutziges berühren, etwas, das – ich entschuldige mich für den pathetischen Ausdruck – eine Spur in deiner Seele hinterlässt. Der zweite Grund hat mit gewissen Kommentaren zu tun. Viele der Gedichte thematisieren, das ist augenfällig, Krieg und Tod. Darunter erschienen nun Worte der Dankbarkeit und Sympathie von Menschen, die ihre Angehörigen im Krieg gegen die Ukraine verloren hatten. Das nun ist ein sehr kompliziertes Gefühl – wenn du diesen Krieg mit Leib und Seele verachtest, aber doch auch diese Menschen bedauern musst, die den Tod ihrer Nächsten beweinen.

Sind weitere ähnliche Aktionen bereits in Planung?

Unser kleines Kollektiv von Freunden hat bereits weitere Projekte. Und indem wir dieses beenden, denken wir bereits an neue – aber die decken wir vorerst natürlich nicht auf.

Was wird jetzt aus Gennadij Rakitin?

Das wissen wir nicht. Nazidichter wird er jedenfalls nicht mehr übersetzen.

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Z-Pop

„Wer hat gesagt, dass in der Welt die Liebe gestorben ist? Dass es keine Ehre mehr gibt und die Wahrheit bis auf den Grund verbrannt ist? Selbst wenn um mich herum die Hölle losbricht, ich gebe nicht auf! Immer vorwärts und nie einen Schritt zurück.“ So beginnt ein Hit des russischen Sängers Shaman. Am 21. Juli 2023 veröffentlichte er das Video zu Moi Boi (dt. Meine Schlacht). Schnell fanden Zuschauer:innen in diesem Lied Parallelen zu Hitlers Manifest: Die automatischen deutschen Untertitel auf YouTube übersetzen die titelgebende Zeile als „Mein Kampf“.1 

Shaman, der bereits in seinem Lied My (dt. Wir) mit Nazisymbolik gespielt hatte, gilt als patriotischer Sänger. Das Musikvideo dazu, veröffentlicht am 20. April – Hitlers Geburtstag – zeigt Shaman in kurz geschorenen blondierten Haaren, Springerstiefeln und einer Armbinde in den Farben der russischen Trikolore. Seine professionell produzierten Lieder greifen immer wieder dieselben Motive auf: darunter Kampf, Stolz, Liebe, Gott, Frieden, Freiheit, Wahrheit, Stärke, Volk und brennende Herzen. Shamans Schaffen spiegelt die Rhetorik der russischen Macht wider und präsentiert sie in konzentrierter Form.



30. September 2022: Shaman stimmt die russische Nationalhymne bei der Feier zur Annexion ukrainischer Gebiete an.

Das ursprünglich für die Markierung des russischen Militärs verwendete Z-Zeichen fand sich schon wenige Wochen nach der russischen Großinvasion in den Erzeugnissen russischer Popindustrie und Werbung wieder. Dort gilt es seitdem als Symbol der Unterstützung für den Angriffskrieg. Über die Verbreitung des Kriegs-Merchandisings in der Lebenspraxis der Menschen in Russland gibt es keine verlässlichen Quellen. In den Staatsmedien ist es jedoch allgegenwärtig, auch die Popkultur sorgt für die Popularisierung. Forscher wie der Historiker Alexej Tichomirow sprechen deshalb mittlerweile von einer „Z-Gesellschaft“ in Russland.2

„Einen wie Putin“

Die Propaganda-Popkultur in Putins Russland begann bereits in den frühen 2000er Jahren, lange vor Beginn des Krieges in der Ukraine. Damals konzentrierte sie sich vor allem auf die Schaffung eines Personenkults: So erschien zum Beispiel 2001 das Lied A w tschistom pole (dt. Auf offenem Feld) der Band Bely Orel, das vor dem Hintergrund des zuvor entfesselten Tschetschenienkriegs Putins kriegerische Stärke hervorhob. Ein Jahr später gelang der Gruppe Pojuschtschije Wmeste mit Takogo kak Putin (dt. Einen wie Putin) ein Hit, der noch Jahre später den Soundtrack zu Putins Wahlkampfveranstaltungen liefern sollte. Das Musikvideo stilisiert den Präsidenten zum geheimnisvollen 007, vor einer animierten russischen Flagge tanzen entsprechend Bondgirls. Ursprünglich als Scherz gedacht, ging das Lied spätestens nach der Aufnahme in den offiziellen Propaganda-Kanon viral.3 

In der Folgezeit wurden Loblieder auf Putin schon fast zu einer eigenen Musikgattung, Graswurzelpropaganda ging dabei wohl mit kommerziellen Erwägungen der Interpret:innen einher. Dabei bedienten sie sich allerdings nicht nur musikalischer Propagandaformen: So haben 2010 Studentinnen der Fakultät für Journalistik der MGU anlässlich Putins 58. Geburtstags einen erotischen Kalender entworfen.4 Auf jedem Blatt räkelt sich eine neue, knapp bekleidete Frau. Jede von ihnen hat eine persönliche Botschaft an Putin. Das Dezembermodel etwa schreibt: „Ich möchte Ihnen persönlich gratulieren. Rufen Sie mich an: …“ 

Nach der Krim-Annexion 2014 wurden auch patriotische Graffitis zu einer beliebten Form der Propaganda-Massenkunst. So tauchte 2014 eines Tages an einer Sewastopoler Hauswand plötzlich vor blauem Hintergrund der Buchstabe A auf. Umrahmt von Eiszapfen stand unter einem weiß-blau-rot gestrichenen Eisbrecher das Wort Arktika. In Moskau fand man ein S, darunter den Schriftzug Suwerenitet und eine Abbildung der Interkontinentalrakete Topol-M. Die Bilder waren Teil einer Aktion des staatlichen Jugendprojekts Swjas (dt. Verbindung) zu Putins 62. Geburtstag. Die über sieben Großstädte verteilten Wandgemälde bilden das Wort Spasibo (dt. Danke): Für Stärke (Sila), Erinnerung (Pamjat), die Arktis (Arktika), Souveränität (Suwerenitet), Geschichte (Istorija), Sicherheit (Bezopasnost) und die Olympischen Spiele (Olimpiada).5

Andere Graffitis zeichneten Putin als Retter – ein häufiges Propagandabild, laut dem Putin das Land von den Knien erhoben habe. Parallelen zu Juri Gagarin gehören ebenfalls zu beliebten Stilmitteln, auch der klassische Gegensatz Freund/Feind und die Konfrontation mit den Vereinigten Staaten sind wiederkehrende Motive. Als visuelle Konstanten dienen unter anderem die Farben der russischen Flagge und der Umriss des Kreml oder des Landes inklusive Krim. Auch emotionale Marker wie glückliche Kinder, eine reiche Naturvielfalt, Sonnenschein oder niedliche Tiere finden Anwendung in den Straßenkunstwerken. So stehen die Murals in der Tradition der Kunst des sozialistischen Realismus, der volksnahe Helden und eine helle Zukunft propagierte.

„Ich bin ein Russe“

Mit Beginn des Kriegs in der Ostukraine 2014 entstand auch in der Musik eine neue patriotische Schaffenswelle. Im Lied Moi Putin (dt. Mein Putin) von 2015 der Sängerin Mashany tritt der Präsident als Retter der Ukraine und Beschützer Russlands auf. Der russische R’n’B-Star Timati nennt Putin in seinem Lied Lutschi drug (dt. Bester Freund, 2015) einen „coolen Superhelden“. Und die Girlband Fabrika bezeichnet Putin in ihrem Lied Wowa, Wowa (2018) als ihren „Lieblingschef“. Durch fleißige Kommentator:innen – ob echt oder Bots lässt sich im Zweifel schwer feststellen – verbreiteten sich diese Clips schnell und breitenwirksam in den sozialen Netzwerken.6

Doch als Russland 2022 den großangelegten Krieg losgebrochen hat, änderte sich der Tenor der russischen Popszene erneut. Statt lediglich den Personenkult zu pflegen, wollen neue Propagandalieder offensichtlich einen Rally-'round-the-Flag-Effekt zünden und das Volk hinter der sogenannten militärischen Spezialoperation vereinen. Hier kommt wieder Shaman ins Spiel: Der Sänger begann seine Karriere in der beliebten Sendung Golos, russische Version von The Voice. Das sicherte ihm die anfängliche mediale Präsenz. Zum Repertoire gehörte zunächst kommerziell ausgerichteter Boyband-Pop, zur Zielgruppe – weibliche Teenager. Ein wirklicher Star wurde Shaman aber erst kurz nach dem Beginn der Großinvasion mit seinem Lied Ja Russki (dt. Ich bin ein Russe): Mit über 50 Millionen YouTube-Klicks und nahezu schon inflationären Auftritten in den Propagandaorganen erwischte Shaman eine Welle der politischen Konjunktur, die auf Regimetreue, Unterstützung des Kriegs und Patriotismus setzte. 

Trittbrettfahrer folgten: An Shamans nächstem Hit Wstanem (dt. Wir stehen auf) beteiligten sich neben Shaman verschiedene Größen aus Rock, Pop, Jazz und Schlager. Dazu gehören etwa Larissa Dolina, Nikolaj Baskow, Nadeshda Babkina und Alexander Skljar. Die Taktik ist klar: Je breiter das Spektrum an Künstler:innen, desto größer ist das Publikum, das abgedeckt werden kann. 

Auch Grigori Leps gehörte zum Ensemble um Wstanem. Der Chanson- und Softrock-Sänger, dessen Lieder zur Grundausstattung russischer Karaokebars gehören, präsentiert seit Februar 2022 ein neues, patriotisches Repertoire. Co-Autor seines Songs Rodina-Mat (dt. Mutterland) ist der beliebte Chanson-Veteran Alexander Rosenbaum. So heißt es im Refrain des zum Jahrestag des Krieges veröffentlichten Liedes Das Mutterland ruft – lass es nicht im Stich! Für dich erhebe ich mich, Mama Russland! Auch die Propagandaformel Wir lassen unsere Leute nicht im Stich bleibt nicht unerwähnt. Das Video zu Rodina-Mat, in dem Leps in einem mit russischen Flaggen schwingenden Zuhörern gefüllten Stadion singt, hat auf YouTube über anderthalb Millionen Aufrufe. 

„Ich bleibe“

Leps will wohl die russischen Männer mobilisieren, die Sängerin Irina Dubtsowa wendet sich mit ihrem Z-Pop eher an ein weibliches Publikum. Ihr Lied Sa nas (dt. Auf uns) enthält alle wichtigen Klischees der russischen Propaganda: Die Erinnerung an Stalingrad und die Heldentaten der Großväter wecken Stolz, der Verweis auf die Kinder in der Gedenkstätte Allee der Engel in Donezk erwecken Mitleid. Das in dem mitreißenden Song verwendete Vokabular – die stete Wiederholung von Worten wie wir, Mutterland, Liebe, Stärke und Himmel – klingt wie aus einem Propagandahandbuch. Über die Premiere des Liedes berichtete Dubtsowa am Tag Russlands auf Instagram – das in Russland inzwischen verboten ist. 

Leps und Dubtsowa gelten unter Kritikern als Propagandakitsch. Etwas komplizierter verhält es sich mit der Neuaufnahme von Ja ostajus (dt. Ich bleibe), die unter Garik Sukatschews Anleitung entstanden ist. Der Klassiker, den Anatoli Krupnow 1992 kurz nach der Auflösung der Sowjetunion schrieb, und der insbesondere nach seinem Tod 1997 an Popularität gewann, bekommt im aktuellen Kriegskontext einen faden Beigeschmack. In der Version von 2022 singen beliebte Rockmusiker wie Sergej Schnurow, Andrej Knjasew oder Mascha Makarowa: Und ich, ich bleibe – dort, wo ich sein möchte. Und doch, ich habe ein wenig Angst – aber ich, ich bleibe. Ich bleibe, um zu leben! 

 

Schnurow, der im April 2022 mit seiner Band Leningrad ein Lied herausbrachte, das sich dem Thema Krieg eher satirisch näherte, hielt sich mit konkreten Äußerungen zur Invasion bisher zurück. Ein Foto, das ihn im August 2022 an der Seite Jewgeni Prigoshins in der sogenannten Volksrepublik Luhansk zeigte, betitelte er als Fälschung.7 Auch Ja ostajus ist kein eindeutiges Bekenntnis zu Putin. Dennoch fällt es schwer, das Lied innerhalb des aktuellen politischen Kontexts anders zu interpretieren, wirkt es doch eher wie Kritik an denjenigen Musiker:innen, die das Land nach dem Beginn des Krieges verlassen haben, wie etwa die Pop-Ikone Alla Pugatschowa, die Stars Andrej Makarewitsch, Boris Grebenschtschikow und Zemfira, die Rapper Oxxxymiron, Noize MC oder Face.

 

Alle Register

Z-Propaganda hat nicht nur Musik und Straßenkunst, sondern auch andere Bereiche der Massenkultur erreicht. Eine ganze Reihe neuer Spielfilme und Serien bedient sich patriotischer Z-Rhetorik.8 Eines der markantesten Beispiele ist der Film Swidetel (dt. Zeuge (der Kyjiwer Verbrechen)), der nach der ersten Woche in russischen Kinos zu einem Flop erklärt wurde: Im Schnitt saßen in jeder Vorstellung lediglich fünf Zuschauer.9 Auch auf YouTube buhlt man mit bewegten Bildern um Aufmerksamkeit. Die Show Podrugi Zet (dt. Z-Freundinnen) beschreibt sich als „Show, in der schöne Frauen über die neuen Realitäten Russlands sprechen und man an manchen Stellen lacht und an manchen überrumpelt wird“. Die Show vermittelt den Eindruck, dass sie von Frauen für Frauen gemacht wird. 

Zu finden ist auf YouTube auch Stand-Up mit Inhalten der Z-Propaganda. Z-Lyrik ist im Netz verbreitet, und zahlreiche Hip-Hopper wollen mit Z-Rap wohl Jugendliche gewinnen. Auch TikTok wird rege bemüht, um die jüngere Generation mit Z-Propaganda zu versorgen. Beliebte TikToker:innen werden laut einer Recherche von Vice dafür bezahlt, um auf ihren Seiten über die politische Lage, den Kriegsverlauf und das Leben in der Ukraine zu sprechen und mutmaßliche Live-Videos zu verbreiten.10 Die Influencer:innen, die sich bei ihren Zuschauer:innen zuvor mit Lifestyle-Videos, Challenges und Streaming-Partys einen Namen gemacht haben, erfinden sich als kremltreue Meinungsbildner:innen und -führer:innen neu und verbreiten fröhlich Kreml-Agenda.

Der Sänger Shaman erwischte eine Welle der politischen Konjunktur, die auf Regimetreue, Unterstützung des Kriegs und Patriotismus setzte / Foto © Sergei Karpukhin/ITAR-TASS/imago images

Im Endeffekt lässt sich Z-Pop auf vier Grundprinzipien herunterbrechen: einfache Botschaften und Wiederholungen, hohe Emotionalität, zielgruppenspezifische Ausrichtung, und die Nutzung sozialer Netzwerke. Während der Fokus patriotischer Popkultur in den 2000er Jahren noch auf dem Personenkult Putins lag, geht es heute um das Volk und dessen Stärke sowie die Notwendigkeit seiner Einheit. Zu den Angelpunkten der Kriegspropaganda gehören Glaube an Gott, Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg und seine Helden, traditionelle Werte, Feindbilder, Nationalstolz und eine vermeintliche helle Zukunft.

Einerseits steht die Kriegspropaganda inhaltlich und visuell in der Tradition des sowjetischen sozialistischen Realismus. Andererseits nutzt sie aktiv Mechanismen der Popindustrie, schöpft die Möglichkeiten von Social Web aus und setzt so auf schnelle Verbreitung und Interaktivität. Während der Kreml in der Sowjetunion allerdings ein Quasi-Monopol auf Propaganda hatte, betreibt die Z-Propaganda ein eigenartiges Franchise-Modell: Es gibt zwar zahlreiche Hinweise darauf, dass einige Protagonist:innen des Z-Pop letztendlich von der Präsidialadministration beauftragt und bezahlt werden, viele von ihnen dürften aber dennoch Graswurzelpropagandisten sein. Über ihre Motive lässt sich nur spekulieren: Manche sind sicherlich glühende Putinist:innen und Kriegsbefürworter:innen, andere könnte man wohl zu den Konjunkturschiki rechnen – zynische Opportunist:innen, die der politischen Konjunktur folgen und daran mitverdienen wollen. 


1.meduza.io: Šaman vypustil klip na pesnju „Moj boj“ s kadrami iz Donbasa 
2.deutschlandfunknova.de: System der Angst: Die „Z-Gesellschaft“ 
3.youtube.com/SoundTracksQH: A Man Like Putin 
4.metro.co.uk: Pictures: Vladimir Putin’s bizarre Calendar 
5.ndn.info: Graffiti, pozdravljajuščee Vladimira Putina s dnёm roždenija, pojavilos’ v Novosibirske, weitere Beispiele für patriotische Graffitis in Russland siehe: spiegel.de 
6.Weitere Beispiele siehe: de.rbth.com: „Onkel Wowa, wir sind mit Dir!“ – Sieben russische Songs an und über Putin 
7.meduza.io: V LNR rasskazali, čto samoprovozglašennuju respubliku posetili Sergej Šnurov i Evgenij Prigožin. Šnurov zajavil, čto ego foto ottuda — poddel'noe 
8.holod.media: V Rossii snimajut patriotičeskie fil’my i serialy o generalach KGB, chakerach-patriotach i opolčencach v Donbasse 
9.rtvi.com: Rossijskij fil’m “Svidetel’” ob SVO zarabotal vsego 6,6 mln za pervye vychodnye 
10.vice.com: Russian TikTok Influencers Are Being Paid to Spread Kremlin Propaganda 

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