Die literarische Karriere des Dichters Gennadij Rakitin war steil aber nicht von langer Dauer. Über den Zeitraum von einem Jahr erschienen unter seinem Namen 18 Gedichte zu patriotischen Themen. Zahlreiche Abgeordnete der Kreml-treuen Staatsduma freundeten sich auf social Media mit ihm an. Er kam sogar fast in die Endrunde eines Literaturwettbewerbs. Doch dann erschien sein letztes Gedicht:
Lang drehte hier Gennadij
Aus Z-Gedichten einen Strick,
Am Ende aber sprach er:
Scheißkrieg.
Tatsächlich war es das einzige, das er selbst verfasst hatte. Genauer gesagt: Die Gruppe von Kriegsgegnern, die sich den patriotischen Dorflehrer Rakitin ausgedacht hatten. In Wahrheit handelte es sich bei den Gedichten, die russische Patrioten so begeistert hatten, um Übersetzungen deutscher Dichter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Alexander Estis hat für Mediazona mit einem der Initiatoren über die Aktion gesprochen.
Gennadij Rakitin, 49 Jahre alt, Lehrer in einer kleinen Schule im Moskauer Umland und Hobby-Poet, war eine Erfindung russischer Anti-Kriegs-Aktivisten. Das Bild ließen sie von einer KI erstellen. / Screenshot: VK
Der fiktive Poet Gennadij Rakitin ist das Ergebnis kollektiver Arbeit. Wer hat ihn erfunden?
Aus naheliegenden Gründen können wir die Namen dieser Menschen nicht öffentlich machen. Am besten formuliert man das so: Es handelt sich um gewöhnliche Bürger Russlands, die keiner Partei oder politischen Bewegung angehören. Eine Gruppe von Freunden hat sich einfach zusammengefunden und beschlossen, so ein Projekt zu machen. Ohne jegliches Budget, in der Freizeit. Denn das Schlimmste, was man heute tun kann, wäre zu schweigen und nichts zu tun – im Glauben, jemand würde den Kampf an deiner statt führen.
Wann und wie entstand die Idee zu diesem Projekt?
Die Idee entstand größtenteils dank Margarita Simonjan und dem Schriftstellerverband Russlands. Im Frühling 2023 begannen sie, ihre beiden Anthologien von Z-Poesie intensiv zu bewerben. Wir haben sie – natürlich nicht in Gänze – gelesen und waren erschüttert: Darin verströmt beinah jedes zweite Gedicht, wenn man so will, den Geruch von ganz gewöhnlichem Faschismus.
Mit dem Projekt Gennadij Rakitin wollten wir den Lesern von Z-Poesie demonstrieren, dass sie sich für Texte begeistern, die sich kaum von der Lieblingslektüre der Nationalsozialisten unterscheiden. Ein besonders bedeutsamer Aspekt, über den wir lange nachgedacht haben: Wie können wir ein antimilitaristisches Statement machen, um nicht nur diejenigen zu erreichen, die ohnehin gegen den Krieg sind, sondern umgekehrt solche, die ihn befürworten? Wie können wir ihnen in gewissem Sinn den Boden unter den Füßen wegziehen? Damit sie, sobald sie wieder ein „patriotisches Gedicht“ sehen, darüber ins Grübeln geraten, ob es nicht genau den Nazismus enthält, gegen den sie zu kämpfen vorgeben. Natürlich verstehen wir, dass dieses Ansinnen höchst idealistisch bleibt.
Hat der erfundene Name des Fake-Dichters irgendeinen bestimmten Sinn?
So gut wie keinen. Zunächst haben wir über irgendwelche Anagramme oder andere Wortspiele nachgedacht. Aber dann kamen wir zu dem Schluss, dies könne riskant sein: Man sollte uns ja nicht früher entlarven, als wir es selbst wollten. Also haben wir einfach einen Namen gewählt, der möglichst russisch klang – gemäß dem Prinzip Rakitin-Bereskin (von beresa – „Birke“). Dagegen stammen die Fotos der „heimatlichen Gefilde“, die auf Rakitins Profil im Netzwerk VK zu finden sind, aus deutschen Wäldern. Das war eine weitere Stellungnahme zum Thema „Einzigartigkeit der russischen Natur“.
Auf seinem Profil im Netzwerk Vkontate veröffentlichte Rakitin Bilder der einzigartigen russischen Natur. Auch hierbei handelte es sich in Wahrheit um Fotos aus deutschen Wäldern / Screenshot: VK
Und was ist mit den Fotos von Gennadij Rakitin selbst? Wie viele Bilder gibt es überhaupt von ihm?
Das war ein einfacher Prompt an eine KI, so etwas wie „ein russischer Intellektueller auf der Datscha in einem Moskauer Vorort“. Insgesamt gibt es nur zwei Fotos von Gennadij Rakitin.
Haben Sie sich von der Tradition literarischer Fälschungen und Mystifikationen inspirieren lassen?
Vielleicht nicht unmittelbar, aber selbstverständlich lieben wir unterschiedliche Mystifikationen. Etwa die Geschichte mit Jonathan Swift und seiner Suppe aus Säuglingen als Beispiel doppelten Trollings.
Wer erstellte die Übersetzungen und Adaptationen?
Wir selbst. Ein Kollektiv aus einigen wenigen Freunden.
Nach welchen Kriterien wurden die Originaltexte ausgewählt?
Uns stand kein umfangreiches Archiv nationalsozialistischer Poesie zur Verfügung – nur das, worauf man über Google frei zugreifen kann. Tatsächlich folgten wir keinen strikten Auswahlkriterien. Wir wollten, dass die Gedichte zur russischen Gegenwart passen – aber es passten beinah alle. Aussortiert haben wir vor allem diejenigen, die zu eindeutigen Anachronismen geworden wären, weil darin beispielshalber irgendwelche Ackerbauern, Bergmänner, Propeller oder Trommeln erwähnt werden.
Von welchen Prinzipien ließen Sie sich bei der Übersetzung der Texte leiten?
Wir haben uns um maximale Nähe zum Wortlaut des Originals bemüht. Nach Möglichkeit fast schon eine Interlinearübersetzung. Es scheint, als sei uns das lediglich beim ersten Gedicht nicht ganz gelungen. Aber bei den meisten Übersetzungen versuchten wir sogar das jeweilige Reimschema beizubehalten, obwohl in unserem Kollektiv weder professionelle Lyriker noch professionelle Übersetzer sind. Wir mussten so gut wie nichts verändern. Außer höchstens „Russland“ statt „Deutschland“ oder einfach „Uniform“ anstelle von „braunes Hemd“. Natürlich nahmen wir uns bei der Übersetzung ab und an kleinere Freiheiten heraus, aber die waren ästhetisch bedingt und hatten nicht das Ziel, die Quelle irgendwie zu verschleiern.
Wie gelangte Rakitin zu Anerkennung innerhalb der Z-Community?
Als wir anfingen, wussten wir nicht genau, ob das Projekt Fahrt aufnehmen würde und wie wir es genau vorantreiben sollten. Zuerst wollten wir einfach eine gewisse Menge an Internet-Freundschaften sammeln, in der Hoffnung, dass der Motor irgendwie von selbst anspringt. Dann sahen wir plötzlich, wie Rakitin auf dem Kanal Kriegspoesie zum militärischen Sondereinsatz geteilt wurde – dem größten digitalen Kanal, der ausschließlich der Z-Poesie gewidmet ist. Erst danach verstanden wir, dass wir auch selbst bei verschiedenen Foren anklopfen und um Veröffentlichung von Rakitins Texten bitten konnten. Die meisten publizierten es. Einige Foren mit mehreren hunderttausend Followern verlangten Geld, in diesen Fällen nahmen wir davon Abstand.
Erhielt Rakitin auch persönliche Zuschrifen?
Persönlich schrieben nur wenige. Meist wurde direkt unter den Posts kommentiert: „Gut gemacht!“, „Alles richtig!“ Es gab auch einen lustigen Kommentar: „So jung – und schon so ein Guter!“ Dabei ist Rakitin 49 Jahre alt.
Gab es auch Kritik?
Eigentlich nicht. Einmal schrieb jemand, es sei inhaltlich alles richtig, aber holprig formuliert. Und einmal wurde Rakitin, nachdem wir ein Gedicht zum Geburtstag des Führers beziehungsweise Putins gepostet hatten, von ein paar Leuten „entfreundet“.
Hat jemand im Laufe der Zeit Verdacht geschöpft?
Erstaunlicherweise nicht. Tatsächlich kann man sämtliche Texte Rakitins in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe besteht aus Gedichten, die Krieg und Heimat verherrlichen. Also reinste Z-Poesie. Dass man sich dafür begeistert, das ist das Kranke am heutigen Russland. Die zweite Gruppe bildet gewöhnliche Lyrik über allgemeinmenschliche Kümmernisse (insbesondere über die Trauer des Verlusts), die theoretisch jeder erdenkliche Mensch in einer jeden Epoche und einem jeden Land hätte schreiben können. Dass sie den russischen Patrioten gefielen, bedeutet nicht, dass sie darin nazistische Ideen entdeckt und geschätzt hätten. Es war uns aber enorm wichtig, mit diesen Beispielen zu zeigen, dass es keine besondere russische Spiritualität – keinen kulturellen Code oder was auch immer man heute wieder predigt – gibt, die den russischen Menschen irgendwie den anderen gegenüber abheben, geschweige denn über sie stellen würde. Die dritte Gruppe umfasst zwei „Führergedichte“. Wir waren überzeugt, dass solch ein Unsinn nun wirklich niemandem schmecken könne. Im 21. Jahrhundert jemanden auf diese Art lobpreisen – ernsthaft? Das wäre nur in Nordkorea vorstellbar. Doch dann erwiesen sich diese Gedichte überraschend beinah als die populärsten. Und niemandem fiel etwas auf.
Wie würden sie die heutige russische Propagandalyrik einordnen?
Äußerst selten begegnet man guten Gedichten von Z-Poeten, und dies nur, wenn sie über echte menschliche Gefühle schreiben, über den Schmerz. Also wenn es sich letztlich auch gar nicht mehr um propagandistische Poesie handelt. Doch schauen Sie sich ein beliebiges Forum zur Z-Poesie an – eine überwältigende Mehrheit der Gedichte ist schlichtweg grauenvoll. In dieser Hinsicht hatte Rakitin ein Problem: Je besser in künstlerischer Hinsicht ein Gedicht gelang, desto weniger Chancen auf Erfolg hatte es.
Wie sehr ähnelt diese Art von Lyrik der propagandistischen Literatur des Dritten Reichs?
Danach zu urteilen, dass wir beinah jedes Gedicht wählen, übersetzen und für ein zeitgenössisches russisches Gedicht ausgeben konnten, ist die Nähe groß. Insbesondere natürlich in der Verherrlichung und Erhebung eines Volkes über alle anderen. Genau das stach sofort hervor in den Sammlungen, die ich oben erwähnte. Darüber hinaus stimmen natürlich auch die Ideen von der Pflicht gegenüber der Heimat überein. (Die Einstellung zum »Führer« kann unter den Z-Dichtern variieren, aber in der Propaganda ist sie naturgemäß einheitlich.) Der einzige Unterschied, den wir bemerkt haben, besteht wohl darin, dass „Disziplin“ als Vorstellung, wie sie in Gedichten nationalsozialistischer Zeit recht oft begegnet, der russischen Propaganda und Z-Poesie völlig abgeht.
Inwieweit lässt sich das heutige Russland insgesamt mit Hitlerdeutschland vergleichen?
Einerseits möchte man derartige Vergleiche aufgrund ihrer Begrenztheit immer vermeiden. Andererseits drängen sie sich wie von selbst auf. Bücher über das Deutschland der Dreißiger- und Vierzigerjahre stoßen in Russland – innerhalb bestimmter kleiner Bevölkerungssegmente – in jüngster Zeit auf große Nachfrage. Und eines springt ins Auge: Hier wie dort existiert eine verhältnismäßig kleine Zahl (aber es sind Zehn- oder Hunderttausende) аn Regimegegnern, eine deutlich, wenn auch nicht übermäßig größere Zahl an Hurra-Patrioten, aber zugleich existiert eine enorme Menge, eine erdrückende Mehrheit von Menschen, die versuchen wegzuschauen. Eines der Ziele unseres Projekts war es, dass dort, wohin sie schauen, kein Band mit Z-Poesie stehen möge.
Warum haben Sie beschlossen, den Fake zu enthüllen?
Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens ist es sehr bedrückend, sich in derart toxischen Sphären zu bewegen – wenn man einerseits nationalsozialistische Zeitschriften der Dreißiger und Vierziger studieren, andererseits durch den Newsfeed scrollen und die »Werke« neuer russischer Patrioten zur Kenntnis nehmen muss. Und während du derartige Übersetzungen machst, entsteht der Eindruck, als würdest du etwas sehr Schmutziges berühren, etwas, das – ich entschuldige mich für den pathetischen Ausdruck – eine Spur in deiner Seele hinterlässt. Der zweite Grund hat mit gewissen Kommentaren zu tun. Viele der Gedichte thematisieren, das ist augenfällig, Krieg und Tod. Darunter erschienen nun Worte der Dankbarkeit und Sympathie von Menschen, die ihre Angehörigen im Krieg gegen die Ukraine verloren hatten. Das nun ist ein sehr kompliziertes Gefühl – wenn du diesen Krieg mit Leib und Seele verachtest, aber doch auch diese Menschen bedauern musst, die den Tod ihrer Nächsten beweinen.
Sind weitere ähnliche Aktionen bereits in Planung?
Unser kleines Kollektiv von Freunden hat bereits weitere Projekte. Und indem wir dieses beenden, denken wir bereits an neue – aber die decken wir vorerst natürlich nicht auf.
Was wird jetzt aus Gennadij Rakitin?
Das wissen wir nicht. Nazidichter wird er jedenfalls nicht mehr übersetzen.