Dieses Warum beschäftigt mindestens Europa seit mehr als zehn Jahren: Warum haben russische Propaganda, Geld und Waffen in den ukrainischen Donbas-Regionen Donezk und Luhansk so viel stärker verfangen als in anderen Gebieten? Es kann nicht nur an der russischen Sprache oder dem früher hohen Anteil der sich als Russen identifizierenden Menschen liegen, betonen ukrainische Wissenschaftler und Publizisten. Denn dies trifft auch auf Teile der Regionen Odesa, Charkiw und Saporischschja zu.
Vielmehr sei schon der Begriff eines vermeintlich homogenen Donbas’ ein Teil der (pro-)russischen Propaganda, während die gesamte Region vielfältiger sei, sich im ländlichen Raum viel mehr ukrainische Traditionen und Sprache sowie Minderheiten wie etwa die griechische Gemeinschaft fänden. Das Warum-im-Donbas erklären sie mit einer besonders aggressiven Propaganda, die eine laute Minderheit zum Volkswillen erhebt.
Wie sich das genau entwickelt hat, skizziert auch Konstantin Skorkin: In seinem Artikel für die russischsprachige Ausgabe von The Moscow Times beschreibt er die Ursprünge und Entwicklungsstufen der russischen Einmischung in die politische Entwicklung der ostukrainischen Regionen bis zum Beginn des Kriegs 2014. Der Journalist Skorkin stammt selbst aus Luhansk und berichtet seit Jahren aus seiner Heimat, später aus Moskau, mittlerweile aus dem westlichen Ausland über den Donbas.
Graffiti mit dem Schriftzug Noworossija und PTN und den Farben der sogenannten Volksrepublik Donezk © ZUMA Press / Imago
Dem Krieg im Donbas ab 2014 ist eine jahrelange mediale Hassspirale vorausgegangen. So sehr der Euromaidan selbst auch polarisiert haben mag, ohne ein schrittweise gefestigtes ideologisches Fundament hätte es nie zu diesem durch Russland militärisch unterstützten Separatisten-Aufstand kommen können. Der Donbas wird in die Geschichtsbücher eingehen als Paradebeispiel: So erzeugt man künstlich einen bewaffneten Konflikt – durch Missbrauch lokalpatriotischer Bewegungen und medialen Hass.
Bergmann im Donbas statt Bürger der Ukraine
Beim Referendum 1991 stimmte noch die Mehrheit der Bewohner des Donbas für die ukrainische Unabhängigkeit – jeweils fast 84 Prozent in den Oblasten Donezk und Luhansk. Doch diese anfängliche Unterstützung wich schnell einer wachsenden Unzufriedenheit. Dafür gab es mehrere Gründe:
Erstens litt der Donbas stärker als andere Regionen unter dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft. Viele Unternehmen hier waren stark auf den gesamtsowjetischen Absatzmarkt ausgerichtet und erwiesen sich als ineffizient für den geöffneten Weltmarkt.
Zweitens spielte – aufgrund der industriellen Prägung der Region [die viele Arbeiter aus allen Teilen der Sowjetunion in die industriellen Zentren des Donbas’ brachte – dek] – die sowjetische Ideologie eine große Rolle. Später erfasste die verarmte Bevölkerung dann schnell eine UdSSR-Nostalgie. Bis 2004 galten die meisten Sympathien dort der Kommunistischen Partei der Ukraine.
Drittens: Es überwiegt eine russischsprachige Bevölkerung mit einer verwaschenen Identität, die stärker in einem lokalen oder beruflichen Selbstverständnis wurzelt – „Wir aus dem Donbas“, „Wir Bergleute“ – als in einer Identifikation mit der Gesamtukraine. Ebenso in Bezug auf Russland.
Der japanisch-amerikanische Historiker Hiroaki Kuromiya, der sich auf den Donbas spezialisiert, bezeichnete die Region einmal als „Problemkind“ von Kyjiw und Moskau.
Was lockt den Donbas gen Osten?
Bereits in den späten 1980er Jahren strebten im Donbas erste Organisationen eine Autonomie oder sogar Abspaltung der Region von der Ukraine an, etwa die Internationale Bewegung des Donbas in Donezk oder die Volksbewegung der Region Luhansk – häufig unterstützt von lokalen Gruppen der Kommunistischen Partei, die versuchten, ein Gegengewicht zur ukrainischen national-demokratischen Bewegung zu schaffen. Sie blieben jedoch eine marginale Kraft, die nach der Gründung der unabhängigen Ukraine wieder verschwand.
Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig.
Mit der Zeit aber nutzten die lokalen Eliten die zunehmende Unzufriedenheit der Bevölkerung für ihre Zwecke: Während der Bergarbeiterstreiks 1993/94 forderten sie unter anderem die Schaffung einer ostukrainischen Autonomie und die Erhebung des Russischen zur Amtssprache. Es gab sogar ein regionales Referendum zu diesen Fragen, dessen Ergebnisse jedoch nie offiziell anerkannt wurden. Mit der Stabilisierung der sozioökonomischen Lage des Landes ging dieser regionale Separatismus zurück, verschwand aber nie völlig.
Später räumten die Donbas-Aktivisten selbst ein, dass der wichtigste Faktor für das Scheitern der ersten Abspaltungsversuche die fehlende externe Unterstützung durch Russland gewesen sei. In den Beziehungen zwischen Kyjiw und Moskau war in den 1990er Jahren eher die Krim der Zankapfel. Erst 2004 änderte sich die Situation dramatisch.
Wahlen, Angst und Hass im Donbas
Da standen sich bei den Präsidentschaftswahlen der regierungsnahe Kandidat Viktor Janukowytsch, ehemaliger Gouverneur der Oblast Donezk, und Oppositionskandidat Viktor Juschtschenko gegenüber. Die Kandidaten verkörperten zwei gänzlich unterschiedliche Entwicklungsrichtungen der Ukraine: Juschtschenko setzte sich für eine europäische Integration ein, während Janukowytsch sich an Russland orientierte.
Der Kreml machte Juschtschenko das Leben schwer: Ein Trupp Polittechnologen unter der Leitung von Gleb Pawlowski reiste nach Kyjiw. Da Juschtschenko in den westlichen Regionen der Ukraine mehr Unterstützung genoss, setzte Janukowytschs Stab unverfroren auf eine Spaltung des Landes, indem er den russischsprachigen Südosten gegen den national ausgerichteten Westen ausspielte.
Die Propaganda machte aus Viktor Juschtschenko – einem gemäßigt liberalen Banker mit einer Leidenschaft für ukrainische Geschichte – einen radikalen Nationalisten. Als Juschtschenko dann zu einem Treffen mit Anhängern nach Donezk kam, erwarteten ihn in den Straßen riesige Plakate, die ihn in Nazi-Uniform zeigten.
Ein regionaler Fernsehsender in Luhansk zeigte zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell.
Die Flut der „schwarzen“ Negativ-PR nahm nach Beginn der Proteste auf dem Maidan im Herbst 2004, die als Orangene Revolution in die Geschichte eingehen sollten (Orange war die Wahlkampffarbe Juschtschenkos), noch weiter zu. Während die landesweiten Medien nach und nach auf die Seite der Revolution wechselten, verbreiteten die von Janukowytsch-Anhängern kontrollierten regionalen Fernsehsender in den südöstlichen Regionen Hass und Propaganda.
So zeigte beispielsweise ein formell staatlicher regionaler Fernsehsender in Luhansk zweiminütige Hass-Sendungen à la Orwell: Protestierende Ukrainer wurden mit wilden Tieren und Nazis verglichen. Bilder vom Maidan wurden zu einer suggestiven Videosequenz zusammengeschnitten. „Da wurden heulende Wölfe gezeigt, marschierende Militäreinheiten, eine Gottesanbeterin in Angriffshaltung, springende Affen, Obst, das im Zeitraffer verfaulte“, erinnert sich ein Luhansker Journalist. Viele zweifelten schon damals, ob solch ausgefeilte Beispiele hybrider Kriegsführung wirklich von einem Provinzsender produziert werden konnten.
Gleichzeitig wurden lokale Oppositionelle massiv unter Druck gesetzt. So wurde [Ende November 2004 – dek] Juschtschenkos Hauptquartier in Luhansk angegriffen. Einige Tage später ging eine Gruppe angeheuerter Hooligans mit Baseballschlägern auf eine „orange“ Kundgebung im Zentrum von Luhansk los. Im Grunde wurde im Donbas 2004 eine Strategie angewandt, die 2014 landesweit ausgeweitet wurde: Ihr Ziel war organisiertes Chaos und Polarisierung.
Trotz allem: Juschtschenko gewann die Wahlen, Janukowytsch verlor.
Die Spaltungsideen nahmen neue Formen an. Am 28. November 2004 fand in Sewerodonezk (Oblast Luhansk) ein Kongress mit Lokalpolitikern statt, auf dem eine neue autonome Südost-Republik konzipiert wurde – ihre vorgesehenen Grenzen deckten sich übrigens mit dem vom Kreml 2014 verkündeten Konzept Noworossija (dt. Neurussland). Am Kongress nahm auch der damalige Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow teil. Russische Sender, die im russischsprachigen Teil der Ukraine traditionell beliebt waren, präsentierten diesen Kongress als Ausdruck des Volkswillens.
Vom Maidan zum Euromaidan – eine Eskalation
Den Sieg des ersten Maidan fasste der Kreml als existenzielle Bedrohung auf. Der amerikanische Politikwissenschafter Paul D'Anieri schrieb, die orange Revolution habe der Erwartung vieler Russen, die Ukraine würde eines Tages doch „wieder heimkommen“, einen Dämpfer verpasst und ihren möglichen, unwiederbringlichen Verlust vor Augen geführt. Daher erhielten von nun an alle prorussischen und separatistischen Bewegungen im Donbas jede größtmögliche Unterstützung vonseiten Moskaus. Der Donbas gilt seitdem – wie die Krim – als Vorposten des russischen Einflusses.
Einschlägige Organisationen schossen wie Pilze aus dem Boden – wie Donezkaja respublika (dt. Donezker Republik) in Donezk, Molodaja gwardija (dt. Junge Garde) in Luhansk. Trotz ihrer verfassungsfeindlichen Rhetorik drückten die regionalen Behörden ein Auge zu und förderten sie sogar heimlich. Alle diese Organisationen bekamen Unterstützung von ultrarechten Bewegungen in Russland, die wiederum vom Kreml gesteuert wurden – allen voran von Alexander Dugins Eurasische Union. Pawel Gubarew, später Mitbegründer der selbsternannten „Donezker Volksrepublik“, ließ sich in Lagern der Russischen Nationalen Einheit ausbilden.
Die Region wurde von einer massiven Propagandawelle überschwemmt, die den lokalen Donbas-Patriotismus über den gesamtukrainischen Patriotismus setzte und ständig die angeblich besonderen Beziehungen des Grenzgebiets zu Russland unterstrich. So wurde zum Beispiel in Luhansk ein Denkmal für „die Opfer der UPA“, errichtet. Dabei waren OUN–UPA praktisch nie im Donbas aktiv gewesen (abgesehen von episodischen Ausflügen, die Vertreter dieser Organisation während des Zweiten Weltkriegs unternahmen). Das war eine zutiefst propagandistische Geste. Sie zielte darauf ab, die Bewohner des Ostens und des Westens, die die dunklen Kapitel der ukrainischen Geschichte auf unterschiedliche Weise wahrnehmen, gegeneinander aufzuhetzen.
Eine Partei provoziert medialen Schlagabtausch
Zur wichtigsten Plattform dieser spalterischen Ideen entwickelte sich die Partei der Regionen, die im Donbas praktisch ein Machtmonopol innehatte. Der Rat der Oblast Luhansk beschloss zum Beispiel das regionale Programm Patriot Luganschtschiny (dt: Patriot des Luhansker Landes), in dem eine ganze Reihe kultureller Symbole aus Sowjetzeiten als Alternative zum nationalen Projekt der Ukraine präsentiert wurden.
Solche lokalen Bemühungen stützten sich auf Beistand aus Russland: Regelmäßig fanden im Donbas runde Tische zu Themen wie „Föderalisierung des Landes“ [als Kontra-Forderung gegen den Euromaidan – dek] oder „Schutz der russischen Bevölkerung“ statt, an denen immer auch Gäste aus Moskau teilnahmen. Die Stiftung Russki Mir (dt. Russische Welt) eröffnete in Luhansk eine Filiale.
Die über die Jahre entstandene Entfremdung des Donbas und das hohe Maß an Identifikation mit der Region boten diesen polittechnologischen Übungen eine gute Angriffsfläche. 2014 verstanden sich laut einer Studie der Luhansker Nationalen Universität 35,8 Prozent der Bevölkerung der Oblaste Donezk und Luhansk in erster Linie als Bewohner ihrer Region, während sich nur 28,1 Prozent als ukrainische Staatsbürger fühlten. Ein weiterer beliebter Identitätsmarker war die Antwort „Sowjetmensch“ mit 14,4 Prozent.
Zur Verstärkung dieser Spaltung übten sich Wortführer der Partei der Regionen in einer Rhetorik der feindseligen und diskriminierenden Sprache. Der Regionen-Politiker Nikolaj Lewtschenko aus Donezk sagte: „Ukrainisch ist die Sprache der Folklore. Wenn Russisch Amtssprache ist, dann gibt es einfach keine Notwendigkeit mehr, Ukrainisch zu sprechen. […] Seien wir doch realistisch. Die zweite Amtssprache ist lediglich pro forma. In der Ukraine soll es nur eine Amtssprache geben, nämlich Russisch.“ Sein Kollege Juri Boldyrew formulierte es noch radikaler: „Ich bin dafür, dass die Ukraine Galizien loswird. Wenn man Galizien aus meinem Land entfernt und die echte Ukraine mit dem Donbas und der Krim übrig lässt, dann wird sie jenes erste [und echte] Russland sein […] Galizien ist eine Geschwulst am Leib der Ukraine.“
Darauf folgte eine Welle negativer Reaktionen aus der patriotischen ukrainischen Intelligenzija und von Vertretern des westlichen Teils der Ukraine. Diese Konfrontation verhärtete sich besonders nach Janukowytschs erfolgreicher Revanche bei den Präsidentschaftswahlen 2010, die er größtenteils den Wählerstimmen aus dem Süden und Osten zu verdanken hatte.
Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ hatte Russland leichtes Spiel.
Der prominente ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, gebürtig aus Iwano-Frankiwsk, erklärte 2010, die Ukraine solle eher den Donbas und die Krim abschütteln, deren Bevölkerung die Ukraine fremd sei. Sein mit dem Schewtschenko-Preis ausgezeichneter Kollege Wassyl Schkljar schlug noch schärfere Töne an: „Wenn die Nation krank ist und dieses Territorium nicht verträgt, nicht verdauen kann, dann ist es besser, sich davon zu verabschieden.“
Der Historiker Hiroaki Kuromiya sieht darum auch bei den ukrainischen Intellektuellen einen Teil der Schuld an der ukrainischen Spaltung: „Durch ihr Misstrauen, ihre Geringschätzung und Verachtung gegenüber der Bevölkerung und Kultur des Donbas‘ – als ob das, sozusagen, die unzivilisierten Hinterhöfe der Ukraine wären –, hatte Russland leichtes Spiel.“
So verstärkte sich die Spaltung. Bis kurz vorm Euromaidan Russlands Bemühungen praktisch offene Formen annahmen: Im September 2013 fuhr Putins Berater Sergej Glasjew nach Luhansk zu einer bizarren Parade prorussischer Kräfte, nämlich einer Konferenz über die Perspektiven der Ukraine, der Eurasischen Zollunion beizutreten. Die Veranstaltung wurde von Viktor Medwedtschuks Bewegung Ukrajinski wybor (dt. Ukrainische Wahl) organisiert. Viele der Delegierten sollten ein halbes Jahr später zum aktiven Kern der selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk gehören.
Wichtigster Destabilisierungsfaktor: Russland
Im Laufe eines Jahrzehnts hatte sich im Donbas immer mehr Hass angestaut. Feindselige Rhetorik und eine Politik der Polarisierung führten zu einem bewaffneten Konflikt. Dabei trafen unterschiedliche Faktoren aufeinander: Politiker und Intellektuelle, die aus einem Zwiespalt politisches Kapital schlagen wollten, alte Traumata und Komplexe, Probleme bei der Entwicklung des ukrainischen Staates. Doch der schwerwiegendste Destabilisierungsfaktor war eine externe Macht: Putins Russland. Ohne dessen Einmischung hätten sich selbst die heftigsten Spannungen zwischen Kyjiw und dem Donbas, zwischen Osten und Westen gelöst – nämlich im Zuge der Evolution einer vielfältigen ukrainischen Gesellschaft.