„Die Russische Revolution von 1917 kann man sich ohne Marseillaise und rote Fahnen kaum vorstellen“, schreibt der Historiker Boris Kolonizki in seinem Buch Machtsymbole und Machtkampf. Und es geht nicht nur um Vertonung und Illustration. Zu Zeiten von sozialen Revolutionen, wie sie Russland im Jahr 1917 erlebt hat, werden Lieder zu einem der wichtigsten Instrumente des Machtkampfs. Sie konsolidieren und trennen gesellschaftliche Gruppen manchmal mehr als politische Programme und Reden. Da, wo staatliche Institutionen in Schutt und Asche liegen, da, wo das Rechtssystem stark beschädigt ist, können die bekannten Melodien Gewalt legitimieren und auch den politischen Ton mit angeben.
Das gemeinnützige Medien-Projekt Arzamas stellt den Soundtrack der Revolution vor – die wichtigsten Lieder des Jahres 1917.
Marseillaise
Musik: Claude Joseph Rouget de Lisle
Text: Pjotr Lawrow
Solisten der Kiewer Oper und das Orchester der Schallplattenfirma Extrafon. Kiew 1917
Die russischen Revolutionäre verglichen sich gern mit ihren französischen Vorkämpfern aus der Zeit von 1792, in der die Marseillaise entstanden ist. Pjotr Lawrow, Wissenschaftler und Angehöriger der [sozialrevolutionären – dek] Narodnikibewegung verlieh dieser Stimmung Ausdruck, als er 1875 einen neuen russischen Text zu der bekannten Melodie verfasste: „Lasst uns die alte Welt verdammen, // Lasst uns ihren Staub von den Füßen schütteln!“
In Frankreich wurde die Marseillaise 1879 [endgültig – dek] zur Nationalhymne erklärt, was in den Beziehungen zwischen dem Russischen Reich und Frankreich als seinem engsten Verbündeten für peinliche Kollisionen sorgte. Denn nun galt es, neben Gott, schütze den Zaren auch das Revolutionslied zur Aufführung zu bringen.
Im offiziellen Kontext gab es die Marseillaise in Russland entweder mit dem französischen oder ganz ohne Text – jegliche andere Darbietung war verboten. Zudem fügte sich Lawrows Text nicht allzu glatt in die französische Melodie, sodass der Komponist Alexander Glasunow die Musik ein wenig an den russischen Text anpasste. Ausländer wunderten sich, warum sie langsamer klang als das Original.
„Man singt die Marseillaise bei uns auf eigene Art, und zwar schlecht, geradezu verhunzt wird dieses schwungvolle Lied“, klagte der Maler Alexander Benois.
Zur Februarrevolution waren die russischen Musikkapellen mit der Marseillaise bereits vertraut, und der verbotene Lawrow-Text wurde im ganzen Land offen gesungen.
Hymne auf ein freies Russland
Musik: Alexander Gretschaninow
Text: Konstantin Balmont
Fjodor Oreschkewitsch und das Orchester der Schallplattenfirma Extrafon. Kiew 1917
Die Hymne auf ein freies Russland ist das einzig wirklich neue Massenlied, das während der Revolution 1917 geschrieben wurde – alle anderen waren Umarbeitungen alter Lieder oder hatten schon vorher im Untergrund existiert.
Im revolutionären Schwung schrieb der Moskauer Komponist Alexander Gretschaninow innerhalb einer halben Stunde die Melodie nieder, der symbolistische Dichter Konstantin Balmont verfasste den Text dazu. Wobei die ersten beiden Zeilen bei einem anderen Symbolisten, nämlich Fjodor Sologub, entlehnt waren: „Es lebe Russland, freies Land! Freie Urkraft, zu Großem bestimmt!“
Das Lied verbreitete sich augenblicklich im Land, Orchester und Kapellen machten sich die Melodie zu eigen, die Hymne wurde auf Kundgebungen gesungen. Doch ihr ein offizielles Siegel aufzudrücken, war bis zum Oktober nicht gelungen oder nicht gewollt.
Nach der Oktoberrevolution wurde die Hymne auf ein freies Russland zum Emigrationslied, das man in den Zwischenkriegsjahren in Europa und Amerika sang und auch aufnahm. Nach dem Krieg schließlich, noch zu Lebzeiten des Komponisten Gretschaninow, erlangte die Melodie weltweite Bekanntheit: als Sendezeichen von Radio Swoboda.
Die hier vorliegende Aufnahme, eine der ersten, entstand in Kiew auf der Woge der immensen Popularität, die die Melodie innerhalb kürzester Zeit erreichte. Interpret ist der Tenor Fjodor (Theodor) Oreschkewitsch, der in Tbilissi und Warschau, im Marinski und im Bolschoi-Theater sang und 1917 Solist an der Kiewer Oper war. Sein stilvoller klassischer Gesang harmoniert nicht allzu gut mit dem schrillen Sound des Extrafon-Blasorchesters, doch über solche Kleinigkeiten sah man im Revolutionsjahr hinweg.
Trauermarsch
„Wy shertwoju pali …“ („Ihr seid als Opfer gefallen …“)
Musik: Alexander Warlamow
Unbekannte Blaskapelle. Deutschland, ca. 1907
[Der spätere Trauermarsch der Revolutionäre – dek] hat eine reiche vorrevolutionäre Geschichte. Die Melodie wurde in den 1830er Jahren von Alexander Warlamow komponiert, einem Klassiker des russischen Kunstlieds. Dem Text liegt ein Gedicht zugrunde, das Charles Wolfe 1816 zum Tod eines britischen Generals verfasst hatte. Iwan Koslow hat es bearbeitet.
1870 fand das Lied Eingang in das revolutionäre Milieu, wo es einen neuen, feurigen Text erhielt, verfasst von dem Narodnik Anton Amossow: „Wy shertwoju pali w borbe rokowoi // Ljubwi bessawetnoi k narodu …“ (dt. „Ihr seid als Opfer gefallen im schicksalhaften Kampf // Der bedingungslosen Liebe zum Volk … “). Wy shertwoju pali (dt. Ihr seid als Opfer gefallen) wurde zum Trauerlied, dem Trauermarsch der Revolutionäre, mit dem sie von den gefallenen Kameraden Abschied nahmen.
Man sang es während der Revolution von 1905, als man die Opfer des niedergeschlagenen Aufstands zu Grabe trug. Dann wurde es verboten und seine Aufnahmen heimlich nach Russland geschmuggelt. 1917 erklang das Lied erneut im bereits bekannten Kontext – „Ihr seid als Opfer gefallen …“ – sobald die Helden der Revolution die ersten Opfer ausriefen. Es war diese Trauermelodie, die bei ihrem Begräbnis am 23. März 1917 in Petrograd spielte.
Die Schallplatte der legendären Plattenfirma Poliaphone, die hier zu hören ist, war etwa zehn Jahre vor dem Revolutionsjahr 1917 erschienen: Die Aufnahme (ohne Text) ist aller Wahrscheinlichkeit nach in Deutschland entstanden, wo die Platte gepresst wurde, auf dem Etikett ist jedoch die neutrale Bezeichnung Pochoronny Marsch (dt. Trauermarsch) zu lesen. Dort ist zur Tarnung auch eine Handelsfirma Poljakin und Söhne in Odessa angegeben, die nie existierte. Die Orchesterversion wirkt klangvoll und qualitativ hochwertig – die deutsche Aufnahmetechnik war damals eine der besten.
„Vorwärts, Genossen, im Gleichschritt“
Musik: Verfasser unbekannt
Text: Leonid Radin
Chor des Moskauer Staatstheaters. Moskau 1917
Entstanden ist dieses Lied in Deutschland als Protestlied gegen den Einmarsch der napoleonischen Truppen. Im 19. Jahrhundert gehörte es zum Repertoire deutscher Gesangs- und Studentenvereinigungen.
Nach Russland gelangte das Lied Mitte des 19. Jahrhunderts, gegen dessen Ende wurde es von den Revolutionären in Gebrauch genommen: 1898 verfasste der den Narodniki angehörende Chemiker Leonid Radin im Moskauer Taganka-Gefängnis einen neuen Text und studierte diesen sogar mit seinen Mitgefangenen ein. „Den Weg ins Glück der Freiheit wollen wir uns bahnen mit Macht.“ Mit diesen kämpferischen Zeilen büßte die bewährte Melodie ihren melodischen, walzerartigen Rhythmus ein und wurde zum Kampfmarsch.
Nachdem sie 1905 erklungen war, blieb sie bei den Revolutionären eine der beliebtesten Melodien. 1917 war sie von Anfang an und überall zu hören. Nach der Revolution gelangte das Lied wieder nach Deutschland, wo es [unter dem Namen Brüder zur Sonne zur Freiheit – dek] zunächst von Arbeiterchören und Kommunisten gesungen wurde, später dann auch von den Nazis.
Doch in den Ländern Osteuropas bestand daneben auch die beinahe vergessene, langsame und melodiöse Version fort: Noch Mitte der 1930er Jahre sang man im unabhängigen Lettland auf diese Melodie von dem Mädchen eines Fischers, das sich nach dem Geliebten sehnt.
Ukrainische Hymne
Musik: Michail Werbizki
Text: Pawel Tschubinski
Ukrainischer Volkschor unter der Leitung von Alexander Koschiz. Kiew 1917
Kiew gehörte nicht nur zu den Zentren der revolutionären Ereignisse von 1917, es spielte auch für die Schallplattenindustrie im vorrevolutionären Russland eine bedeutende Rolle.
Hier betrieb die große Schallplattenfabrik der Firma Extrafon rege Geschäfte. In den Klang-Annalen der Februarrevolution hat die Firma eine besonders markante Spur hinterlassen. Auf ihrem Etikett, reich verziert mit Blättern von Kiewer Kastanien, nahm sich ein in den 1860er Jahren entstandenes Lied besonders eindrucksvoll aus, das feierlich (und erstmalig!) Ukrainische Hymne genannt wurde. Für die Ukraine erwies sich diese Aufnahme als eine Art Auftakt zu der [kurzen – dek] Epoche der Zentralna Rada, die die zeitweilige Unabhängigkeit der Ukraine proklamierte.
Hymne der Zionisten (HaTikwa)
Musik: Samuel Cohen
Text: Naphtali Herz
Orchester spielt unter der Leitung von Arkadi Itkis. Kiew, 1917
Auf der Schallplatte mit der Hymne der Ukraine war auch die Hymne der Zionisten – als B-Seite. Die Februarrevolution und die mit ihr aufgekommene Hoffnung auf eine neue nationale Identität hatten alte Konflikte vorübergehend abgemildert. Doch die Idee der Gemeinschaft von Ukrainern und Juden in einem von der Autokratie befreiten Land sollte nun ausgerechnet ein Lied verkörpern, das dazu aufrief, Russland so bald wie möglich zu verlassen.
1888 hatte Samuel Cohen ein Gedicht von Naphtali Herz Imber über die Hoffnung auf die Rückkehr nach Palästina mit einer moldawischen Volksmelodie unterlegt. Heute ist dieses Lied die israelische Nationalhymne.
1917 war die Hymne der Zionisten nicht unumstritten. Gewiss, den Verfechtern der Auswanderung stand es jetzt frei, nach Palästina zu gehen. Aber auch in Russland waren jahrhundertealte Grenzen gefallen – nämlich die des [sogenannten jüdischen – dek] Ansiedlungsrayons, was mitunter weitreichende Möglichkeiten eröffnete.
Ein Beispiel hierfür ist etwa der Dirigent des Orchesters, das im revolutionären Kiew die HaTikwa eingespielt hatte. Gebürtig aus dem kleinen Städtchen Rschyschtschiw im Kiewer Gouvernement, bekleidete Arkadi Itkis nach der Revolution den Posten eines Regimentskapellmeisters der Roten Armee und wurde 1919 Inspekteur der ukrainischen Militärorchester. Ab 1924 war er Kapellmeister der Infanterieschule in Iwanowo-Wosnessensk und machte sich durch den Marsch Krasnaja Swesda (dt. Roter Stern) einen Namen.
Text [02/2017]: Alexej Petuchow
Übersetzung: Anja Lutter
Veröffentlicht am 15.05.2017