Ein Blick in die Kommentarspalten zeigt, was Mascha Iwaschinzowa (1942 – 2000) zu Lebzeiten nicht für möglich gehalten hätte: Bewunderung und Anerkennung für ihre Momentaufnahmen, die hauptsächlich Sankt Petersburg zeigen. Zehntausende Menschen folgen ihren Schwarz-Weiß-Bildern bereits in den sozialen Netzwerken.
Schon fast symptomatisch für weibliches Schaffen unterschätzte sie ihre Fotografie chronisch, war davon überzeugt, dass sie von männlicher Konkurrenz überschattet würde. So blieb ihr Talent bis über ihren Tod im Jahr 2000 hinaus versteckt. Erst ihre Nachfahren entdeckten Iwaschinzowas Werke 2017 fein säuberlich geordnet, beschriftet und in Schachteln verpackt auf dem Dachboden ihres Hauses. Der Fund umfasst 30.000 Negative und Abzüge: Sie dokumentieren detailverliebt und charakterstark das Leben im Sankt Petersburg der 1960 bis 1990er Jahre.
Einige Stimmen vergleichen Iwaschinzowa mit der US-amerikanischen Amateurfotografin Vivian Maier, die ihre Aufnahmen ebenso – in der festen Überzeugung von der Banalität ihrer Kunst – bis zu ihrem Tod geheim hielt.
Iwaschinzowa führte ein – in der Sowjetunion unytpisch – beruflich unbeständiges Leben: Sie verdiente ihr Geld unter anderem als Lichttechnikerin, Theaterkritikerin, Bibliothekarin, Sicherheitsbeamtin und Konstrukteurin. Die Konstante in ihrem Leben war die Fotografie, der sie bis kurz vor ihrem Tod treu blieb.
Iwaschinzowa hatte einen besonderen Blick für das Alltägliche. Sie nahm Momente auf: mürrische Schuljungen, neugierige Katzen, gedankenverlorene Passanten, Sankt Petersburger Hinterhöfe und gesellige Szenen aus sowjetischen Wohnküchen. Viele ihrer Fotos – gerade auch die Stilleben – bestechen durch eine ungewöhnlich moderne Bildsprache.
Der heroische Arbeiter, die glückliche Familie, im Hintergrund moderne Architektur – die sowjetische Zensur versuchte ein Idealbild in der Fotografie zu etablieren. Iwaschinzowa entgegnete dieser Utopie mit ihren Aufnahmen. Sie fokussierte ebenso die fehlerhaften und schwermütigen Seiten des Lebens in der UdSSR. Iwaschinzowa selbst musste lange Zeit in einer psychiatrischen Klinik verbringen, weil sie ihr zugewiesene Berufe ablehnte.
Ein immer wiederkehrendes Motiv auf Iwaschinzowas Bildern sind Hunde, aber auch Katzen, Vögel, Pferde und Affen. Während die Fotografin eher auf Distanz zu ihren Mitmenschen blieb, habe sie Gesellschaft von Tieren sehr geschätzt, berichten Tochter Assja und Schwiegersohn Jegor.
Das Leben im Frauengefängnis ist ein Leben in Isolation und unter ständiger Beobachtung. Fotografin Elena Anosova, ausgezeichnet mit dem World Press Photo Award 2017, hat es mit der Kamera festgehalten: In ihren Porträts von Gefangenen will sie zeigen, wie der Alltag in Haft die Frauen verändert.
Heldin der Nicht-Liebe, „halb Nonne, halb Hure“ oder „klagende Muse“? Christine Gölz über Anna Achmatowa, die Dichterin, die grausame Umwälzungen der Epoche überlebte und die Erinnerung daran in ihren Versen bewahrte.
Sie steht auf einem Felsen, am Horizont erheben sich weiße Wolken aus Fabrikschornsteinen. In der Hand hält sie einen Hammer, zu ihren Füßen liegt eine Sichel, über dem schlichten roten Kleid trägt sie eine rote Arbeitsschürze. Ihr Gesicht hat die junge Frau der strahlenden Sonne zugewandt, mit ihrer Hand weist sie auf prunkvolle Gebäude aus Stein hinter sich – auf eine Stadt der Zukunft. Die Unterschrift dieses Propagandabildes aus dem Jahr 1920 lautet: „Was die Oktoberrevolution den Arbeiterinnen und Bäuerinnen gegeben hat.“ Die Antworten gibt das Bild mit seinen Gebäuden, inklusive Kindergarten, einer Schule für Erwachsene und dem Sowjet der Arbeiter- und Bauerndeputierten. Gleich einer Handlungsaufforderung sieht der Betrachter Frauen und Kinder in diese mustergültige Stadt ziehen, die für den einst Unterdrückten attraktive soziale und kulturelle Anreize bieten soll.
Nur durch die Befreiung der Arbeiterklasse werde sich auch die Lage der Arbeiterinnen verbessern – diese Losung wurde beim Ersten Allrussischen Frauenkongress im Jahr 1908 laut. Sie kam von Alexandra Kollontai, der wichtigsten und schillerndsten Vertreterin der sozialistischen Frauenbewegung. Kollontai vertrat die Position, dass es auch einer eigenen Agitation der Frauen bedürfe. Sie, als überzeugte Feministin und Sozialistin aus gutem Hause, forderte Gleichberechtigung, ein zentrales Thema auf dem Kongress in Sankt Petersburg, an dem viele Vertreterinnen unterschiedlicher Frauenorganisationen teilnahmen. Es ging vor allem um das Wahlrecht für Frauen, um den Zugang zu höherer Bildung und zu neuen Berufen.
Die Frauenbewegung politisierte die Frauen: Am 23. Februar/8. März 1917 gingen sie auf die Straße. In Petrograd markiert eine Demonstration zum Internationalen Frauentag den Auftakt zur Februarrevolution.1 Die Frauen forderten Brot und Frieden – angesichts der schlechten Versorgung und den langen Kriegsjahren war das erste Priorität. Daneben klagten sie auch grundlegende Rechte ein, wie das bereits lang erhoffte Wahlrecht. Im Juli 1917 wurde es den Frauen in Russland zugesprochen.2
Vorstellungen von einer sozialistischen Zukunft
Doch nach der siegreichen Oktoberrevolution und der Machtübernahme der Bolschewikigalt es, die Theorie – nämlich die Vorstellungen einer sozialistischen Zukunft und Lebensweise – in die Praxis umzusetzen. Seit 1918 sollten zahlreiche Gesetzesmaßnahmen rasch zu einer neuen, gleichberechtigten Gesellschaft führen, darunter die Legalisierung von Ehescheidungen und Abtreibungen, ein vereinfachtes Ehegesetz, ein staatlicher Mutterschutz, die Gleichstellung von Mann und Frau sowie gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Bei diesem historischen Experiment bedachten die Machthaber anfangs jedoch nicht, wie ein Übergang zu schaffen sei, sprich: wie die vorhandenen Alltagsbedingungen mit den theoretischen Zielen in der Praxis vereinbart werden könnten.
Die Frauenfrage als wichtiger Bestandteil des Byt
Zur Benennung der verschiedenen Aspekte des Alltagslebens benutzten Zeitgenossen den Begriff Byt. Er umfasste sowohl Strukturen, wie soziale Einrichtungen, aber auch individuelle Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen.3 Wichtiger Bestandteil des neuen Byt war die Frauenfrage, unter der eine breite Einbeziehung von Frauen in die Arbeiterschaft verstanden wurde, indem reproduktive Arbeiten im Haushalt und in der Familie durch staatliche Institutionen übernommen werden sollten.
Die prägendste Person des bolschewistischen Feminismus wurde schließlich Alexandra Kollontai. Sie setzte sich für eine Vereinbarkeit von Haus-, Familien- und Lohnarbeit für Frauen ein und überlegte sich dafür praktische Umsetzungen.4 Nach der Oktoberrevolution wurde sie Ministerin im ersten sowjetischen Kabinett unter Lenin. Zu dieser Zeit sind ihre Forderungen noch radikaler: Im November 1918 sprach sie über die Zerschlagung des familiären Haushalts und die Abschaffung der privaten Kinderbetreuung.5
Shenotdel – die Frauenabteilung
Bereits 1918 wurde dank der Beharrlichkeit von Inessa Armand, Alexandra Kollontai und anderen weiblichen Bolschewiki nach zähen Verhandlungen und trotz massiver Widerstände eine eigene Abteilung für Arbeiterinnen und Bäuerinnen beim Zentralkomitee der Partei geschaffen, das sogenannte Shenotdel (von Shenskij Otdel, dt. Frauenabteilung).6 Das Hauptanliegen des Shenotdel bestand in der Gleichstellung von Frauen durch die Schaffung eines neuen Byt. Damit war die gesellschaftspolitische Mobilisierung von Frauen gemeint, ihre Einbindung in die Arbeiterschaft, die Durchführung von Bildungsmaßnahmen, Errichtung von Krippen, Kindergärten, Kantinen, Wäschereien und medizinischen Beratungsstellen und so weiter.
Die Frauenabteilungen hatten maßgeblich Anteil an der Propagierung eines neuen Weiblichkeitsideals, das Ordnungssinn, moralische Integrität, Fürsorge für die eigene Familie und die Familie des Staates, gesellschaftliches Engagement, Erwerbstätigkeit und Mutterschaft beinhaltete und sich als Leitbild für die 1930er Jahre durchsetzte. Dennoch war das vorrangige Ziel immer die Frage, wie das neue Frauenbild in der sozialistischen Gesellschaft aussehen sollte, welche Schritte zur Erreichung der Emanzipation erforderlich waren.
Verlust revolutionärer Utopien
In der frühen Sowjetunion wurde die Frau zunächst als Sinnbild für die Segnungen der neuen Zeit mit zahlreichen Konnotationen aufgeladen: Sie symbolisierte Freiheit, Sozialismus, siegreiches Proletariat, ein besseres Leben und ein neues Menschenbild.7 Schon bald aber zeigte sich ein Verlust solcher revolutionärer Utopien. Die Forderung nach einer breiten Einbeziehung von Frauen in die Arbeiterschaft und somit einer schnellen Umsetzung des Gleichheitsanspruchs schien während des Bürgerkriegs durch eine hohe weibliche Erwerbstätigkeit greifbar nahe zu sein. Die Desillusionierung folgte bereits nach Beendigung des Krieges und durch den Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik (Nowaja Ekonomitscheskaja Politika, NEP) im Jahr 1921. Die zurückkehrenden Männer verdrängten die Frauen wieder von den stellvertretend eingenommenen Arbeitsplätzen.
Bereits durch den Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik ab 1921 erfolgte eine Abkehr von den ursprünglichen Plänen zum Aufbau einer neuen Lebensweise. Dafür sind verschiedene Gründe zu nennen: vor allem aber die Erkenntnis der Machthaber, dass ein Wandel in den Lebensweisen sich nicht allein durch strukturelle Veränderungen, Gesetze und Propaganda vollziehen konnte, sondern ein von Beginn an nicht bedachter Übergang geschafft werden musste.
Rekonstruktion der patriarchalischen Geschlechterrollen
Als weiteres Problem erwiesen sich Vorstellungen einer Geschlechterordnung, die beharrlich eine männliche Dominanz und weibliche Unterordnung vorsah. Das schon bestehende Bild von Weiblichkeit wurde neuerlich bestätigt und patriarchalische, hierarchische Geschlechterrollen wurden rekonstruiert: Alle umzubauenden Bereiche des Byt galten als ausschließlich weibliche Belange. Ein entsprechendes soziales Engagement spiegelte die Tugendhaftigkeit der neuen Sowjetbürgerin. Aus einer ursprünglich biologischen Geschlechterdifferenz, die in der Gebärfähigkeit der Frau begründet lag, wurde nun – allerdings eher unbewusst und ungewollt – eine kulturelle und soziale Differenz aufgebaut, indem die Frauensache als etwas Besonderes definiert wurde und dadurch den Status einer speziellen Kategorie erhielt.8
Doppelbelastung
Entgegen den ursprünglichen revolutionären Zielen war die Arbeiterin keineswegs mit dem Mann gleichgestellt, sondern musste sich neben der Fabrikarbeit auch noch um Haushalt und Kindererziehung kümmern, weshalb sie am gesellschaftlichen Leben aus Zeitmangel nicht teilnehmen konnte. Spätestens seit der forcierten Industrialisierung zu Beginn der 1930er Jahre gehörte die Doppelbelastung von Beruf und Familie zur normalen weiblichen Biographie.9
Trotz nachweislicher Erfolge bei der Mobilisierung von Frauen und einem ständigen Anstieg an sozialen Einrichtungen verstärkte sich 1929/1930 von Seiten des Zentralkomitees der Partei die Kritik an den Frauenabteilungen und sie wurden ersatzlos „reorganisiert“.10 Mit dem Wegfall dieser Institution und den gleichzeitig einschneidenden Veränderungen in der politischen Führung, wo sogenannte linke Bolschewiki zum Schweigen gebracht wurden, wurden weitere Diskussionen über Lebensweisen, wie sie kontrovers, aber offen in den zwanziger Jahren geführt wurden, abrupt beendet. Nun galt es, so schnell wie möglich den „Sozialismus in einem Land“ durchzuführen, kritische Töne wurden von einer beschönigenden Propaganda abgelöst.
1.Altrichter, Helmut (2017): Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst, Paderborn, S. 112
2.Goldberg Ruthchild, Rochelle (2010): Equality & Revolution: Women's Rights in the Russian Empire, 1905-1917, Pittsburgh
3.Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija: Tom 8, Moskau, 1927
4.Kollontai, Alexandra (1979): Zwei Richtungen: (Aus Anlass der Ersten Internationalen Konferenz Sozialistischer Frauen in Stuttgart 1907), in: Dies.: Der weite Weg: Erzählungen, Aufsätze, Kommentare. hrsg. v. Bauermeister, Christiane u.a., Frankfurt am Main, S. 46-47 und Farnsworth, Beatrice Brodsky (1980): Aleksandra Kollontai: Socialism, Feminism, and the Bolshevik Revolution, Stanford/California, S. 136-161, S. 168
5.Während die Idee kollektiver Speiseeinrichtungen, Wäschereien und Konsumgenossenschaften zum Bezug von Lebensmitteln großen Anklang fand, empfanden viele Zuhörerinnen die Abschaffung der privaten Kinderbetreuung als bedrohlichen Eingriff in ihr privates Leben. S. Farnsworth: Kollontai S. 136-161, S. 168
6.Samojlova, K. (1920): Organizacionnye zadači otdelov rabotnic, Moskau und Scheide, Carmen (2001): Kinder, Küche, Kommunismus: Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen, Zürich/Basel
7.Gillen, Eckhart (1978): Von der politischen Allegorie zum sowjetischen Montageplakat, in: Knödler-Bunte, Eberhard / Erler, Gernot (Hrsg.): Kultur und Kulturrevolution in der Sowjetunion, Berlin, S. 57-80; Bonnell, Victoria E. (1991): The Representation of Women in Early Soviet Political Art, in: Russian Review 50 (1991) S. 267-288
8.Auch die kritische Feministin Kollontai hatte nicht in Betracht gezogen, dass Kindererziehung, Kochen und Waschen durchaus Tätigkeiten waren, die von Männern durchgeführt werden könnten.
9.Attwood, Lynne (1999): Creating the new Soviet Woman: Women`s Magazines as Engineers of Female Identity, 1922-1953, New York; Buckley, Mary (1989): Women and Ideology in the Soviet Union, New York
10.Wood, Elizabeth A. (1997): The Baba and the Comrade: Gender and Politics in Revolutionary Russia, Bloomington und Goldman, Wendy Zeva (1996): Industrial Politics, Peasant Rebellion and the death of the Proletarians Women’s Movement in the USSR, in: Slavic Review 55/1, S. 46-77; Goldman, Wendy Zeva (1993): Women, the State and Revolution: Soviet Family Policy and Social Life, 1917-1936, Cambridge
„Um mich herum sind Verrat, Feigheit und Betrug“, notierte Zar Nikolaus II. am 2. März (15. März) 1917 in sein Tagebuch, nachdem er am Tag zuvor in einem Eisenbahnwaggon seine Abdankungsurkunde unterzeichnet hatte. Frithjof Benjamin Schenk über die dramatischen Entwicklungen im Winter 1917, die als Februarrevolution in die Geschichte eingegangen sind.
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