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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Russland im Ersten Weltkrieg

Russland sei nicht in der Lage, einen längeren Krieg durchzustehen. Davon war der einflussreiche konservative Politiker Pjotr Durnowo fest überzeugt. Im Februar 1914 warnte er in einer Denkschrift an Zar Nikolaus II. eindringlich vor den möglichen Folgen: „Die Unruhen werden damit beginnen, dass man die Regierung für alle Katastrophen verantwortlich macht. […] Die besiegte Armee, die ihre zuverlässigsten Männer verloren hat und von der primitiven bäuerlichen Gier nach Land mitgerissen wird, wird zu demoralisiert sein, als dass sie als Bollwerk für Gesetz und Ordnung dienen könnte [...] und Russland wird in hoffnungslose Anarchie stürzen, deren Ausgang nicht vorauszusehen ist.“1

Drei Jahre später sollten Durnowos Befürchtungen Realität werden. Im Ersten Weltkrieg zerfiel das Russische Imperium. Den Belastungen eines modernen Krieges war es nicht gewachsen.

Der russische Staat war den Belastungen eines modernen Krieges nicht gewachsen / Foto © ITAR-TASS

Zunächst schien nichts auf ein solches Szenario hinzuweisen. Wie überall in Europa, so löste der Beginn des Krieges auch in Russland Begeisterung aus. Als sich Zar Nikolaus II. am 2. August 1914, dem Tag der russischen Kriegserklärung, in der Öffentlichkeit zeigte, jubelten ihm die Menschen enthusiastisch zu. In den Zeitungen wurde der sichere Sieg beschworen, Intellektuelle glaubten, es beginne eine Zeit der nationalen Erneuerung und das russische Parlament, die Duma, erklärte seine Selbstauflösung, um der Regierung nicht „im Wege zu sein“.

Russland verfolgte zu Beginn des Krieges ambitionierte Ziele. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Eroberung Konstantinopels und der Meerengen. Darüber hinaus beanspruchte das Imperium Teile Ostpreußens, Galiziens sowie weitere Gebiete für sich. Und nicht zuletzt sollten die russischen Kriegsziele den Anspruch unterstreichen, Schutzmacht aller Slawen zu sein.  

Krieg führen

In den ersten Tagen und Wochen konnten russische Truppen eine Reihe von Erfolgen erzielen. Doch bereits Ende August 1914 gelang es den Deutschen bei der Schlacht von Tannenberg, die nach Ostpreußen eingedrungene russische Armee zu besiegen. Auch an den anderen Fronten in Galizien und den Karpaten kam es nach anfänglichen spektakulären Erfolgen zu Rückschlägen. Besser sah es indes an der dritten russischen Front im Mittleren Osten aus, wo das Imperium wichtige Siege über das Osmanische Reich errang.2

Der Bewegungskrieg der ersten Kriegsmonate machte bald etwas festeren Frontlinien Platz, ohne freilich in einen Stellungs- und Grabenkrieg wie im Westen Europas zu münden. Bis zum Ende des Krieges kam es immer wieder zu großen Offensiven.

Von Beginn an litt die Armee unter erheblichen Problemen, denn auf einen längeren Abnutzungskrieg war Russland nicht vorbereitet. Zu den verheerenden Verlusten an Menschen und Material kamen große Schwierigkeiten mit dem Nachschub. Die Verkehrsnetze waren nicht in der Lage, den immensen Bedarf der Truppen zu bewältigen. Immer wieder fehlte es an genügend Waffen, Munition und warmen Uniformen. Krankheiten breiteten sich in der Truppe aus. Gleichzeitig sank die Moral der Soldaten, unter denen die Überzeugung wuchs, sie würden sinnlos geopfert. Den überlegenen Ressourcen der Mittelmächte hatte die russische Armee in den kommenden Jahren trotz einer Reihe begrenzter Erfolge letztlich kaum noch etwas entgegenzusetzen. 

„Innere Feinde“ und Führungskrise

Im Krieg gerieten nationale Minderheiten unter Verdacht, mit den Feinden gemeinsame Sache zu machen. Als erstes traf es die in Russland lebenden Deutschen. In vielen Städten kam es zu antideutschen Ausschreitungen, die sowohl „deutsche“ Firmen trafen, aber auch vor der deutschen Botschaft nicht Halt machten. Die russische Hauptstadt Sankt Petersburg wurde in Petrograd umbenannt, und zahlreiche baltendeutsche Offiziere mussten ihren Abschied nehmen.

Vor allem deportierten die Behörden hunderttausende Deutsche aus den westlichen Reichsteilen nach Sibirien und Zentralasien. Dies war jedoch nicht nur Ausdruck einer weit verbreiteten „Germanophobie“, sondern Teil des Bemühens von Militär und Regierung, in frontnahen Regionen ethnisch homogene Gebiete zu schaffen. Neben den deutschen Kolonisten wurden daher auch Teile der jüdischen Bevölkerung ins Landesinnere umgesiedelt.3 Im Verlaufe des Krieges wurden mehrere Millionen Menschen entwurzelt und vertrieben. Ein ganzes Imperium befand sich auf der Flucht, wie der Historiker Peter Gatrell es einmal formuliert hat.4

Militärische Niederlagen und innere Krisen ließen das Vertrauen in die Führung zunehmend schwinden. Deshalb entschied sich Zar Nikolaus II. im August 1915, das Oberkommando über die Armee zu übernehmen. Doch dieser Schritt trug mehr als alles andere dazu bei, das Vertrauen in die Autokratie zu untergraben. Denn von nun an war der Herrscher, der von Militärangelegenheiten wenig verstand, persönlich verantwortlich für das Schicksal an den Fronten. 

Krieg und Revolution

Je länger der Krieg dauerte, desto deutlicher traten die strukturellen Schwierigkeiten zutage, die das Imperium schon seit langer Zeit plagten. Deshalb war der Krieg zwar nicht die einzige Ursache, wohl aber ein wesentlicher Auslöser für die Revolutionen des Jahres 1917. Der russische Staat zeigte sich den Belastungen eines modernen Krieges nicht gewachsen. Besonders betroffen war die Zivilbevölkerung. Ab 1915 nahmen Streiks, Demonstrationen und Hungerunruhen immer mehr zu. Im Winter 1916/17 erreichte die Krise ihren Höhepunkt, und es war schließlich eine Demonstration verzweifelter Frauen, die Brot für sich und ihre Familien forderten, aus der die Februarrevolution entstand.

Die neuen Machthaber in Provisorischer Regierung und Sowjet übernahmen von der zarischen Regierung die Verantwortung für den Krieg. Dem Petrograder Sowjet gelang es durch den berühmten Befehl Nr. 1, der unter anderem festlegte, dass in allen Einheiten Soldatenkomitees gegründet werden und Soldaten weitgehende Mitspracherechte erhalten sollten, die Loyalität der Soldaten zu sichern. Zugleich trug dieser Befehl entscheidend dazu bei, die Disziplin innerhalb der Armee zu untergraben. Vielerorts begehrten die Soldatenräte gegen ihre Offiziere auf, setzten sie ab und wählten neue. Vor allem aber hofften die Frontsoldaten darauf, dass die Revolution ein Ende des Krieges bringen würde.

Die Frage von Frieden und Krieg sollte in den kommenden Monaten zu einem Problem von entscheidender Bedeutung werden. Die Zusage der Provisorischen Regierung an die Alliierten, dass Russland seine Verpflichtungen erfüllt und nicht aus dem Krieg ausscheiden werde, löste nicht nur Demonstrationen und Streiks aus, sondern führte auch zu einer Regierungskrise.

Sommeroffensive 1917

Gleichzeitig gab es eine zweite Bewegung, die den Krieg als Ausdruck des „nationalen Geistes“ der Revolution begriff. Eine massive Offensive gegen die deutschen Stellungen, die am 1. Juli (18. Juni nach Julianischem Kalender) begann, sollte den Kampfgeist der Truppen heben und zugleich den Weg zum Frieden ebnen. Der russische Kriegsminister Alexander Kerenski erzeugte mit seinen flammenden Reden Begeisterungsstürme. Angesichts der scheinbaren Euphorie schlugen die Befürworter des Unternehmens alle Warnungen in den Wind: Zahlreiche Einheiten weigerten sich, zur Offensive anzutreten, und es häuften sich die Berichte über Meutereien und Desertationen. Als der Angriffsbefehl gegeben wurde, brach die Sommeroffensive schließlich rasch in sich zusammen.

Die Niederlage war nicht nur ein militärisches Desaster, sondern sie trug direkt zu weiteren Krisen bei, als die Bolschewiki einen halbherzigen Aufstandsversuch unternahmen und der General Lawr Kornilow einen (bis heute umstrittenen) Putschversuch wagte.

Es waren vor allem die Bolschewiki, die vom innenpolitischen Chaos profitierten, weil sie sich als einzige politische Kraft kompromisslos für ein sofortiges Ende des Krieges aussprachen. Unmittelbar nachdem sie im Oktober die Macht an sich gerissen hatten, forderten sie in ihrem ersten Dekret die sofortige Beendigung aller Kampfhandlungen und einen Frieden ohne jede Annexion. Die Mittelmächte ließen sich davon jedoch nicht beeindrucken und setzten ihren Vormarsch fort. Weil die Bauernsoldaten in Scharen die Armee verließen, sahen sich die neuen Machthaber gezwungen, in formale Friedensverhandlungen einzutreten. Nach langwierigen und komplizierten Gesprächen wurde im März 1918 der Vertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet. Die Hoffnung der Bevölkerung auf ein Ende der Gewalt sollte sich als trügerisch erweisen. Der Staatenkrieg ging nahtlos in den Bürgerkrieg über, der erst 1921/22 endete.

Vergessener Krieg

In der Sowjetunion und in Russland spielte der Erste Weltkrieg in Erinnerungskultur und Geschichtspolitik lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle. In der sowjetischen Geschichtsschreibung galt der „imperialistische Krieg“ als ebenso verhängnisvolle wie logische Konsequenz des Kapitalismus. Auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion gab es deshalb keine offiziellen Denkmäler, die an die Jahre 1914 bis 1917 erinnerten. Seine Relevanz bestand vor allem darin, zentral für die Vorgeschichte des Jahres 1917 zu sein. Hingegen bewahrte die Bevölkerung in vielen Regionen die Erinnerung an den „deutschen Krieg“.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion veränderte sich der Umgang mit dem Ersten Weltkrieg in Russland zunächst kaum. Eine eigenständige Erinnerung an die Jahre 1914 bis 1917/18 gab es praktisch nicht.5 Der Erste Weltkrieg war auch deshalb lange Zeit Russlands „vergessener“ Krieg, weil er mit dem „Makel“ des erfolglosen Krieges behaftet war.

Erst in den letzten Jahren veränderte sich die Position der staatlichen Geschichtspolitik. 2012 wurde ein Gedenktag für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs eingeführt. Zugleich argumentieren staatsnahe Historiker, die Geschichte dieses Krieges zeige, dass Uneinigkeit und Revolution zum Staatszerfall und in die Katastrophe führen würden.6 Mit dem 100. Jahrestag des Kriegsausbruchs 2014 gewann die Memorialisierung noch einmal an Dynamik: So wurden sowohl in Moskau als auch in anderen russischen Städten mehrere Denkmäler und Gedenkorte für die Helden und Gefallenen des Ersten Weltkriegs enthüllt.7


Zum Weiterlesen
Figes, Orlando (1998): Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der Russischen Revolution 1891–1924, Berlin
Gatrell, Peter (1999): A Whole Empire Walking: Refugees in Russia during World War I, Bloomington
Gatrell, Peter (2005): Russia’s Great War: A Social and Economic History, Harlow
Holquist, Peter (2002): Making War, Forging Revolution: Russia’s Continuum of Crisis, 1914–1921, Cambridge MA
Sanborn, Joshua (2014): Imperial Apocalypse: The Great War and the Destruction of the Russian Empire, Oxford
Sapper, Manfred/Weichsel, Volker (Hrsg.) (2014): Totentanz: Der Erste Weltkrieg im Osten Europas, in: Osteuropa 2-4, Berlin 

1.zit. nach: Figes, Orlando (1998): Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der Russischen Revolution, 1891–1924, Berlin, S. 272
2.Überblick bei: Sanborn, Joshua A. (2014): Russian Empire, in: Daniel, Ute/Gatrell, Peter/Janz, Oliver/Jones, Heather/Keene, Jennifer/Kramer, Alan/Nasson, Bill (Hrsg.): 1914–1918-online: International Encyclopedia of the First World War, Freie Universität Berlin
3.ausführlich: Gatrell, Peter (1999): A Whole Empire Walking: Refugees in Russia during World War I, Bloomington, S. 23-25
4.ebd.
5.Cohen, Aaron J. (2003): Oh, That: Myth, Memory, and World War I in the Russian Emigration and the Soviet Union, in: Slavic Review 62 1, S. 69-86
6.Deutschlandfunk: Russlands vergessener Krieg 
7.Eine Auflistung der Gedenkorte findet sich auf Wikipedia
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)