Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Brester Festung zu einem der wichtigsten Erinnerungsorte der Sowjetunion, seit den 1970er Jahren befindet sich am historischen Ort eine monumentale Gedenkstätte. Bis heute steht die Festung in Russland und Belarus für den heroischen Widerstand gegen die deutschen Angreifer in den ersten Tagen des „Großen Vaterländischen Krieges“, für Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft. Ein genauer Blick zeigt jedoch, dass die heutige Legende wenig mit den tatsächlichen Ereignissen gemein hat.
Am Zusammenfluss von Bug und Muchawez entstand im 11. Jahrhundert die Stadt Brest. Unter Zar Nikolaus I. wurde sie in den 1830er Jahren jedoch niedergerissen und etwas weiter östlich neu errichtet. Grund dafür war der Bau einer mächtigen Befestigungsanlage, welche die Grenze des Zarenreiches zu Kongresspolen sichern sollte. Umgeben von den beiden Flüssen sowie künstlich angelegten Gräben liegt die Festung auf vier Inseln mit einer Fläche von etwa vier Quadratkilometern. Die äußeren Inseln wurden mit Erdwällen gesichert, während die Kerninsel von einer zweistöckigen Ringkaserne mit mächtigem Mauerwerk umgeben war.
Grundriss der Brester Festung in den 1830er Jahren / © gemeinfrei1
Im August 1915 konnten deutsche und österreichische Truppen Stadt und Festung ohne Gegenwehr einnehmen, nachdem beide im Zuge des russischen Rückzuges verlassen und teilweise zerstört worden waren. Am 3. März 1918 wurde hier der Vertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet. Mit dem Frieden von Riga fielen Stadt und Festung 1921 an den neugegründeten polnischen Staat, bevor sie nach dem deutschen Überfall auf Polen und der sowjetischen Annexion Ostpolens im Herbst 1939 sowjetisch wurden. Die Stadt stellte einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt unmittelbar an der Grenze zum deutsch besetzten Polen dar, der militärisch von der Festung aus kontrolliert wurde.
Kampf um die Festung
In den Morgenstunden des 22. Juni begann auf einer Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer der Angriff auf die Sowjetunion. An diesem Tag übertrat auch die 45. Infanterie-Division der Wehrmacht als Teil der Heeresgruppe Mitte die Grenze. Sie hatte den Befehl, Stadt und Festung handstreichartig zu erobern, um die geplante „Panzerrollbahn 1“ zu sichern.
Doch während die Stadt schnell eingenommen war, stießen die Deutschen in der Festung auf Widerstand. Etwa 9000 sowjetische Soldaten und Kommandeure waren durch den Überfall in der Festung eingeschlossen und viele von ihnen nahmen den Kampf auf. Nach drei Tagen waren die schweren Kämpfe jedoch beendet, es hielten sich nur noch einzelne Widerstandsherde, um die weitere zwei Tage gekämpft wurde. Ab dem Abend des fünften Kriegstages, dem 26. Juni 1941, wurde nur noch ein Reduit auf der Nordinsel der Festung, das sogenannte Ostfort, verteidigt. Zwei Bombenangriffe der Luftwaffe zwangen dessen Verteidiger am Abend des 29. Juni zur Kapitulation.
Drei Tage nach dem Ende der Kämpfe verließ am 2. Juli 1941 die Masse der 45. Infanterie-Division Brest in Richtung Osten und ließ nur schwache Sicherungskräfte zurück. Für die Zeit danach sind keine zeitgenössischen Quellen bekannt, die Kämpfe belegen würden. Mit einer Ausnahme: Am 23. Juli 1941 wurden bei einem Feuerüberfall mehrere deutsche Soldaten verwundet und ein sowjetischer Kommandeur gefangengenommen.2
Insgesamt wurden bei den Kämpfen etwa 430 Angreifer getötet und rund 660 verwundet. Ihnen gegenüber standen etwa 2000 gefallene Verteidiger. Zudem gerieten rund 6800 Angehörige der Roten Armee in Gefangenschaft, was etwa 75 Prozent der Garnison entspricht.
Eine Legende wird geformt
Auch wenn diese Zahlen von einer schnellen und klaren Niederlage zeugen, entwickelten sowjetische Journalisten, Parteiideologen und Schriftsteller nach dem Krieg ein Heldennarrativ rund um die Festung Brest: Obwohl zahlenmäßig unterlegen und mangelhaft mit Wasser, Lebensmitteln und Munition versorgt, hätten die sowjetischen Soldaten Gegenangriffe unternommen, unzählige Wehrmachtssoldaten getötet und den Angreifern wochenlang standgehalten. Ihrem Eid treu ergeben, hätten sie zudem den Tod der „schändlichen“ Gefangenschaft vorgezogen. Diese Bereitschaft zur bedingungslosen Selbstaufopferung beweise ihre Überlegenheit und ihre grenzenlose Liebe zum sozialistischen Vaterland und zur Kommunistischen Partei. Eine ganze Division der Wehrmacht sei über einen Monat festgehalten worden, hier hätten die Deutschen einen Vorgeschmack dessen bekommen, was sie noch erwarten sollte, hier wurden angeblich die ersten Ziegel im Fundament des „Großen Sieges“ gelegt.
Paradebeispiel für diese Behauptungen war Major Pjotr Gawrilow, der noch am 23. Juli 1941, dem 32. Tag des Krieges, allein gegen die Invasoren gekämpft haben soll. Erschöpft und entkräftet sei er gefangengenommen worden, ohne sich jedoch ergeben zu haben.
Dadurch, dass der Kampf bis zum Tod und die vermeintlich lange Dauer des Widerstands die Hauptsäulen der Heldengeschichte bildeten, wurde das Thema der Kriegsgefangenschaft ausgespart. Obwohl sie drei Viertel der Verteidiger betraf, war sie nicht Teil des offiziellen sowjetischen Narrativs. Als ehemalige Gefangene fanden nur jene Erwähnung, die als Zeitzeugen gebraucht wurden.
Die Tücken der Quellen
Doch da die Zeitzeugen in der Regel in deutscher Gefangenschaft gewesen waren und „Gefangengabe“ in der Sowjetunion den Straftatbestand des Vaterlandsverrates erfüllte, hatten sie allen Grund, sich als besondere Patrioten darzustellen – von Kapitulation und weißen Fahnen sprachen sie also prinzipiell nicht. Im Gegenteil: Viele Erinnerungsberichte von in Brest stationierten Rotarmisten enthalten Unwahrheiten oder Übertreibungen. Denn so, wie sie von der sowjetischen Propagandamaschinerie instrumentalisiert wurden, instrumentalisierten sie diese auch selbst, um das Stigma des Kriegsgefangenen loszuwerden, das in vielen Fällen mit Benachteiligungen und Diskriminierungen einherging.
In den ersten Nachkriegsjahren wurden einige Zeitungsartikel und Gedichte veröffentlicht, die Brest als ein Ereignis von lokaler Bedeutung behandelten. 1948 und 1951 erschienen schließlich mehrere längere Texte in der sowjetischen Presse, die zum Teil in Armeemedien eine unionsweite Verbreitung fanden. Doch alle, die sich in den 1940er und bis zur Mitte der 1950er Jahre mit der Brester Festung beschäftigten, standen vor einem großen Problem: Es gab kaum Quellen.
Es kursierten lediglich Fragmente einer in Teilen mangelhaften Übersetzung des Gefechtsberichts des Kommandeurs der 45. Infanterie-Division.3 Eine Abschrift dieses Dokuments war im Winter 1941/42 in sowjetische Hände gefallen. Aber der Bericht war für eine Heroisierung in großen Teilen ungeeignet, unter anderem deshalb, weil in ihm von vielen Gefangenen die Rede war. Weitere Primärquellen waren nicht bekannt, was dazu führte, dass die Autoren ihrer Fantasie freien Lauf ließen. So etablierten sie eine Geschichte voller Heldentum und ohne Gefangene und weiteten schrittweise die Dauer der Kämpfe von acht auf 32 Tage aus. Das von ihnen geschaffene narrative Grundgerüst füllten sie mit erfundenen Ereignissen und Fantasiehelden.
Popularisierung der Brest-Legende
Die Brester Heldengeschichte war bereits in ihren Grundzügen geformt und durch Veröffentlichungen in der Sowjetunion bekannt gemacht worden, als der Schriftsteller und Journalist Sergej Smirnow 1954 begann, sich mit dem Thema zu befassen. Er machte erstmals systematisch Zeitzeugen ausfindig und hatte zudem mehrfach Gelegenheit, im Allunionsradio aufzutreten, woraufhin sich aus dem ganzen Land weitere Brest-Veteranen bei ihm meldeten. Diese interviewte er ausführlich, doch einige von ihnen kannten bereits frühere Veröffentlichungen und orientierten ihre Erzählungen an diesen.
Smirnow bezog sich auf ihre Berichte, aber auch auf die meisten Motive der patriotisch-fantasievollen Werke seiner Vorgänger, außerdem integrierte er sorgfältig ausgewählte Fragmente der einzigen bekannten Primärquelle. Aus all dem schuf er die „wahre Geschichte“ von „grenzenloser Kühnheit“ und wochenlangen Kämpfen – obwohl keine seiner Quellen mehr als acht Tage abdeckte.4 Das Buch wurde zu einem Publikumserfolg. Seine Beschäftigung mit der Festung brachte Smirnow den Leninpreis ein und trug maßgeblich zur Popularisierung der Brest-Legende bei.
Im gleichen Zeitraum wurde ein erstes kleines Museum in der Festung eröffnet und es kam der erste Film zum Thema in die Kinos. Ab 1957 explodierte die Zahl künstlerischer Auseinandersetzungen mit der Festung Brest förmlich; es wurde sehr viel geschrieben, gefilmt und gemalt. 1971 wurde schließlich eine große Gedenkstätte in Brest eröffnet. Allein die Wissenschaft hielt sich zurück: Sowjetische Historiker haben sich der „heldenhaften Verteidigung“ der Brester Festung nie angenommen, ihre Publikationen verwiesen nur auf Heldenbelletristik und redigierte Erinnerungsberichte.5 Die Legende durfte nicht hinterfragt werden.
Das offizielle Narrativ über die „heldenhafte Verteidigung der Brester Festung“ basierte auf Fantasien, Verzerrungen, Fälschungen, Übertreibungen und Verschweigen, einem mehr als problematischen Umgang mit Quellen – vor allem aber auf dem übergroßen Wunsch, der Kriegsverlauf möge wirklich so gewesen sein, wie man ihn sich gewünscht hätte. Wie sehr es den jeweiligen politischen Gegebenheiten diente und von ihnen abhing, wird deutlich, wenn man sich die Veränderungen in der Erinnerungskultur anschaut: Kämpften die Helden zunächst noch „mit Stalin im Herzen“, taten sie es nach dem XX. Parteitag ohne ihn. Kämpften sie zunächst für die Kommunistische Partei und das sozialistische Vaterland, taten sie es nach dem Ende der Sowjetunion nur noch für das – oder irgendein – Vaterland.
Das heutige Gedenken
Heute befindet sich auf dem Gelände der Brester Festung die monumentale Gedenkstätte „Brester Heldenfestung“. Sie umfasst eine Vielzahl von Denkmälern und Museen und ist Schauplatz vielfältiger Rituale, die das Erinnern lebendig halten. Von den einstigen Motiven des sowjetischen Narrativs sind vor allem Patriotismus und Militarismus übriggeblieben. So besuchte am 22. Juni 2021, dem 80. Jahrestag des deutschen Überfalls, Alexander Lukaschenko die Festung und schwor seine Landsleute darauf ein, „das Vaterland“ – und damit vor allem ihn selbst – so gegen Angriffe von außen zu verteidigen, wie es die Verteidiger der Festung im Sommer 1941 getan hätten. Er verglich damit den deutschen Angriff von 1941 mit den Aktivitäten der Protestbewegung 2020 und sprach in Anlehnung an die „Farbrevolutionen“ von einem gegen Belarus gerichteten „Farbenblitzkrieg“.
Bis heute sind in Belarus und Russland die von der sowjetischen Propaganda geprägten Bilder präsent und wirkmächtig. Obwohl die Heeresgruppe Nord vor der Heeresgruppe Mitte die Grenze zur Sowjetunion überschritt, gilt Brest weiterhin als Ort, an dem der Krieg begonnen haben soll. Und noch immer wird vermittelt, die Brester Helden hätten über einen Monat ausgehalten. 2020 wurden Teile der Gedenkstätte in Brest mit russischen und belarusischen Mitteln restauriert. Gleichzeitig hat das Gedenken an den Überfall auf Brest bis heute blinde Flecken: So wird kaum über die jüdischen Opfer Brests gesprochen, die unter deutscher Besatzung dem Holocaust zum Opfer fielen.
Und auch das Thema der Kriegsgefangenen wird bis heute weitgehend ignoriert, dabei betraf dieses Schicksal den größten Teil der Verteidiger der Festung. Nicht nur in Deutschland ist die Geschichte dieser nach den Juden zweitgrößten Opfergruppe des Nationalsozialismus weitestgehend unbekannt, auch in ihren Herkunftsländern haben sie noch keine wirkliche Lobby gefunden. Als Helden waren sie nützlich, wenn sie die heroische Perspektive auf den Krieg stützten, als Opfer passten diese Männer jedoch nicht ins Bild der patriotisch und patriarchal geprägten Kriegserzählung der Sowjetunion. Bis heute hat sich daran wenig geändert.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.