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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Das Revolutionsjahr an der Peripherie

Vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 war das Russische Imperium das größte Land der Welt. Es erstreckte sich vom Königreich Polen bis zur Pazifikküste: Ein Vielvölkerreich, in dem über einhundert unterschiedliche ethnische Gruppen lebten. Russen selbst stellten dabei nur knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung. In vielen Regionen des Imperiums waren seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Nationalbewegungen entstanden, die größere Autonomierechte einforderten und immer stärkeren Zulauf erhielten.

Als im Zuge der Februarrevolution 1917 die Monarchie in sich zusammenfiel, schienen die Türen des russischen „Völkergefängnisses“, von dem nicht nur Karl Marx und Wladimir Lenin gesprochen hatten, endlich offen zu stehen. Überall im multiethnischen russischen Imperium artikulierten jetzt nationale Unabhängigkeitsbewegungen ihre Forderungen. Die Entwicklungen in den einzelnen Regionen verliefen dabei höchst uneinheitlich und waren abhängig von den Bedingungen vor Ort. Deshalb war das Jahr 1917 nicht nur das Jahr der Revolutionen in den Zentren des russischen Staates, sondern es war auch das Jahr, in dem etablierte Ordnungen an den Peripherien des Imperiums ihre Funktion verloren.

Nach der Abdankung des Zaren Nikolaus II. im März 1917 hatten die Vertreter der Provisorischen Regierung und des Sowjets die Macht in der russischen Hauptstadt Petrograd übernommen. Doch auch sie waren nicht im Stande, die nationalen Revolutionen an den Rändern des Reiches zu kontrollieren, geschweige denn sie zu steuern. Immer neue politische Krisen, die Belastungen des fortdauernden Krieges und des Niedergangs der Wirtschaft nahmen die Protagonisten der „Doppelherrschaft“ derart in Beschlag, dass sie der Erosion des Imperiums vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit schenkten.

Ohnehin verfügten sie nicht über die Machtmittel, um die Unabhängigkeitsbewegungen wirkungsvoll einzuhegen und lokale Konflikte zu befrieden. Sie konnten nur noch versuchen, das vollständige Auseinanderbrechen des Staates zu verhindern. Die Ereignisse in der Ukraine und in Zentralasien stehen beispielhaft für die komplizierten Dynamiken  des Jahres 1917 an der Peripherie.

Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine

Besonders einflussreich war die Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine. Als in Kiew Anfang März 1917 das Ende der Monarchie bekannt geworden war, formierte sich binnen weniger Tage die Zentralrada (dt. Rat) als Vertretung nationaler ukrainischer Interessen. Worin diese genau bestehen sollten, war dabei zunächst keineswegs ausgemacht. Denn obgleich es bereits seit dem 19. Jahrhundert eine starke ukrainische Nationalbewegung gegeben hatte, gelang es ihren Vertretern kaum, die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit für ihre Ideen zu begeistern.

1917 änderte sich dies. Die „nationale Frage“ rückte von nun an immer stärker in den Vordergrund ukrainischer Politik. Die lauter werdenden Autonomieforderungen hatten eine mobilisierende Wirkung und waren geeignet, die Rada als politische Institution zu legitimieren. Zugleich führte dies zu einer Radikalisierung politischer Unabhängigkeitsdiskurse.

In der Ukraine rückte die „nationale Frage“ immer mehr in den Vordergrund. 1917 demontieren Arbeiter in Kiew ein Denkmal Stolypins, der als russischer Reformer bekannt war / Foto © unbekannt/The Historical Encyclopedia of Kyiv, Wikimedia

In Petrograd stießen die ukrainischen Autonomieforderungen parteiübergreifend auf Unverständnis und Ablehnung. Als die Zentralrada im Juni die Selbstbestimmung der Ukraine innerhalb einer Föderation zur zentralen Forderung erhob, erklärte die Provisorische Regierung, es handele sich dabei um „einen Akt der offenen Revolte“, und die Presse sah darin einen „Dolchstoß in den Rücken der Revolution.“1 Ein eilig ausgehandelter Kompromiss führte zwar zu einer Regierungskrise in Petrograd, vermochte aber den weiteren Staatszerfall zunächst abzuwenden.

Revolution in Zentralasien

Eine gänzlich andere Dynamik entwickelte sich in Zentralasien. Zunächst schien der Übergang in die neue Zeit hier weitgehend reibungslos zu funktionieren. Nach dem Vorbild der Hauptstadt entstanden in Taschkent und anderen Städten Doppelstrukturen aus lokalen Eliten, die sich der Provisorischen Regierung unterordneten, und Sowjets.

Obgleich sich beide Seiten in vielfältigen Konflikten miteinander befanden, waren sie sich in einem Punkt stets einig: Die Revolution war eine Angelegenheit der Europäer, in der es für die indigene Bevölkerung keinen Platz geben sollte.

Auch nach dem Ende des Zarenreiches sollte die etablierte Ordnung der Kolonialgesellschaft erhalten bleiben. Doch die revolutionären Ereignisse in den Städten vollzogen sich vor dem Hintergrund einer akuten Versorgungskrise, die schließlich in eine Hungersnot mündete und weite Teile der Region erfasste. Zugleich verschärften sich auf dem Land die Auseinandersetzungen zwischen europäischen Bauernsiedlern und der indigenen Bevölkerung. Diese Gewaltausbrüche waren zumindest teilweise eine direkte Folge des Aufstands von 1916 gegen die russische Kolonialmacht.

Den Programmen und Absichten der unterschiedlichen Parteien kam in dieser akuten Krisensituation kaum Bedeutung zu. Wichtiger war es, dass die europäischen Bauernsiedler in den Vertretern des Sowjets ihre Repräsentanten sahen, wenn sie gegen Muslime vorgingen, die den weitaus größten Teil der Bevölkerung stellten. Damit wurde der Gegensatz zwischen Kolonisierern und Kolonisierten zum zentralen Konfliktfeld in Zentralasien.

„Rechte der Völker Russlands“

Nachdem die Bolschewiki um Lenin im Oktober 1917 die Macht übernommen hatten, widmeten sie eine ihrer ersten öffentlichen Deklarationen den „Rechten der Völker Russlands“. Darin hieß es unter anderem, dass alle Nationalitäten, das Recht auf „freie Selbstbestimmung, bis hin zur Loslösung und Bildung eines selbstständigen Staates“2 erhalten sollen.

Diese Deklaration war einerseits konsistent mit den Grundzügen der bolschewistischen Nationalitätenpolitik wie sie maßgeblich von Joseph Stalin ausgearbeitet worden war.3 Andererseits diente sie vor allem taktischen politischen Zielen. Denn so sollten nicht nur Teile der Unabhängigkeitsbewegungen dazu bewogen werden, die Revolution der Bolschewiki zu unterstützen, sondern auch Konflikte innerhalb der heterogenen Nationalbewegungen geschürt werden.

Das ukrainische Beispiel zeigt, dass die neue Regierung um Lenin gar nicht daran dachte, ihre Ankündigung in die Tat umzusetzen und die Ukraine in die Unabhängigkeit zu entlassen. Vielmehr ging es ihr darum, sie als Sowjetrepublik an sich zu binden. Demgegenüber erklärte die Zentralrada Anfang 1918 die Unabhängigkeit. Doch diese Episode endete bereits nach wenigen Tagen; Ende Januar besetzten rote Einheiten Kiew. Es bedurfte des Friedensvertrags von Brest-Litowsk und der Bedrohung durch die deutsche Armee, damit die sowjetische Regierung die Unabhängigkeit der Ukraine im März 1918 widerwillig anerkannte. Gestützt auf deutsche Waffen endete dieses Experiment nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches.

Gewalteskalationen des Bürgerkriegs

Wie überall auf dem Territorium des ehemaligen Imperiums schufen die Ereignisse des Jahres 1917 auch in der Ukraine und in Zentralasien die Voraussetzungen für die Gewalteskalationen des Bürgerkriegs. In beiden Regionen entwickelte sich dieser Konflikt auf unterschiedliche Art und Weise, führte aber zu ähnlichen Ergebnissen.

In der Ukraine spielten zunächst die Armeen der Mittelmächte eine erhebliche Rolle. Dennoch reichte die Macht der Kiewer Machthaber kaum über die Stadtgrenzen hinaus. Auf dem Lande agierten ganz unterschiedliche Gewaltakteure, die sich vielfach nicht in die Dichotomie von Weißen und Roten einordnen ließen.

Nach Jahren des Kampfes trugen die Bolschewiki in der Ukraine und in Zentralasien schließlich den Sieg davon. Sie profitierten dabei von der Zerrissenheit ihrer Gegner, von ihrem kompromisslosen Gewalteinsatz und von der Bereitschaft größerer Bevölkerungsschichten, sich den Vertretern der Sowjetmacht als dem vermeintlich geringeren Übel anzuschließen. Doch die Bolschewiki konnten sich nicht in allen Teilen des ehemaligen Imperiums durchsetzen. Finnland, Polen und die baltischen Staaten wurden in Folge des Ersten Weltkriegs und der Revolution zu unabhängigen Staaten.

Der Sieg der Roten Armee im Bürgerkrieg konnte die  Konflikte an den Peripherien des Sowjetstaates zunächst nicht dauerhaft einhegen. Daran änderte auch die Gründung nationaler Republiken ab Mitte der 1920er Jahre nichts.4 Während der Kampagnen zur Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ab 1928 brachen sie mit größter Vehemenz erneut auf.5

Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, wurden die Protagonisten der Unabhängigkeitsbewegungen in vielen der nun souveränen Staaten zu Nationalhelden stilisiert. Auch heute gilt die oft nur einige Monate dauernde Phase staatlicher Eigenständigkeit nach 1917 – etwa im Falle der Ukraine – als wichtiger Bezugspunkt in der Nationalgeschichte.  


Zum Weiterlesen
Happel, Jörn (2016): Die Revolution an der Peripherie, in: Heiko Haumann (Hg.): Die Russische Revolution 1917, Wien, S. 91-104
Zentralasien
Khalid, Adeeb  (2015): Making Uzbekistan: Nation, Empire, and Revolution in the Early USSR, Ithaca
Teichmann, Christian (2016): Macht ohne Grenzen: Stalins Herrschaft in Zentralasien: 1920-1950, Hamburg
Ukraine
Kappeler, Andreas (2014): Kleine Geschichte der Ukraine, München
Schnell, Felix (2012): Räume des Schreckens: Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933, Hamburg

1.Zitate bei Penter, Tanja (2017): Die Oktoberrevolution in der Peripherie: Das Beispiel Ukraine, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2017, Berlin, S. 87-103, hier: S. 95
2.Deklaration der Rechte der Völker Rußlands, 2. (15.) November 1917
3.Stalin, J. W. (1945/1913): Marxismus und nationale Frage, Moskau
4.zur sowjetischen Nationalitätenpolitik: Martin, Terry (2001): The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca
5.dazu: Schnell, Felix (2012): Räume des Schreckens: Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933, Hamburg, S. 411–430; Edgar, Adrienne (2004): Tribal Nation: The Making of Soviet Turkmenistan, Princeton, S. 167–196
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