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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Protestantismus in Russland

Auf einer Postkarte von 1910 ist eine Kirche zu sehen. Sie ist, im Stil der Zeit, in warmen, erdfarbenen Tönen koloriert. Ein Hauch Monumentalität umweht das Gotteshaus; erhaben steht es, ganz ohne Menschen und anderes Beiwerk, im Mittelpunkt der Karte. Eine feste Burg, wie es das in dieser Zeit besonders beliebte Lutherlied ausdrückt. Lutherische Kirche, Barnaul heißt es knapp in der Beschreibung.
Doch der Reformator Martin Luther war nie in Barnaul, nie in Sibirien, nie in Russland. Er reiste sowieso nicht gerne. Schon die Fahrt von Wittenberg nach Worms zum Reichstag 1521 war ihm ein Gräuel: 500 Kilometer. Die Fahrt von Wittenberg nach Barnaul wäre fast zehnmal so lang gewesen. Trotz dieses weiten Weges gelangten die Ideen der Wittenberger Reformation, mit ihrer Lehre von der Autorität der Bibel (sola scriptura) und Luthers Entdeckung eines gerechten Gottes bis hierhin. Nach Westsibirien, fast bis an die Grenze Kasachstans.

Postkarte © privatBis das Luthertum nach Russland kam, dauerte es allerdings eine Weile. Doch schon in den 1520er Jahren zogen deutsche Kaufleute, Handwerker, Soldaten und Techniker an verschiedene Orte des Russischen Reiches. Dort bekräftigten sie ihr neues lutherisches Bekenntnis zunächst in Hausgottesdiensten, die sie gemeinsam feierten. 1567 wurde schließlich die erste lutherische Kirche in Russland errichtet. 

Lutheraner als Arbeitskräfte

Das handwerklich-technische Know How der deutschen Lutheraner war gefragt. Deshalb deportierte beispielsweise Zar Iwan der Schreckliche (1530-1584) 1565 die deutschen Lutheraner aus Tartu im heutigen Estland und siedelte sie im Umland Moskaus an. Auch Zar Peter der Große (1672-1725) war interessiert an gut qualifizierten Deutschen (neben Holländern und Engländern). Um sie als Arbeitskräfte anzuwerben, erließ er ein Toleranzedikt, das den deutschen Einwanderern die Ausübung ihrer Religion gestattete. Und weil er im Luthertum dynamische Modernisierungskräfte vermutete, reiste er sogar selbst 1712 nach Wittenberg. Dort wollte er mehr über Luther, seine Lehre und sein politisch-kulturelles Wirken erfahren. Er übernachtete in der Alten Canzley, heute ein Hotel direkt gegenüber der Schlosskirche (es gibt dort auch ein Zimmer namens Peter der Große), ließ sich durch Wittenberg führen und besuchte das Lutherhaus. 

Der damals bereits legendenhafte Tintenkleks, mit dem Luther angeblich den Teufel bekämpft hatte, konnte ihn allerdings nicht überzeugen: „Die Tinte ist aber noch neu“, bemerkte er nüchtern. Doch nahm er andere protestantische Ideen mit. Nach dem Vorbild der evangelischen Synoden ordnete er beispielsweise 1721 die Spitze der russisch-orthodoxen Kirche neu und setzte den sogenannten Heiligen Synod als gemeinsames kirchliches Führungsgremiun ein. Das hatte selbstverständlich auch eine machtpolitische Dimension, da er so den Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche zurückdrängen konnte. 

Nach Peter dem Großen war es schließlich Zarin Katharina II. (1729-1796), auch die Große genannt, die dem Protestantismus in Russland weitere Türen öffnete. Als Prinzessin von Anhalt-Zerbst war sie selber lutherisch erzogen worden und warb nun, unter anderem mit der Gewährung der Religionsfreiheit, ebenfalls um deutsche Siedler. Jetzt kamen nicht mehr nur Lutheraner, sondern auch Mennoniten, Täufer und andere Protestanten, die sich dem freikirchlichen Spektrum zuordnen ließen. Auch Reformierte, also Anhänger der Lehre Calvins, ließen sich in Russland nieder.

Institutionalisierung des Protestantismus

Im 18. Jahrhundert gab es also bereits einen sehr pluralen Protestantismus in Russland. Längst war das Luthertum nicht mehr nur eine Sache der deutschen Siedler – neben ihnen gab es zahlreiche estnische, lettische, finnische oder auch schwedische Lutheraner. Und auch sie erreichten nun Sibirien. Vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts zog der Bergbau große Zahlen lutherischer Siedler an. Tomsk, Barnaul, Irkutsk und Wladiwostok wurden so zu großen lutherische Gemeinden. Mit 3,6 Millionen Mitgliedern, darunter knapp 1,1 Millionen Deutsche, knapp 1,3 Millionen Letten und 1,1 Millionen Esten, bildete das Luthertum vor dem Ersten Weltkrieg die drittgrößte Konfession im Reich. 1897 gehörten 76 Prozent der in Russland lebenden Deutschen dem lutherischen und 3,6 Prozent dem reformierten Glauben an.1 Die lutherischen und reformierten Gemeinden fanden schließlich 1832 in der durch Zar Nikolaus I. (1796-1855) begründeten evangelisch-lutherischen Kirche in Russland ihre traditionelle, institutionelle Ordnung. Als eine Staatskirche mit deutscher Amtssprache war sie dem evangelischen Ordnungsprinzip des Landeskirchenregiments verpflichtet. Das bedeutete, dass der Zar zugleich zum höchsten Oberhaupt der lutherischen und reformierten Kirchen in Russland wurde (summus episcopus). 

Das Luthertum war sichtbar in Russland und gehörte zum religiösen Leben dazu. Wo immer Lutheraner waren, hatten sie meist eine eigene lutherische Kirche und eine lutherische Schule. In St. Petersburg, der damaligen Hauptstadt des russischen Reiches, wurde die lutherische Kirche 1730 mitten auf der Hauptstraße, auf dem Newski Prospekt eingeweiht. Einhundert Jahre später entstand auf deren Platz ein monumentales Gebäude, die noch heute zu sehende St. Petri-Kirche, erbaut im Stil einer klassischen Basilika. In anderen Städten, etwa im westsibirischen Barnaul, waren die Kirchen weit weniger prachtvoll. Ein wohlhabendes, den russischen Klimabedingungen geschuldetes, jedoch nicht minder hartes Gemeindeleben mit Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen fand in den lutherischen Kirchen statt. Es wurden Lutherlieder gesungen und die klassischen lutherischen Bekenntnisse gebetet. Wahrscheinlich wurde 1883 auch Luthers 400. Geburtstag gefeiert - eine Erneuerung der Verbindung zum Deutschen Reich und zum deutschen Luthertum.

Kein Anlass zum Feiern

Zum 400jährigen Reformationsjubiläum 1917 gab es in Russland – anders als im damaligen Deutschen Reich – schon längst keinen Anlass mehr zum Feiern. Im März hatte Nikolaus II. abgedankt und die evangelisch-lutherische Kirche dadurch ihr Kirchenoberhaupt verloren. Die Machtübernahme der Bolschewiki und schließlich die brutale Religionsverfolgung Stalins bedeutete das Ende der lutherischen Kirchen. 1938 wurde die letzte lutherische Kirche in Moskau, die St. Peter und Pauls-Kathedrale, geschlossen. Der Pastor wurde erschossen und im Kirchengebäude wurde erst ein Kino, später ein Filmstudio eingerichtet. Russlandweit wurden Kirchen umfunktioniert: In der St. Petri-Kirche in St. Petersburg wurde 1962 ein Schwimmbad eröffnet. Viele Kirchen wurden zudem stark umgebaut: Im Gebäude des Kulturpalastes der Fernmeldemitarbeiter an der Moika in St. Petersburg ist die ehemalige reformatorische Kirche heute kaum mehr zu erkennen. Nicht wenige Lutheraner gingen in den religiösen Untergrund und schlossen sich den Evangeliumschristen an; einem Sammelbecken für verschiedene evangelisch freikirchliche Gemeinschaften und Gemeinden.

Die ehemalige reformierte Kirche (rechts) ist heute kaum wiederzuerkennen / Foto © CC BY-SA 3.0

Erst in den 1970er Jahren änderte sich das Klima für die Lutheraner in Russland. Als eine konkrete Auswirkung der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 durften erstmals Vertreter des Lutherischen Weltbundes in Sibirien verstreute lutherische Gemeinschaften besuchen. Heute gibt es längst wieder eine Vielzahl verschiedener lutherischer Kirchen und evangelischer Kirchenzusammenschlüsse. 

Fast 80 Jahre nach der Enteignung durch Stalin, wurde die St. Peter und Paul Kathedrale in Moskau an die lutherische Kirche zurückgegeben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wohnte dem feierlichen Akt in Moskau bei und dankte Putin ausdrücklich für die „schöne Geste im Jahr des Reformationsjubiläums“.2

Derzeit gibt es noch rund 3 Millionen evangelische Christen in Russland.3 Engagierte Pfarrer kämpfen gegen die Massenauswanderung ihrer Gemeindemitglieder und setzen sich für die Öffnung ihrer Kirchen, auch für Russen, ein. Der heutige Pfarrer von Barnaul bittet um Spenden zur Wiederherstellung der lutherischen Kirche. Jedoch nicht mehr der St. Paulskirche, da diese in den 1970er Jahren abgerissen wurde.4 So bleibt die Ansichtskarte das letzte Bild, mit dem die lutherische Kirche von Sibirien aus in das Jahr 2017 grüßt.  


Literaturhinweise:

Wilhelm Kahle, Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Sowjetunion 1917-1938, Leiden 1974

Lothar Weiß (Hg.), Russlanddeutsche Migration und evangelische Kirchen, Göttingen 2013

Gerd Stricker, Russland. Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin 1997


1.vgl. Weiß, Lothar (2013, Hg.): Russlanddeutsche Migration und evangelische Kirchen, Göttingen, S. 74 
2.bundespraesident.de: Rückgabe der Kathedrale St. Peter und Paul in Moskau 
3.vgl. Lukin, Roman (2014): Rossijskij protestantism: Evangel´skije christiane kak novyj sozialnyj fenomen, in: Sovremennaja Evropa, Nr. 3, S. 139  
4. Emporis.de: St. Paul Lutheran Church 
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