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Wo die Pappeln wachsen

Irina Unruh kombiniert in ihrem Bildband Where The Poplars Grow Fotos aus dem Familienarchiv mit aktuellen Aufnahmen. Aus ihrem Plan, ein Buch über Kirgistan zu machen, wurde eine Reise in die eigene Familiengeschichte. Sie handelt von Flucht, Revolution und Repression – und von menschlicher Solidarität unter Fremden. Wir haben mit ihr über die Geschichte ihrer Familie und über ihr Fotoprojekt gesprochen. 

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Auf diesem Passbild bin ich acht oder neun Jahren alt. Mama hat mir Schleifen ins Haar geflochten. Viele Kinder in der Sowjetunion trugen damals diese „Bantiki“ / Foto © Irina Unruh

 

dekoder: In einem Fotobuch erzählen Sie von Kirgistan, der Heimat Ihrer Kindheit. Es heißt „Where The Poplars Grow“. Was bedeuten Ihnen die Pappeln? 

Irina Unruh: In den 20 Jahren, in denen ich nach unserer Migration in Deutschland lebte, hatte ich die Pappeln fast vergessen. Aber als ich 2008 zum ersten Mal wieder nach Kirgistan kam, fiel mir wieder ein, dass ich umgeben von Pappeln aufgewachsen bin. Selbst auf einem der ältesten Familienporträts meiner Mutter sind Pappeln im Hintergrund: auf der Tapete des Fotografen, der das Bild in seinem Studio aufgenommen hat. Viele dieser Bäume wurden von den Deutschen in unserem Dorf gepflanzt – auf Anordnung der Kolchose beim Subbotnik.  

Wozu? 

Pappeln wachsen schnell. Sie sollten entlang der Hauptstraße Schatten spenden. Entlang einer anderen Straße wurden Obstbäume gepflanzt. Sie verbindet die beiden deutschen Dörfer Bergtal und Grünfeld. Da kann man heute im Schatten gehen und Äpfel und Mirabellen pflücken.  

Wie alt waren Sie, als Sie aus Kirgistan nach Deutschland kamen? 

Ich war neun. 

Kirgistan ist ein Thema Ihrer Arbeit, seit Sie fotografieren. Aber dieses Projekt ist das Persönlichste, es handelt von Ihrer Kindheit und Ihrer Familie. Wie kam es dazu? 

Ursprünglich wollte ich gar kein persönliches Buch machen und auch nicht meine eigene Geschichte erzählen. Ich wollte ein Buch über Kirgistan machen und dabei erwähnen, dass dort auch Deutsche leben. Aber irgendwann fand ich es nicht mehr passend, das Land wie von außen zu beschreiben. 

Wie ist Ihre Familie nach Kirgistan gekommen? Und wie ist sie von dort wieder zurück nach Deutschland gekommen? 

Häufig stellen mir Leute in Deutschland die Frage: Warum seid ihr nach Deutschland gekommen? Meine Kinder wiederum fragen: Wie seid ihr nach Kirgistan gekommen? Um diese Frage zu beantworten, musste ich tatsächlich erst einmal selbst recherchieren und viele Bücher lesen. Meine Vorfahren waren Mennoniten. Fast jede Generation wurde in einem anderen Land geboren. Die Familie meines Großvaters mütterlicherseits lebte beispielsweise nach einem langen Weg der Migration im Gebiet Orenburg. Nach der Revolution versuchten meine Urgroßeltern, die Sowjetunion zu verlassen. Sie kamen mit ihrer großen Familie 1925 nach Moskau, um eine Ausreiseerlaubnis zu erlangen. Aber dann gab es von heute auf morgen einen Ausreisestopp. Ältere Geschwister meines Urgroßvaters haben es noch geschafft, aber er blieb mit seinen Kindern zurück. Wo sollten sie hin? In Moskau konnten sie nicht bleiben, zurück ins Gebiet Orenburg konnten sie auch nicht; sie fürchteten Repressionen, weil sie ihr Dorf verlassen hatten. Also sind sie nach Kirgistan geflohen, an einen Ort, wo sie keiner kannte. Dort wurde mein Großvater 1927 als jüngstes von 8 Kindern geboren. Die Familie zog aber bereits 1933 weiter in die Region Altai und 1940 erneut zurück ins heutige Kirgistan. So ähnlich war das bei allen meinen vier Großeltern: Sie waren immer auf der Suche nach einem Ort, wo sie unbehelligt leben konnten. Als Mennoniten war ihnen die Religionsfreiheit wichtig und die Befreiung vom Wehrdienst. Und immer, wenn sich die politische Situation änderte, zogen sie weiter. Insbesondere seit den 1920er Jahren sind die Familien meiner Großeltern alle paar Jahre migriert oder geflohen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ihnen nicht mehr möglich, da sie als Deutsche bis 1956 in Sondersiedlungen leben mussten. Im Grunde suchten sie seit der Gründung der Sowjetunion und damit einhergehend des Verbotes der Religionsausübung immer wieder nach Wegen, diese zu verlassen. Nach mehreren Generationen war es 1988 dann erstmals möglich.  

Ursprünglich waren ihre Vorfahren wahrscheinlich der Einladung Katharinas II. nach Russland gefolgt? 

Teilweise vermutlich ja, doch die meisten sind etwas später ausgewandert. Es gab mehrere Auswanderungswellen. Meine Vorfahren kommen aus Westpreußen. Sie gehörten zu den Siedlern unter Zar Alexander I. Sie haben zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst auf dem Gebiet der heutigen Ukraine gesiedelt. Von dort sind sie dann vor den Kämpfen zwischen der Roten Armee und den Truppen des ukrainischen Revolutionärs Nestor Machno geflohen, nachdem ihre Dörfer immer wieder geplündert wurden. Das war kurz vor dem Holodomor. Ich musste mich erst durch die russische Geschichte lesen, um die Geschichte meiner eigenen Familie zu verstehen. Es gab Sätze, die in meiner Kindheit immer wieder gefallen sind, und die ich nie hinterfragt habe. Zum Beispiel der Satz: „Als Oma bei den Kirgisen lebte.“ 

Warum lebte Ihre Oma bei den Kirgisen? 

Meine Oma mütterlicherseits war 14, als ihre Mutter 1941 starb. Der Vater zog mit ihr und den jüngeren Geschwistern im Sommer 1941 ebenfalls aus der Region Altai nach Kirgistan. In beiden Regionen gab es zu dieser Zeit mehrere mennonitische Siedlungen. Kurz darauf wurde ihr Vater verhaftet und kam in den Gulag. Meine Oma stand mit 14 Jahren ohne Eltern da. Eine kirgisische Familie hat sie aufgenommen. Das war übrigens keine Seltenheit: Viele deutsche Kinder, deren Eltern verhaftet wurden, haben nur dank der Unterstützung kirgisischer Familien überlebt. Es gab aber auch Fälle, wo Kinder ganz ohne Eltern aufwuchsen. Oft haben sich dann die Dorfgemeinschaften um diese Kinder gekümmert. Und die Kinder wussten die ganze Zeit über nicht, ob ihre Eltern noch am Leben sind. Manchmal kamen sie zehn Jahre später aus dem Gulag zurück. 

Man kann sich kaum unterschiedlichere Gruppen vorstellen als deutsche Mennoniten und kirgisische Muslime. Woher kam diese Solidarität? 

Es gab gegenseitiges Verständnis: Beide Gruppen gehörten zu einer unterdrückten Minderheit. Die Kirgisen wurden von der Sowjetmacht zur Sesshaftigkeit gezwungen. Außerdem gab es Vorbilder in der Vergangenheit: Als die ersten deutschen Siedler mit Erlaubnis des Khan ins heutige Kirgistan kamen, da war es schon Herbst und der Winter stand bevor. Sie haben es nicht mehr geschafft, ihre eigenen Häuser zu bauen. Damals haben kirgisische Nomaden sie in ihren Jurten aufgenommen. Es gibt also nicht immer Angst vor Fremden, sondern auch Offenheit. 

Sie verbinden in Ihrem Buch Bilder aus dem Familienarchiv mit aktuellen Aufnahmen. Was war die Idee dahinter? 

Ich will zeigen, dass die Vergangenheit ein Teil von uns ist. Wir alle haben ja einen Lebensweg. Die Person, die ich heute bin, bin ich nur, weil ich gewisse Dinge erlebt habe und bestimmte Erfahrung auf meinem Lebensweg gesammelt habe. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich gemerkt, dass in mir auch die Geschichte meiner Vorfahren weiterlebt. Dass meine Kinder heute in einem demokratischen, freien Land aufwachsen, ist nur möglich, weil meine Vorfahren Dinge durchlebt und sie auch überlebt haben. Hätten sie nicht überlebt, gäbe es uns alle nicht.  

Hätte die kirgisische Familie nicht Ihre Großmutter aufgenommen, gäbe es heute die Familie Unruh in Deutschland nicht… 

…zum Beispiel. Und wenn mein Großvater den Gulag nicht überlebt hätte, auch nicht. Er war nach sieben Jahren Gefangenschaft kurz vor dem Hungertod, als sie ihn eigentlich zum Sterben freigelassen haben. Mit letzter Kraft hat er es geschafft, nach Kirgistan zu kommen. Da hat meine Oma ihn dann gesundgepflegt. Mein Vater kam erst danach zur Welt. 

Wurde in Ihrer Familie über solche Erfahrungen gesprochen? 

Mein Vater hat immer wieder etwas erzählt. Irgendwann habe ich eine WhatsApp-Gruppe gegründet mit meinen Tanten, die haben auch viel erzählt. Es waren überhaupt eher die Frauen, die erzählt haben. Meine Tanten sagten manchmal: „Ui, Irina, du stellst Fragen! Die haben wir leider unseren Eltern selbst nie gestellt“. Vielleicht braucht es manchmal eine Generation Abstand – auch emotionalen Abstand – um solche Fragen stellen zu können. Es war eine traumatisierte Generation und manche Verhaltensweisen sind nur erklärbar, wenn man diese Geschichten kennt. Hunger war zum Beispiel bei uns am Tisch immer wieder Thema. 

Das wirkt fast so, als wäre aus einem Fotoprojekt über Kirgistan am Ende eine Art Familien-Vermächtnis geworden? 

Ja, und nein. Zum einen empfinde ich eine gewisse Demut und tiefe Dankbarkeit meinen Vorfahren gegenüber. Meine Familiengeschichte soll zugleich beispielhaft für viele sehr ähnliche Familiengeschichten stehen. Es war mein Wunsch, aus meiner persönlichen Perspektive zu zeigen, wie politische Entscheidungen und geopolitische Entwicklungen weitreichende Folgen und Auswirkungen auf einfache Familien und auch auf Kinder haben. Und dass es manchmal Generationen braucht, um diese Auswirkungen zu verstehen und zu verarbeiten. Neben all der Tragik war es mir auch wichtig, die hoffnungsvollen Momente von Begegnungen, Freundschaften und gegenseitiger Unterstützung zu erzählen; wie die Geschichte, dass eine kirgisische Familie meine Oma bei sich aufnahm. Meine Oma sprach nach diesen zwei Jahren fließend Kirgisisch, und im Dorf gab es auch Kirgisen, die fließend Plautdietsch sprachen. Ich sehe mein Buch auch als eine hoffnungsvolle Geschichte der menschlichen Begegnung.  

 

Auf der Fensterbank stehen große Gläser mit eingelegten Pflaumen. In diesem Haus im Heimatdorf meiner Kindheit lebten früher Verwandte von mir. Kompott aus unserem Garten half uns über die langen kirgisischen Winter, in denen es selten frisches Obst zu kaufen gab / Foto © Irina Unruh

Meine Tante geht mit ihren Freundinnen nach einer Hochzeit über die Hauptstraße in Telmann nach Hause in das drei Kilometer entfernt Dorf Rotfront. Die beiden Dörfer waren eng miteinander verbunden und es gehörte zum Alltag, zu Fuß in das jeweils andere Dorf zu gehen / Foto © Irina UnruhAuf einem ihrer Migrationswege könnte die Familie meiner Oma auch durch diese Steppe im Süden Kirgistans gekommen sein. Oma sprach wenig über ihre kindlichen Fluchterfahrungen. Sie erinnerte sich aber, dass sie über die spätsommerliche Trockenheit in Kirgistan erschrak, als sie mit ihrer Familie aus Südsibirien wegzog. Dort war alles noch grün gewesen / Foto © Irina UnruhEines der letzten typischen Holztore im Dorf meiner Kindheit. In dem Haus lebte einmal eine deutsche Familie. Das Dorf wurde 1925 von deutschen Mennoniten gegründet und „Grünfeld“ genannt. Wenige Jahre später nannten die Sowjets es um in „Telman“ – nach dem deutschen Kommunisten Ernst Thälmann. Während es in Telman heute nur noch wenige Spuren von deutschen Mennoniten gibt, lebt im Nachbardorf Rotfront noch eine kleine deutsch-mennonitische Minderheit. Auch dieses Dorf wurde 1931 umbenannt - von „Bergtal“ in „Rotfront“. Offiziell heißen die beiden Orte heute noch so. Aber viele Nachfahren sprechen weiter von Grünfeld und Bergtal im Tschüi-Tal / Foto © Irina Unruh

 

Irina Unruh: Where The Poplars Grow 
118 Seiten
Shiftbooks
 

Fotografie: Irina Unruh
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Julian Hans
Veröffentlicht am: 03.10.2024

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Protestantismus in Russland

Auf einer Postkarte von 1910 ist eine Kirche zu sehen. Sie ist, im Stil der Zeit, in warmen, erdfarbenen Tönen koloriert. Ein Hauch Monumentalität umweht das Gotteshaus; erhaben steht es, ganz ohne Menschen und anderes Beiwerk, im Mittelpunkt der Karte. Eine feste Burg, wie es das in dieser Zeit besonders beliebte Lutherlied ausdrückt. Lutherische Kirche, Barnaul heißt es knapp in der Beschreibung.
Doch der Reformator Martin Luther war nie in Barnaul, nie in Sibirien, nie in Russland. Er reiste sowieso nicht gerne. Schon die Fahrt von Wittenberg nach Worms zum Reichstag 1521 war ihm ein Gräuel: 500 Kilometer. Die Fahrt von Wittenberg nach Barnaul wäre fast zehnmal so lang gewesen. Trotz dieses weiten Weges gelangten die Ideen der Wittenberger Reformation, mit ihrer Lehre von der Autorität der Bibel (sola scriptura) und Luthers Entdeckung eines gerechten Gottes bis hierhin. Nach Westsibirien, fast bis an die Grenze Kasachstans.

Postkarte © privatBis das Luthertum nach Russland kam, dauerte es allerdings eine Weile. Doch schon in den 1520er Jahren zogen deutsche Kaufleute, Handwerker, Soldaten und Techniker an verschiedene Orte des Russischen Reiches. Dort bekräftigten sie ihr neues lutherisches Bekenntnis zunächst in Hausgottesdiensten, die sie gemeinsam feierten. 1567 wurde schließlich die erste lutherische Kirche in Russland errichtet. 

Lutheraner als Arbeitskräfte

Das handwerklich-technische Know How der deutschen Lutheraner war gefragt. Deshalb deportierte beispielsweise Zar Iwan der Schreckliche (1530-1584) 1565 die deutschen Lutheraner aus Tartu im heutigen Estland und siedelte sie im Umland Moskaus an. Auch Zar Peter der Große (1672-1725) war interessiert an gut qualifizierten Deutschen (neben Holländern und Engländern). Um sie als Arbeitskräfte anzuwerben, erließ er ein Toleranzedikt, das den deutschen Einwanderern die Ausübung ihrer Religion gestattete. Und weil er im Luthertum dynamische Modernisierungskräfte vermutete, reiste er sogar selbst 1712 nach Wittenberg. Dort wollte er mehr über Luther, seine Lehre und sein politisch-kulturelles Wirken erfahren. Er übernachtete in der Alten Canzley, heute ein Hotel direkt gegenüber der Schlosskirche (es gibt dort auch ein Zimmer namens Peter der Große), ließ sich durch Wittenberg führen und besuchte das Lutherhaus. 

Der damals bereits legendenhafte Tintenkleks, mit dem Luther angeblich den Teufel bekämpft hatte, konnte ihn allerdings nicht überzeugen: „Die Tinte ist aber noch neu“, bemerkte er nüchtern. Doch nahm er andere protestantische Ideen mit. Nach dem Vorbild der evangelischen Synoden ordnete er beispielsweise 1721 die Spitze der russisch-orthodoxen Kirche neu und setzte den sogenannten Heiligen Synod als gemeinsames kirchliches Führungsgremiun ein. Das hatte selbstverständlich auch eine machtpolitische Dimension, da er so den Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche zurückdrängen konnte. 

Nach Peter dem Großen war es schließlich Zarin Katharina II. (1729-1796), auch die Große genannt, die dem Protestantismus in Russland weitere Türen öffnete. Als Prinzessin von Anhalt-Zerbst war sie selber lutherisch erzogen worden und warb nun, unter anderem mit der Gewährung der Religionsfreiheit, ebenfalls um deutsche Siedler. Jetzt kamen nicht mehr nur Lutheraner, sondern auch Mennoniten, Täufer und andere Protestanten, die sich dem freikirchlichen Spektrum zuordnen ließen. Auch Reformierte, also Anhänger der Lehre Calvins, ließen sich in Russland nieder.

Institutionalisierung des Protestantismus

Im 18. Jahrhundert gab es also bereits einen sehr pluralen Protestantismus in Russland. Längst war das Luthertum nicht mehr nur eine Sache der deutschen Siedler – neben ihnen gab es zahlreiche estnische, lettische, finnische oder auch schwedische Lutheraner. Und auch sie erreichten nun Sibirien. Vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts zog der Bergbau große Zahlen lutherischer Siedler an. Tomsk, Barnaul, Irkutsk und Wladiwostok wurden so zu großen lutherische Gemeinden. Mit 3,6 Millionen Mitgliedern, darunter knapp 1,1 Millionen Deutsche, knapp 1,3 Millionen Letten und 1,1 Millionen Esten, bildete das Luthertum vor dem Ersten Weltkrieg die drittgrößte Konfession im Reich. 1897 gehörten 76 Prozent der in Russland lebenden Deutschen dem lutherischen und 3,6 Prozent dem reformierten Glauben an.1 Die lutherischen und reformierten Gemeinden fanden schließlich 1832 in der durch Zar Nikolaus I. (1796-1855) begründeten evangelisch-lutherischen Kirche in Russland ihre traditionelle, institutionelle Ordnung. Als eine Staatskirche mit deutscher Amtssprache war sie dem evangelischen Ordnungsprinzip des Landeskirchenregiments verpflichtet. Das bedeutete, dass der Zar zugleich zum höchsten Oberhaupt der lutherischen und reformierten Kirchen in Russland wurde (summus episcopus). 

Das Luthertum war sichtbar in Russland und gehörte zum religiösen Leben dazu. Wo immer Lutheraner waren, hatten sie meist eine eigene lutherische Kirche und eine lutherische Schule. In St. Petersburg, der damaligen Hauptstadt des russischen Reiches, wurde die lutherische Kirche 1730 mitten auf der Hauptstraße, auf dem Newski Prospekt eingeweiht. Einhundert Jahre später entstand auf deren Platz ein monumentales Gebäude, die noch heute zu sehende St. Petri-Kirche, erbaut im Stil einer klassischen Basilika. In anderen Städten, etwa im westsibirischen Barnaul, waren die Kirchen weit weniger prachtvoll. Ein wohlhabendes, den russischen Klimabedingungen geschuldetes, jedoch nicht minder hartes Gemeindeleben mit Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen fand in den lutherischen Kirchen statt. Es wurden Lutherlieder gesungen und die klassischen lutherischen Bekenntnisse gebetet. Wahrscheinlich wurde 1883 auch Luthers 400. Geburtstag gefeiert - eine Erneuerung der Verbindung zum Deutschen Reich und zum deutschen Luthertum.

Kein Anlass zum Feiern

Zum 400jährigen Reformationsjubiläum 1917 gab es in Russland – anders als im damaligen Deutschen Reich – schon längst keinen Anlass mehr zum Feiern. Im März hatte Nikolaus II. abgedankt und die evangelisch-lutherische Kirche dadurch ihr Kirchenoberhaupt verloren. Die Machtübernahme der Bolschewiki und schließlich die brutale Religionsverfolgung Stalins bedeutete das Ende der lutherischen Kirchen. 1938 wurde die letzte lutherische Kirche in Moskau, die St. Peter und Pauls-Kathedrale, geschlossen. Der Pastor wurde erschossen und im Kirchengebäude wurde erst ein Kino, später ein Filmstudio eingerichtet. Russlandweit wurden Kirchen umfunktioniert: In der St. Petri-Kirche in St. Petersburg wurde 1962 ein Schwimmbad eröffnet. Viele Kirchen wurden zudem stark umgebaut: Im Gebäude des Kulturpalastes der Fernmeldemitarbeiter an der Moika in St. Petersburg ist die ehemalige reformatorische Kirche heute kaum mehr zu erkennen. Nicht wenige Lutheraner gingen in den religiösen Untergrund und schlossen sich den Evangeliumschristen an; einem Sammelbecken für verschiedene evangelisch freikirchliche Gemeinschaften und Gemeinden.

Die ehemalige reformierte Kirche (rechts) ist heute kaum wiederzuerkennen / Foto © CC BY-SA 3.0

Erst in den 1970er Jahren änderte sich das Klima für die Lutheraner in Russland. Als eine konkrete Auswirkung der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975 durften erstmals Vertreter des Lutherischen Weltbundes in Sibirien verstreute lutherische Gemeinschaften besuchen. Heute gibt es längst wieder eine Vielzahl verschiedener lutherischer Kirchen und evangelischer Kirchenzusammenschlüsse. 

Fast 80 Jahre nach der Enteignung durch Stalin, wurde die St. Peter und Paul Kathedrale in Moskau an die lutherische Kirche zurückgegeben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wohnte dem feierlichen Akt in Moskau bei und dankte Putin ausdrücklich für die „schöne Geste im Jahr des Reformationsjubiläums“.2

Derzeit gibt es noch rund 3 Millionen evangelische Christen in Russland.3 Engagierte Pfarrer kämpfen gegen die Massenauswanderung ihrer Gemeindemitglieder und setzen sich für die Öffnung ihrer Kirchen, auch für Russen, ein. Der heutige Pfarrer von Barnaul bittet um Spenden zur Wiederherstellung der lutherischen Kirche. Jedoch nicht mehr der St. Paulskirche, da diese in den 1970er Jahren abgerissen wurde.4 So bleibt die Ansichtskarte das letzte Bild, mit dem die lutherische Kirche von Sibirien aus in das Jahr 2017 grüßt.  


Literaturhinweise:

Wilhelm Kahle, Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Sowjetunion 1917-1938, Leiden 1974

Lothar Weiß (Hg.), Russlanddeutsche Migration und evangelische Kirchen, Göttingen 2013

Gerd Stricker, Russland. Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin 1997


1.vgl. Weiß, Lothar (2013, Hg.): Russlanddeutsche Migration und evangelische Kirchen, Göttingen, S. 74 
2.bundespraesident.de: Rückgabe der Kathedrale St. Peter und Paul in Moskau 
3.vgl. Lukin, Roman (2014): Rossijskij protestantism: Evangel´skije christiane kak novyj sozialnyj fenomen, in: Sovremennaja Evropa, Nr. 3, S. 139  
4. Emporis.de: St. Paul Lutheran Church 
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