Lange Zeit schien es klar, dass im russischen Abnutzungskrieg nur eine Seite gewinnen kann: Russland hat fast viermal so viele Einwohner wie die Ukraine, viel mehr Waffen, und die ohnehin stärkere Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren. Dennoch ist die Offensive bei Charkiw stecken geblieben und auch die Vorstöße an anderen Frontabschnitten sind strategisch unbedeutend. Dabei verliert Russland in großer Zahl gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie. Militärexperten gehen davon aus, dass der Kreml im kommenden Jahr vor ernsten Nachschubproblemen stehen wird.
Bereits jetzt versucht Russland offenbar, seinen Mangel an Material durch mehr Personal auszugleichen: Seit Beginn der Invasion setzen die Kommandierenden vor allem auf Artilleriefeuer und Frontalangriffe, bei denen die eigenen Soldaten als Kanonenfutter verheizt werden. Laut Mediazona hat Russland im ersten Halbjahr 2024 rund ein Drittel seiner Gesamtverluste zu verzeichnen. Während 2023 im Schnitt etwa 120 russische Militärangehörige pro Tag fielen, sind es derzeit 200 bis 250.
Die Soldaten, die an vorderster Front ins Feuer geschickt werden, stammen vor allem aus ärmeren Landesteilen abseits der Großstädte. Wenn sie nicht auf dem Schlachtfeld zurückgelassen werden, kommen ihre Leichen in Zinksärgen nach Hause zu ihren Familien. Wie das abläuft, darüber berichtet ein anonymer russischer Offizier dem Medienprojekt Mediazona: Drei Monate lang hat er mehr als ein Dutzend Tote nach Hause gebracht, bis in den Fernen Osten.
Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Krieg, Tod und Gewalt.
Ich bin ausgebildeter Militärpsychologe. In meinem Dienst musste ich gefallene Soldaten nach Transbaikalien begleiten. Eigentlich ist es die Regel, dass so etwas nur Leute mit meiner Ausbildung machen, aber jetzt schicken sie sonst wen dorthin. Meistens sind es einfache Soldaten, manchmal beliebig ausgewählte Offiziere. Der Grund ist natürlich der akute Personalmangel.
Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522
Der Ablauf an sich ist simpel: Die Toten aus der Ukraine werden in die Leichenhalle auf dem Gelände des Militärhospitals in Rostow am Don geliefert, in das Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522. Grob gesagt ist das eine Sortierstation, von der aus die Leichen ins ganze Land transportiert werden. Dort arbeiten Militärangehörige aus allen Einheiten, die im Krieg sind. Ihre Arbeit ist die Hölle: Sie müssen die Leichen identifizieren und alle Toten aus ihrer Einheit für den Abtransport vorbereiten. Sobald eine Leiche eingeliefert und identifiziert wurde, ruft das Zentrum aus Rostow im jeweiligen Truppenteil an und bestimmt einen Totenbegleiter. Infrage kommen Offiziere und Vertragssoldaten, die gerade verfügbar sind. So war es auch bei mir. Weil ich mich geweigert habe, einen Befehl auszuführen, wussten sie nicht, wohin mit mir. Ich war froh, dass sie mich genommen haben: besser ich als jemand, der überhaupt keine Ahnung hat, was er zu einer Mutter sagen soll, die ihren Sohn beerdigen muss.
Danach läuft es folgendermaßen: Die Begleitperson fliegt nach Rostow am Don, fährt ins Zentrum 522, nimmt den gefallenen Soldaten in Empfang, seine Papiere und persönlichen Gegenstände, die seiner Familie überbracht werden müssen, die Sterbeurkunde und die Dokumente, die für das Begräbnis nötig sind, sowie den Tapferkeitsorden. Dann heißt es warten, bis es grünes Licht für die Reise gibt. Wenn es soweit ist, bekommt die Begleitperson eine Einweisung vom Zentrumsleiter. Die Toten werden in eine IL-76 geladen und zum Bestimmungsort geflogen. Wie wir mit den Hinterbliebenen umgehen sollen, wird bei der Einweisung nicht gesagt.
Bei der Ankunft werden die Leichen von der örtlichen Militärverwaltung in Empfang genommen, die den Weitertransport in die Herkunftsorte organisiert. Ist man dort angekommen, übergibt man die Leiche den Angehörigen und bleibt bis zum Schluss bei ihnen, einschließlich der Beerdigung. Danach erhält man die Papiere, die für die Kompensationszahlungen nötig sind, einen Sterbe- und Bestattungsnachweis, und kehrt in seinen Truppenteil zurück.
Von Rostow aus gehen praktisch täglich solche Flüge. Unser Flugzeug war voll belegt: 80 Holzkisten, innen drin Zinksärge mit den Leichen und an den Wänden eng an eng knapp 60 Begleitpersonen, von denen manche bis zum letzten Zielflughafen mitfliegen mussten. Im Normalfall dauert die Reise mehrere Tage, mit Zwischenstopps in verschiedenen Großstädten. Am Anfang [des Krieges] bekam jeder Tote seine eigene Begleiterperson, aber seit es nicht mehr genug Leute gibt und die Verluste steigen, gibt es eine Person für alle Gefallenen aus einer größeren Stadt oder einem Truppenteil.
Weder angemessene Lagerung noch Kühlung
Das Identifikationszentrum in Rostow am Don ist ein Ort des Grauens. Da ist in erster Linie der Gestank, der mit nichts vergleichbar ist. Obwohl ich im tiefsten Winter dort war, ist er schwer zu vergessen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es im Sommer zugeht. Das Zweite ist der Umgang mit den Toten: Sie liegen in den riesigen Hangars, in denen sie identifiziert und sortiert werden, einfach auf dem Boden. Ich habe dort einen abgetrennten Kopf auf dem Boden liegen sehen. Sein verzerrtes Gesicht werde ich nie vergessen. Es gibt weder angemessene Lagerung noch Kühlung, was klar ist angesichts des Zustroms – die Leichenhallen sind nicht für diese Mengen ausgelegt. Bei den Gefallenen aus meiner Einheit habe ich dann den ganzen Prozess mitangesehen: Den Toten wird eine Uniform angezogen – das machen einfache Soldaten, manchmal sogar Wehrdienstler –, dann werden sie in einen Zinksarg gelegt, geschminkt, damit sie durch das kleine Sichtfenster nicht ganz so schlimm aussehen, dann verschweißt man den Sarg, legt ihn in eine Holzkiste, beschriftet sie und bereitet sie für den Transport vor.
Die ganze Angelegenheit ist auch körperlich Schwerstarbeit, man ist praktisch als Packer angestellt. Angefangen bei der Leichenhalle in Rostow bis zum Heimatdorf des Toten muss man ständig Särge schleppen und hin- und herschieben.
Bei der Ankunft muss man selber mit den Angehörigen sprechen. Natürlich ist da vor allem das ungeheure Leid der Mutter. Am schlimmsten ist es, wenn der Tote sehr jung war, 20 bis 25 Jahre. Dann wäre ich am liebsten selbst an seiner Stelle, um nicht mitansehen zu müssen, was mit den Eltern passiert, wenn sie ihr totes Kind sehen.
Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen
Der eine Satz, den ich als Begleitperson bei der Ankunft sagen muss, lautet ungefähr so: „Sehr geehrte Maria Iwanowna, mein herzliches Beileid angesichts Ihres schweren Verlusts.“ Alles andere kann warten. Um die Situation irgendwie erträglicher zu machen, gibt es einfache Regeln. Man sollte immer eine Flasche Wasser und Taschentücher dabeihaben und sich vorher überlegen, wo sich der oder die Betroffene hinsetzen oder hinlegen kann. Auf keinen Fall darf man einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, etwas sagen wie: „Ich verstehe sie.“ Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen, solche Worte können eine aggressive Reaktion hervorrufen. Wenn das passiert, darf man nicht darauf eingehen, nichts beweisen oder abstreiten. Man muss einfach zuhören und warten, bis die Emotionen nachlassen.
Außerdem ist es empfehlenswert, die Angehörigen zu fragen, was sie über die Todesumstände wissen. Wenn ihnen noch keine Details bekannt sind – eine Mutter wird immer fragen, wie ihr Sohn gestorben ist –, sollte man sie damit beruhigen, dass es ein schneller Tod war und ihr Kind nicht leiden musste. Manchen Müttern gibt das etwas Trost. Man darf eine Mutter nie von dem Sarg wegzerren und muss verhindern, dass es die Angehörigen tun. Im ersten Moment sollte man die Tränen und Emotionen fließen lassen, bis sie irgendwann abklingen. Viele machen den Fehler, sie gleich beruhigen zu wollen, sie ziehen sie weg, lassen sie nicht ausweinen. Das ist falsch. Die meisten Begleitpersonen wissen nicht einmal das. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen, also sagen sie einfach nichts. Das kommt alles daher, dass es an geschulten Leuten fehlt und sie jeden X-Beliebigen nehmen.
Ich wurde oft eingesetzt, alle ein oder zwei Wochen. Bei 13 Beerdigungen war ich persönlich dabei. Es gibt auch welche, die noch mehr mitgemacht haben. Der Strom reißt nicht ab. Fast jeden Tag gibt es Ehrenbegräbnisse.
Noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen
Am eindrücklichsten ist mir ein Lehrer in Erinnerung geblieben, den ich in ein Dorf namens Bura an der chinesischen Grenze begleiten musste. Er war eingezogen worden und starb an einer Verletzung am Bein, die eigentlich gar nicht lebensgefährlich war. Aber er hat zu viel Blut verloren, weil man das Bein nicht oberhalb der Wunde abgebunden hat, sondern darunter. Dafür wurde nie jemand zur Rechenschaft gezogen. Er war ein einfacher Lehrer, den man Tausende von Kilometern weit weggeholt hat, um Menschen zu töten. Auf dem Land sind die Leute einfach gestrickt: Man sagt ihnen, ihr müsst „gegen Nazis kämpfen“, also kämpfen sie gegen Nazis. In diesem gottverlassenen Dorf gab es keinen, der ihn als Lehrer ersetzen konnte. Dieser Mann war sehr beliebt, das ganze Dorf schätzte ihn. Ich habe noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen wie bei seiner Beerdigung.
Dann gab es noch eine Mutter, der ich ihren zweiten Sohn tot zurückbringen musste, nachdem sie schon einen [im Krieg] verloren hatte. Das Dorf hieß Tschara. Der erste Sohn war als Freiwilliger in die Gruppe Wagner eingetreten, der zweite wurde eingezogen, der dritte war noch zu Hause, aber wollte auch bald hingehen. Sie ist natürlich zusammengebrochen, war vollkommen hysterisch. Ich habe mir ihre Hasstiraden anhören müssen, auf Putin, auf Schoigu, einfach auf alle. Ich trug eine Uniform, also war ich an allem schuld, ich habe diesen Krieg entfesselt, alle getötet, ihren Sohn getötet – das volle Programm. Sie tat mir sehr leid. Sie wäre mir am liebsten an die Gurgel gegangen, aber durch den Schock war sie wie gelähmt. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und wäre fast ohnmächtig geworden.
Ein anderer harter Moment war, als mehrere Tote aus einer Einheit auf einmal in eine Leichenhalle gebracht wurden. Es kamen viele Verwandte, alle waren völlig am Ende. Zwei der Familien wollten unbedingt die Zinksärge öffnen und die Leichen umbetten. Sie hatten einen Trennschleifer dabei, aber als sie es nicht schafften, baten sie mich um Hilfe. Da habe ich zum ersten Mal einen Zinksarg zersägt, unter den Blicken der trauernden Verwandtschaft. Es war eiskalt, meine Hände waren steif gefroren, und dann war einer der Toten schrecklich zugerichtet. Während wir sie in die Leichenhalle trugen, um sie umzuziehen, weinten alle hysterisch. Einen Zinksarg zu zersägen ist nichts für schwache Nerven.
Ich habe schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind
Es gibt verschiedene Gründe, warum die Leute die Särge öffnen wollen. Eigentlich haben Zinksärge ein kleines Fenster, damit man das Gesicht sehen kann. Normalerweise, wenn es keine Kopfverletzung gibt, erkennt man den Toten. Manche Angehörigen wollen ihn einfach noch einmal berühren, sie wollen sich von dem Körper verabschieden. In Transbaikalien werden die Toten traditionell zu Hause im offenen Sarg aufgebahrt. Aber das ist in dem Fall keine gute Idee. Vor allem, wenn es warm ist, dann liegt die Leiche da und rottet vor sich hin. Bei meinen Einsätzen habe ich das eigentlich nie erlaubt. Dazu war ich befugt: Ich konnte entscheiden, ob ein Zinksarg geöffnet wird oder nicht. Wenn man das Gesicht durch das Sichtfenster sehen und den Toten identifizieren kann, dann reicht das. Meistens sind es die Mütter, die ihren Sohn noch einmal sehen wollen, aber sie verstehen nicht, dass da der Geruch ist, und es ist schlicht auch nicht ungefährlich.
Nur ein Mal habe ich es erlaubt. Es war Winter, da konnte man ihn einen Tag lang offen stehenlassen. Außerdem war er noch nicht lange tot, wir hatten ihn zügig nach Hause gebracht. Alle anderen habe ich in geschlossenen Särgen beerdigt.
Bis zur Beisetzung wird der Zinksarg an verschiedenen Orten gelagert, nicht unbedingt im Leichenschauhaus, einfach weil es die nicht überall gibt. In ganz abgelegenen Dörfern werden die Särge manchmal in der Schule aufgebahrt – in der Aula oder sogar in der Kantine. Der Tote steht einfach mitten im Raum, die Menschen kommen und verabschieden sich. Das sind oft kleine, arme Dörfer. Die Leute tun, was sie können.
Ich persönlich habe nie etwas Negatives erlebt, außer von dieser einen Mutter, und der habe ich meine Nummer gegeben und versprochen zu helfen, so gut ich kann. Sie hat sich später bei mir gemeldet, wir haben telefoniert, ich habe ihr mit den Papieren geholfen. Alle anderen haben auf mich nicht feindselig reagiert. Die Leute verstehen, dass ich nichts dafürkann, dass ich sie nicht umgebracht habe. Wenn ich mit den Menschen rede, habe ich schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind. Sie verstehen, dass es völliger Irrsinn ist. Viele haben versucht, ihre Angehörigen davon abzuhalten, aber sie fahren trotzdem und sterben.
Auf dem Land sind alle arm
Zum Leichenschmaus bin ich meistens nicht geblieben. Das ist zu hart, furchtbar. Ich habe alle möglichen Ausreden erfunden, damit ich nicht hinmusste, obwohl man mich eingeladen hat. Das Essen war natürlich gut, aber ich bin meistens gefahren. Nur wenn man mit einer Eskorte zu einer Ehrenwache muss, dann hat man Wehrpflichtige dabei, die regelmäßig mit Essen versorgt werden müssen. Und wo versorgt man sie? Beim Leichenschmaus. Also muss man bleiben und dabeisitzen.
Das ist ein elender Anblick. Auf dem Land sind alle arm, für ein Begräbnis sammelt das ganze Dorf. Die Gegend ist sowieso schon trostlos, aber jetzt ist sie noch trostloser, weil sie buchstäblich alle Männer von dort wegholen. Burjaten, Jakuten, alle Minderheiten, die in diesem Gebiet leben. Die kommen zuallererst an die Front. Mindestens in zwei der Musterungsbehörden, mit denen ich zu tun hatte, hörte ich, dass sie keine „Mobilisierungsressourcen“ mehr hätten. Im Klartext heißt das, dass es in ihren Verwaltungskreisen keine Männer mehr gibt.
Ich habe etwa drei Monate [als Totenbegleiter] gearbeitet. Das ist eine harte Erfahrung, Ich bin wenigstens ein Militär und dafür ausgebildet, ich wusste immerhin, was auf mich zukommt. Aber es ist trotzdem grauenvoll. Erst war es sehr schwer, aber dann gewöhnst du dich natürlich dran.