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Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

Schnell werden die Besucher am aufgebahrten Lenin vorbeigeführt. Wer schon mal im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau war, kennt das Gefühl, in der Kürze der Zeit kaum etwas vom einstigen Revolutionsführer gesehen zu haben. Trotzdem liegt beim Anblick des einbalsamierten Wladimir Iljitsch ein Hauch Oktoberrevolution in der Luft – mit der Lenin und die Bolschewiki vor 100 Jahren die Macht übernahmen.

Nach dem damals in Russland gültigen julianischen Kalender griffen sie am 25. Oktober 1917 zu den Waffen, nahmen in der Nacht zum 26. Oktober das Winterpalais im damaligen Petrograd ein und stürzten die Regierung.

1924, nur sieben Jahre später, starb Lenin – und wurde danach zur ewigen Mumie. Wie ist das überhaupt möglich, seinen Körper so lange in einen solchen Zustand zu versetzen? Anastasia Mamina hat sich für Bird in Flight näher angesehen, welche Prozeduren der Körper durchlaufen muss und ob vom echten Lenin überhaupt noch etwas übrig ist.

Source Bird In Flight

"Er war klein, schmächtig und irgendwie gelb." / Foto © ITAR-Tass 1997

Wie alle postsowjetischen Moskauer Kinder besuchte ich das Lenin-Mausoleum so ungefähr in der dritten Klasse. Ich erinnere mich noch, welche Aufregung die Aussicht hervorrief, einen Ausflug zu einer Leiche zu machen, anstatt im langweiligen Unterricht zu sitzen. Wobei, sonderlich beeindruckt hat Lenin mich als Drittklässlerin damals nicht. Er war klein, schmächtig und irgendwie gelb.

Als man mir den Auftrag gab, darüber zu schreiben, was man mit dem Körper des Revolutionsführers so anstellt, wandte ich mich als Erstes an das Mausoleum und an das Institut, das die Ausschreibung [für die im Jahr 2016 durchzuführende biomedizinische Arbeit am Lenin-Korpus - dek] gewann.

Dort war mir das Glück nicht hold. Dafür erfuhr ich, dass man für das Ausplaudern von Staatsgeheimnissen gut und gern vier Jahre hinter Gittern landen kann (zahlreiche Dokumente bezüglich Lenins Leiche sind bis heute unter Verschluss – Anmerkung der Redaktion).

Macht nichts, dachte ich naiv. Dann treibe ich ein, zwei Pathologen auf, einen Biologen aus dem Fachgebiet, mache ein paar Interviews, und der Text steht. Doch ganz so einfach war die Sache nicht.

Der Biologe Witali (Name geändert) sitzt mir gegenüber und bemüht sich, so zu tun, als verbrächte er seinen Abend am liebsten genau so: mit einer ihm kaum bekannten Journalistin in einem Café.

„Verstehst du“, seufzt er und zeichnet sanft eine Figur in die Luft, „ich kann gern versuchen, dir mit den Händen zu erklären, was sie mit ihm genau anstellen, aber das kannst du dir auch im Internet ansehen.“

Ich schüttle den Kopf. „Internet will ich nicht, ich will einen Gesprächspartner. Einen lebendigen mit großen Augen.“

Witali möchte wirklich helfen, aber er weiß nicht, wie. Er erklärt mir, dass man Lenins Körper mehrfach hintereinander badet: zuerst in einer Glyzerinlösung, dann in Formaldehyd, anschließend folgen einige Alkoholwhirpools, dann Wasserstoffperoxid (zur Aufhellung der Haut, sonst würden sich überall Flecken bilden), essigsaures Natron und Kalium sowie eine Essiglösung. Lenin bleibt länger in der Wanne als jedes Mädchen – bis zu anderthalb Monate. Dafür nur alle anderthalb Jahre. In dieser Zeit ist das Mausoleum zu.

Bei klirrender Kälte blieb Lenin wunderbar konserviert

„Das Lustige ist“, sagt Witali und beißt von seinem Croissant ab, „dass man Lenin nach seinem Tod obduziert hat. Sie haben also nicht an eine Einbalsamierung gedacht. Und die wichtigsten Blutgefäße, die Arterien, einfach zerschnitten. Hätte der Pathologe geahnt, dass Lenin noch lange liegen würde, hätte er das natürlich nicht getan. Aber so war das Blutgefäßsystem futsch. Die große Frage war also, wie man die Balsamierflüssigkeit im Körper verteilen konnte. Letztlich machten sie ihm dann Mikroinjektionen, packten ihn in einen Gummianzug, damit nichts herauslief … Warum isst du denn nicht? Deine Suppe ist längst kalt.”

Schlange stehen für Lenin, im Jahr 1988. / Foto © Tobias von der Haar/flickr

Nachdem ich mich von Witali verabschiedet habe, öffne ich das Notebook und vertiefe mich in das Jahr 1924, als im Land eine schreckliche Nachricht die Runde machte: Lenin ist tot.

Nur ein paar schlaue Köpfe verfielen damals auf die Idee, den Revolutionär zu mumifizieren, während die Mehrheit der Regierung das als Barbarei betrachtete. Die Witwe des Verstorbenen, Nadeshda Konstantinowna, bat darum, den Ehemann „normal“ zu bestatten. Das sowjetische Volk erhielt die Gelegenheit, sich von Wladimir Iljitsch zu verabschieden – einige Monate lang blieb sein Leichnam zur allgemeinen Besichtigung aufgebahrt. Lenin war im Januar gestorben und es herrschte klirrende Kälte, sodass der Revolutionär wunderbar konserviert blieb und kaum verweste. Dann berieten sich die Machthaber und kamen zu dem Schluss: Warum Gutes verlieren? Lieber konservieren. Die Verantwortung dafür delegierten sie an sowjetische Wissenschaftler.

Während ich mich geistig im Jahr 1924 befinde, meldet sich endlich der Pathologe. Ich habe seinen Kontakt von einem Freund bekommen. Hoffnungsfroh öffne ich die Mail.

Der Pathologe schreibt knapp, er könne mir nicht weiterhelfen, er werde nichts verraten, und wenn ich so dringend etwas über Leichen lesen wolle, gebe es ein hervorragendes Buch, „aber schreib mir nicht mehr“ (und viele Ausrufezeichen).

Dabei dachte ich, es wird schon nicht so schwer sein, einen Spezialisten für den Tod zu finden. Als mich der dritte Pathologe bat, ihn nicht mehr zu behelligen, musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass ich mich allein mit der Leiche des Revolutionärs herumschlagen würde.

Es klingt makaber, aber innen ist Lenin hohl

Dürfte ich den Spezialisten wenigstens eine Frage stellen, würde sie so lauten: „Ist eigentlich noch viel von Lenins Körper übrig? Man sagt, nur die Hände und das Gesicht.“

Wie sich herausstellte, besteht die Aufgabe der Mediziner keineswegs darin, möglichst viel vom Körper zu erhalten. Lenin schwindet Jahr für Jahr. Die Wimpern beispielsweise sind seit je aufgeklebt, und 1945 verschwand ein ganzes Stück Haut von seinem Fuß. Damals stellten Biologen einen Flicken aus künstlicher Haut her. Später mussten auch Teile des Gesichts nachgebildet werden: So schob man beispielsweise Glasprothesen unter Lenins Augenlider. Und nähte den Mund des Anführers des Weltproletariats zu (was unter dem Bart und dem Schnurrbart leicht zu verstecken ist). Auf diese Weise bewahrt die Mumie ihre Ähnlichkeit mit dem Original.

Der Hauptzweck der jährlichen Einbalsamierung Wladimir Iljitschs ist es, die physischen Parameter des Leichnams zu erhalten: Aussehen, Gewicht, Farbe, Geschmeidigkeit der Haut und die Beweglichkeit der Gliedmaßen. Der größte Teil von Lenins Hautfett wurde durch eine Mischung aus Karotin, Paraffin und Glyzerin ersetzt – anscheinend ein großartiges Mittel gegen Falten.

Innen ist Lenin freilich hohl. So makaber es klingt, alle inneren Organe wurden entfernt, das Gehirn der Forschung übergeben, und das Herz soll bis heute im Kreml aufbewahrt werden. Allein die Geschichte, was nach Lenins Tod mit seinem Gehirn geschah, böte genug Stoff für einen Kriminalroman: Man lud eigens einen Wissenschaftler aus Deutschland ein, um das Gehirn zu untersuchen, dieser zerschnitt es in 30 Teile und untersuchte sie – weil er die Genialität des Revolutionärs finden wollte. Jetzt wird Lenins Gehirn (oder das, was davon übrig ist) hinter den schweren Türen des Moskauer Instituts für Gehirnforschung aufbewahrt.

Seit mehr als 90 Jahren bleibt Lenin unverändert, und dafür muss man sich bei zwei begabten Wissenschaftlern bedanken: dem Chemiker Boris Sbarski und dem Anatomen Wladimir Worobjow. Als Worobjow Lenins Körper zum ersten Mal zu Gesicht bekam, packte ihn die Angst, er winkte ab und erklärte, dass er nichts unternehmen würde – die Aufgabe schien ihm zu schwierig. Doch die Kollegen konnten ihn überzeugen, es doch zu versuchen.

Sbarskis und Worobjows Aufgabe war wirklich kaum zu erfüllen: Die Wissenschaftler mussten eine eigene Methode finden, um den Leichnam zu konservieren. Die Idee, ihn einzufrieren, verwarfen sie sofort – nicht dass er ihnen plötzlich auftaute. Auch eine Mumifizierung wie im alten Ägypten war keine geeignete Methode: Lenin hätte beinahe 70 Prozent seines Gewichts verloren, seine Gesichtszüge wären entstellt worden, und das durfte nicht geschehen.

Er musste einbalsamiert werden, und zwar sorgfältig. Um Rat fragen konnte man niemanden. Die Wissenschaftler arbeiteten über vier Monate an Lenins Körper, und letztlich gelang es ihnen, sein Volumen und seine Gestalt zu bewahren. Zuerst durchtränkten sie den Leichnam mit einer Formaldehydlösung, dann legten sie ihn in eine Gummi-Wanne mit einer Lösung aus  dreiprozentigem Formalin, um den Revolutionär ein paar Tage lang darin „einzuweichen“. Am Körper setzten die Wissenschaftler einige Schnitte, damit auch die größten Muskeln durchdrungen wurden. Dann begab sich der leidgeprüfte Wladimir Iljitsch für ein paar Wochen in ein Alkoholbad, dem man schrittweise Glyzerin zufügte. Die letzte Etappe war ein Bad in sogenannter Balsamierflüssigkeit: Glyzerin, Kaliumacetat, antibakterielles zweiprozentiges Chininchlorid.

Zumindest äußerlich hat sich Wladimir Iljitsch seither nicht verändert. Ein Krieg begann und ging zu Ende, die Sowjetunion brach zusammen, Putin hat eine weitere Amtszeit angetreten, aber an Lenin zieht alles spurlos vorüber. Man hat ihn wirklich gewissenhaft einbalsamiert.

Der Streit darüber, ob man den Anführer des Weltproletariats bestatten soll, wird weitergehen (kurz gesagt: alle sind dafür, Sjuganow ist dagegen). Die Kommunisten werden rufen, die Bestattung des Leichnams sei liberalfaschistisch, Gläubige werden zu überzeugen versuchen, er müsse unbedingt bestattet werden, weil es sonst unchristlich sei.

Nur Lenin selbst wird nichts sagen. Er wird schmächtig und gelb in seinem gemütlichen Grab liegen, von 10 bis 13 Uhr Besucher empfangen und sensible Drittklässlerinnen enttäuschen.

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Lenin-Mausoleum

Es war für jeden Sowjetbürger geradezu eine Pflicht, einmal im Leben eine Pilgerfahrt nach Moskau zu unternehmen. Dort erwartete ihn ein fest etablierter Kanon an Sehenswürdigkeiten: Der Rote Platz, die gut gefüllten Schaufenster der Geschäfte, die schönste Metro der Welt, das märchenhafte Ausstellungsgelände der WDNCh und das zentrale Heiligtum: Lenin in seinem gläsernen Sarg. Im Herzen Russlands, dort, wo sich das alte Zentrum der orthodoxen Kirche und das neue Zentrum der weltlichen Macht befinden, steht das Lenin-Mausoleum als „Objekt zwischen Tresor und ägyptischer Pyramide, zwischen Kaaba und Tribüne oder Tempel und Sarg“.1 Davor bildete sich Tag für Tag die berühmteste Schlange des Sowjetreichs. Auch wenn sich heute viele in Russland für ein Begräbnis des Revolutionsführers aussprechen, stellen sich die Menschen immer noch an, um ihn zu sehen.

Zu Beginn gab es ein Holzmausoleum, hier im Jahr 1925. / Foto © Bundesarchiv unter CC-BY-SA 3.0

Seit 1921 war Wladimir Iljitsch Lenin (eigentlich Uljanow, 1870–1924) schwer krank und seit 1923 nicht mehr arbeitsfähig. Er lebte abgeschirmt von der Öffentlichkeit und kontrolliert durch die Parteispitze in Gorki unweit von Moskau. Bereits zu Lebzeiten setzte der Kult um Lenin ein, und es wurde ihm jenes Charisma zugeschrieben, das über den Tod hinaus wirken sollte.2

So wurde er zu einem Monument stilisiert, durch Plakatkampagnen mit seinem Bild als Führungsfigur, die Herausgabe seiner gesammelten Werke sowie durch ein 1923 gegründetes Lenin-Institut mit angegliedertem Museum, für das bereits vor seinem Ableben Reliquien gesammelt wurden. Das fiel auf die Zeit der politischen Wende, in deren Zuge Stalin zur Macht gekommen war. Die Entstehung des Lenin-Kults wurde von ihm als Strategie benutzt: So wurde die Zeit angehalten, Wandel ausgeblendet und Identität geschaffen. Daher, so die These des Historikers Benno Ennker, blieb das Bild des charismatischen Führers unberührt vom tatsächlichen Niedergang seiner Macht, der bedingt war durch die lange Krankheit und die Machtkämpfe innerhalb der Parteiführung.3

Abschied von Iljitsch

Nach Lenins Tod am 22. Januar 1924 wurde eine Beisetzungs-Kommission unter der Leitung von Felix Dsershinski eingerichtet, die die Staatstrauer organisieren sollte. Ihre wichtigste Aufgabe war die massenhafte Mobilisierung der Bevölkerung zum „Abschied von Iljitsch“.4 Tatsächlich kamen eine Million Menschen, und das Defilee an Lenins Sarg beeindruckte und begeisterte die Parteiführung. Dieses Erlebnis sollte, gegen den Widerstand der Witwe und einiger Parteifunktionäre, durch die Errichtung eines Mausoleums verstetigt werden.

Das provisorische hölzerne Mausoleum wurde vom Architekten Alexander Schtschusew auf dem Roten Platz in Eile aufgebaut, in dem der ebenso provisorisch einbalsamierte Leichnam am 27. Januar 1924 feierlich beigesetzt wurde. Mitte März entschied sich das Politbüro, den Körper langfristig zu konservieren und auszustellen. In der Zeitungsdebatte wurde der Anspruch formuliert, das Mausoleum solle in seiner Bedeutung für die Menschheit Mekka und Jerusalem überflügeln und für die Ewigkeit ausgerichtet sein.5

Im selben Jahr projektierte Schtschusew einen neuen Bau aus Eichenholz, der bereits die Grundformen des späteren steinernen Mausoleums und eine integrierte Tribüne auf dem Dach aufwies.6 Das definitive Mausoleum, das am 12. Oktober 1930 eingeweiht wurde, behielt die Grundform bei, vergrößerte jedoch das Volumen auf das Vierfache. Der Bau besteht aus einem mit Ziegelsteinen ausgefachten Betonskelett, das mit Steinen aus allen Landesteilen verkleidet ist: Granit, Prophyr, Quarzit, Gabronorit, Marmor, Labrador und Labradorit. Über dem Eingang liegt ein 60 Tonnen schwerer Block aus Labrador, in den mit rotem Porphyr der Name Lenin eingefügt ist. Der Sarkophag im Innern ruht auf einem zweiten Monolith aus Labrador.7 1946 wurde auf dem Mausoleum die Tribüne eingerichtet, von der aus die Partei- und Staatsspitzen fortan die Paraden abnahmen, außerdem die seitlichen Tribünen. Unsichtbare Veränderungen waren eine in den 1960er Jahren eingebaute Toilettenanlage für die Politbüro-Mitglieder und eine Rolltreppe in den 1970ern für den alternden Breshnew.8

Der Lenin-Kult

Das auf Ewigkeit angelegte Mausoleum wurde sofort zum Mittelpunkt des Lenin-Kultes, sekundiert von neuen Formen der Verewigung und Verehrung. Ein ganzer Kosmos von Ritualen entstand: Lenin-Abende, -Gedenktage, -Abzeichen, -Legenden und Lenin-Ecken, die in den Wohnungen die Stelle der Ikonen-Ecken einnahmen. Lenin diente als Ursprung einer politischen Tradition. Die Reliquie im Schrein scheint auf den ersten Blick eine gute Illustration der Theorie von der „politischen Religion“9 zu sein.

Die Bemühungen der Sowjetmacht um Modernisierung und wissenschaftlichen Fortschritt hatten immer auch magische Züge. Die von Lenin auf den Weg gebrachte Kampagne zur Elektrifizierung des ganzen Landes wurde zugleich als Aufbruch in die Moderne und als metaphysische Erleuchtung inszeniert. Biologen und Physiologen arbeiteten daran, den Menschen zu verbessern, das Leben zu verlängern und Tote wiedererwecken zu können. So wurde auch von manchen Zeitgenossen die Konservierung Lenins und seine Ruhe im gläsernen Sarg als Vorbote seiner Auferstehung verstanden.10

Konservierung vs. Kultivierung

Lenins unsterblicher Körper repräsentierte den Leninismus als ewige Wahrheit und damit die Legitimation der Herrschaft der Kommunistischen Partei. Was der „Leninismus“ war, wurde allerdings in jeder sowjetischen Periode neu definiert. Der Antropologe Alexei Yurchak geht im Zusammenhang mit dieser Elastizität auf die Beschaffenheit von Lenins einbalsamiertem Körper ein. Dieser sei ein Work in Progress, da die Leiche nicht konserviert, sondern kultiviert wird. Es handelt sich zwar um die Leiche, aber im Bemühen um ihre „Kultivierung“  wurden immer wieder Teile ausgetauscht und rekonstruiert, so dass es sich um ein hybrides Zwischending zwischen biologischer Leiche und Skulptur handelt, bestehend aus Biomasse und Kunststoffen. Ein zentrales Ergebnis des Prozesses ist die erstaunliche Beweglichkeit der Leiche. Yurchak argumentiert, dass zwei Körper im Sarg liegen: der bewegliche, durch den Kultivierungsprozess laufend veränderte Körper, dessen Flexibilität für die Partei sichtbar war, während für die Massen die unbewegliche Leiche, der ewige Lenin, im Sarg lag.11

Die Hierarchie der Ruhestätten

Betrachtet man die „Metropole als Nekropole“12, so war der Rote Platz ein Friedhof, auf dem man weder rauchen noch sich hinsetzen durfte. Im Mausoleum selbst musste man den Hut abnehmen, durfte die Hände nicht in die Taschen stecken, nicht sprechen, fotografieren oder stehen bleiben. Der Eingang des Mausoleums wurde von zwei Wachen flankiert, die alle drei Stunden abgelöst wurden. In der Hierarchie der Moskauer Totenstätten folgen auf das Mausoleum die Grabstätten an der Kreml-Mauer. Im Schatten des Lenin-Mausoleums stehen hier die Büsten der wichtigsten Führer der kommunistischen Partei, später kamen die Angehörigen der Parteispitze hinzu: von Stalin (1878–1953)13 über Leonid Breshnew (1906–1982) bis Konstantin Tschernenko (1911–1985). Weiter an der Kremlmauer folgt eine Wand mit Urnengräbern, wo verdiente Heldinnen und Helden der Sowjetunion bestattet sind, darunter Lenins Frau Nadeshda Krupskaja (1869–1939), der Schriftsteller Maxim Gorki (1868-1936) und der Kosmonaut Juri Gagarin (1934–1968).

Der Auflösung der Sowjetunion folgte auch die Schrumpfung des Lenin-Kultes. Viele Personen des öffentlichen Lebens und Politiker sprachen sich dafür aus, Lenin nun zu begraben, darunter Michail Gorbatschow, der Patriarch Alexi II, aber auch der amtierende Kulturminister Wladimir Medinski. Dagegen treten immer wieder die Vertreter der Kommunistischen Partei (KPRF) auf, vor allem Parteichef Gennadi Sjuganow, der ein mögliches Begräbnis als Angriff auf die „Heiligtümer“14 betrachtet. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM spricht sich eine Mehrheit der Bevölkerung zwar dafür aus, man solle damit aber abwarten, solange die ältere Generation noch am Leben ist.15


1.Huber W. (2007): Moskau – Metropole im Wandel. Ein architektonischer Stadtführer, Köln etc., S. 51 
2.Ennker B. (2011): Das lange Sterben des V. I. Lenin. Politik und Kult im Angesicht des Todes, in: Großbölting T., Schmidt R. (Hrsg.): Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen, S. 44 
3.ebd. S. 46 
4.ebd. S. 48 
5.ebd. S. 50 
6.Huber, S. 50 
7.ebd. S. 51 
8.ebd. 
9.Voegelin E. (1939): Politische Religionen, Stockholm. Kritiker des Konzeptes bevorzugen das Analysevokabular, das aus Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft hervorgegangen ist. 
10.Hagemeister M., Richers J. (2007): Utopien der Revolution. Von der Erschaffung des Neuen Menschen zur Eroberung des Weltraums, in: Haumann H. (Hrsg.): Die Russische Revolution, Köln, S. 133 
11.Yurchak A. (2015): Bodies of Lenin. The hidden science of communist sovereignty, in: Representations, Vol. 129 No. 1, Winter 2015, S. 128, 136 
12.Richers J. (2003): Die Metropole als Nekropole. Totenkult zwischen Brauchtum und Politbür, in: Rüthers M. Scheide C. (Hrsg.): Moskau. Menschen – Mythen – Orte, Köln etc., S. 102-111 
13.Nach dem Tod Stalins 1953 wurde dieser neben Lenin im Mausoleum beigesetzt. Im Jahr 1961, auf dem zweiten Höhepunkt der Entstalinisierung, ließ ihn Chruschtschow in einer Nacht- und Nebel-Aktion in der Reihe der Ehrengräber an der Kremlmauer beisetzen. 
14.Aif.ru: Nevynosimij Lenin 
15.Wciom.ru: Lenin žyl, Lenin živ, Lenin..? 
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