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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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„Für eure und unsere Freiheit“ (Protest am 25. August 1968)

Am 21. August 1968 besiegelten Truppen des Warschauer Pakts das Ende des Prager Frühlings. Während der Westen die Entwicklung mit Entsetzen verfolgte, reagierte die Bevölkerung in der Sowjetunion eher positiv auf die „brüderliche Hilfe“, berichteten die staatlichen Medien doch von dem Hilferuf der tschechoslowakischen Bruderpartei. Für viele Sowjetbürger weckte dieser Eingriff zudem positiv besetzte Erinnerungen an die Befreiung der Tschechoslowakei vom Faschismus. Doch am 25. August demonstrierten drei Frauen und fünf Männer auf dem Roten Platz, dass nicht alle Sowjetbürger der Darstellung der sowjetischen Presse Glauben schenkten.

Nichts scheint ungewöhnlich an diesem heißen Sonntag im August. Über den Roten Platz schlendern Flaneure, schauen sich die Auslagen des Kaufhauses GUM gegenüber dem Kreml an. Leute stehen Schlange, um Einlass ins Lenin-Mausoleum zu erhalten. Nichts deutet darauf hin, dass einige Tage zuvor Panzer in Prag den tschechoslowakischen Reformsozialismus beendet hatten. Keiner der sonntäglichen Spaziergänger weiß, dass Dubček und fünf weitere Vertreter der tschechoslowakischen Reformkommunisten entführt wurden und nun in Moskau von der sowjetischen Parteispitze um Breshnew zu einem Einlenken gedrängt werden. 

„Für eure und unsere Freiheit“

Kurz vor der Mittagsstunde biegt eine junge Frau mit einem Kinderwagen auf den Roten Platz ein. Sie steuert zunächst auf das GUM zu, wo sie ihren Mitstreitern auffordernd zulächelt, um dann auf das steinerne Podest des Lobnoje Mesto vor der Basilius-Kathedrale zuzustreben – dem einzigen Fleck, der etwas weniger bevölkert ist an diesem Sommertag. 

Im Wagen liegen neben ihrem drei Monate alten Sohn tschechoslowakische Fahnen sowie zwei Banner. Auf einen hatte die junge Dichterin und Übersetzerin Natalija Gorbanewskaja auf Tschechisch geschrieben „Lang lebe eine freie und unabhängige Tschechoslowakei!“ Das andere ziert der Spruch „Für eure und unsere Freiheit“. Er geht auf eine Parole polnischer Exilanten aus dem 19. Jahrhundert zurück, die sich international in verschiedenen Unabhängigkeitsbewegungen engagierten und zugleich für das Ende der polnischen Teilung kämpften.

Foto © Alex Bakharev/WikipediaGorbanewskaja reicht dieses Banner Pawel Litwinow, einem jungen Physiker und Enkel von Stalins Außenminister Maxim Litwinow. Während die Turmuhr zur Mittagsstunde schlägt, entfaltete er es zusammen mit dem Dichter Wadim Delone. Gorbanewskaja selbst nimmt eine tschechoslowakische Fahne zur Hand, die Linguistin Larissa Bogoras entfaltet ein weißes Laken, auf dem „Hände weg von der ČSSR“ steht. Um sie herum gruppieren sich der Linguist Konstantin Babizki, Tatjana Bajewa, der Heizer und ehemalige Geschichtsstudent Wladimir Dremliuga sowie der Philologe Viktor Fainberg mit weiteren Plakaten.

„Welche Okkupation? Wir haben sie doch befreit!“

Kaum sind die Plakate entrollt, geht alles sehr schnell. Kaum werden Umstehende auf sie aufmerksam, greifen sie die Demonstrierenden an. Auf Litwinow schlagen eine Frau und ein Mann mit Taschen ein; die Plakate werden zerstört, Gorbanewskajas Fahne zerrissen; die Demonstranten werden vor den Augen perplexer Umstehender als „antisowjetische Elemente“ beschimpft; Viktor Fainberg werden mehrere Zähne ausgeschlagen. 
Die Gruppe versucht den Zuschauern zu erklären, dass dies ein Sitzstreik gegen die Okkupation der ČSSR sei. Ihnen schlägt Empörung, aber auch Verwirrung entgegen. „Welche Okkupation?“, „Wir haben sie doch befreit!“, „Schämt Euch!“ bekommen die Demonstranten zu hören. Nach einigen Minuten werden alle Demonstranten in Autos weggebracht. Nur Gorbanewskaja bleibt zunächst mit ihrem Sohn zurück. Umstehende halten sie für eine Tschechin; eine Frau hilft ihr mit dem Kind. Kurz darauf wird auch sie verhaftet.

Die Demonstration vom 25. August ist nicht die erste Demonstration in Moskaus Zentrum. Schon seit Mitte der 1960er Jahre gab es Proteste von sogenannten Prawosaschtschitniki (dt. „Rechtsverteidiger“), die für die Einhaltung der sowjetischen Gesetze und gegen die Verhaftung von Dissidenten demonstrierten. Delone war auf einer dieser Demonstrationen 1967 bereits verhaftet worden. Nach Ende des Tauwetters hatten die Verhaftungen bei diesen Demonstrationen ebenso wie Prozesse gegen Literaten, die ihre Werke unter Pseudonym im Ausland veröffentlicht hatten, und die Einweisung von Rechtsverteidigern in psychiatrische Anstalten schon erste Signale einer harscheren Vorgehensweise gegen Dissens gesetzt. 
Die Niederschlagung des Prager Frühlings markierte dennoch einen zentralen Wendepunkt für die kritische sowjetische Intelligenzija, die nach der Verurteilung des stalinistischen Terrors 1956 an eine Reformierbarkeit des Systems geglaubt hatte. Auch unter den Demonstranten vom 25. August gab es bis dahin eine sozialistische Grundüberzeugung. Die Niederschlagung des Prager Frühlings änderte dies grundlegend. Nun war klar, dass nicht mehr nur einzelne Dissidenten mundtot gemacht werden sollten, sondern ganze Reformbewegungen.

Gorbanewskaja, Bogoras, Litwinow und ihre MitstreiterInnen gehörten selbst zum Kreis der Rechtsverteidiger. Einige Freunde und Ehepartner befanden sich bereits in Straflagern. Sie gehörten zu denen, die im Frühjahr 1968 begonnen hatten, Informationen über Verhaftungen, Verurteilungen und Haftbedingungen von Dissidenten systematisch zusammenzutragen, um sie in der Chronik der laufenden Ereignisse im Samisdat zu publizieren. Gorbanewskaja war wegen dieser Tätigkeit schon im Februar, noch während ihrer Schwangerschaft, in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen worden. Somit wussten die Beteiligten, dass ihre Demonstration Folgen haben würde. 

„Ich kann nicht schweigen“

Die Teilnahme von Frauen an der Demonstration war dabei umstritten. Denn ihnen war in Dissidentenkreisen eine andere Rolle zugedacht. Sie sollten ihre verhafteten Männer unterstützen, da nur sie ein Recht auf Kontakt zu den Inhaftierten geltend machen konnten. Bajewa wurde überzeugt, sie solle aussagen, bei der Demonstration nur zufällig zugegen gewesen zu sein. Sie wurde aus der Haft entlassen. 
Die zweifache Mutter Gorbanewskaja war alleinstehend. Bogoras´ damaliger Ehemann Juli Daniel saß aber noch im Lager, und ihr Lebensgefährte Anatoli Martschenko war am Tag des Einmarsches verurteilt worden (er hatte Ende Juli 1968 in einem öffentlichen Brief vor einer Invasion in der ČSSR gewarnt). Mit ihrer Teilnahme an der Demonstration gab sie die entscheidende Rolle als Kontaktperson auf. In einer Notiz, die sie vor ihrer Überführung in das Lefortowo-Gefängnis übermitteln konnte, bat sie ihre Freunde: „Kritisiert uns nicht wie uns andere kritisieren. Jeder von uns hat diese Entscheidung für sich selbst getroffen, weil es unmöglich geworden ist, zu leben und zu atmen … ich höre die Bitten [der Tschechoslowaken] im Radio, und ich kann nicht schweigen …“

Der Spruch „Für eure und unsere Freiheit“ wird in den folgenden Jahren zu einem zentralen Motto der sowjetischen Dissidentenbewegung und markiert ihre internationale Vernetzung wie ihr grenzüberschreitendes Verpflichtungsgefühl. Unterdessen werden Litwinow, Bogoras, Delone, Babizki und Dremljuga zu mehrjährigen Lagerstrafen verurteilt. Viktor Fainberg wird in einer psychiatrischen Klinik interniert, da nach dem Verlust mehrerer Zähne bei der Verhaftung sein Gesicht nicht bei einer Gerichtsverhandlung gezeigt werden soll. Gorbanewskaja wird als „unzurechnungsfähig“ aus der Haft entlassen, da sie ihr Kind mit auf die Demonstration genommen hatte, und wird der Vormundschaft ihrer Mutter unterstellt. 1969 wird sie als Chefredakteurin der Chronik der laufenden Ereignisse erneut festgenommen und in einer geschlossenen Psychiatrie mit Psychopharmaka zwangsbehandelt – ‚Dissens‘ ist nun als Form von Schizophrenie medikalisiert. Nach der Verbüßung ihrer Haftstrafen gingen Gorbanewskaja, Fainberg, Litwinow und Delone Mitte der 1970er Jahre ins westliche Exil.

Einige ausländische Korrespondenten berichten in den Tagen nach dem 25. August über die Demonstration. 40 Jahre später zeichnet der tschechische Premierminister Mirek Topolanek die noch lebenden Teilnehmer mit Gedenkmedaillen aus. 
Bei einer Gedenkdemonstration vor dem Moskauer Kreml 2013 mit Gorbanewskaja und Delones' Sohn wurden Teilnehmer, die ein Banner mit der Aufschrift „Für eure und unsere Freiheit“ hielten, erneut festgenommen – wegen einer nicht angemeldeten Aktion. 

https://youtu.be/a657agojK68?t=5s

 
Bei einer Gedenkdemonstration 2013 in Moskau wurden Teilnehmer mit dem Banner „‚Für eure und unsere Freiheit“‘ erneut festgenommen

Literatur zum Weiterlesen:
Gorbanevskaja, Natal´ja (1970): Polden´: Delo o demonstracii 25 avgusta 1968 goda na Krasnoj Ploščadi, Frankfurt/M.
Alexeyeva, Ludmila/Goldberg, Paul (1990): The thaw generation: coming of age in the post-Stalin era, Boston
Stephan, Anke (2005): Von der Küche auf den Roten Platz: Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen,  Zürich
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