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„Wenn Böses im Namen des ganzen Landes getan wird, kann man nicht schweigen“

Seit seiner Jugend beschäftigt Wladimir Kara-Mursa der Widerstand gegen Diktaturen. Als junger Journalist drehte er Dokumentarfilme über das Leben sowjetischer Dissidenten. Später setzte er sich in Washington für die Verabschiedung des sogenannten Magnitski-Gesetzes ein, das Sanktionen gegen russische Politiker und Beamte vorsieht, wenn sie an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Er überlebte zwei Giftanschläge, die mutmaßlich vom selben FSB-Kommando verübt wurden, das auch den Anschlag auf Alexej Nawalny begangen haben soll. Im April 2023 verurteilte ein Moskauer Gericht Wladimir Kara-Mursa wegen der „Verbreitung von Falschinformationen über die russische Armee“, der „Mitwirkung bei einer unerwünschten Organisation“ und wegen „Hochverrats“ zu 25 Jahren Straflager.
Kara-Mursa hat immer offen darüber gesprochen, dass er Kraft und Mut für seine Arbeit aus dem Glauben schöpft. Das christliche Portal Mir Vsem (dt. Friede sei mit euch) hat ihn gefragt, wie er seinen Glauben in der Haft praktizieren kann und wie er die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beurteilt.

Source Mir Vsem
Der Oppositionspolitker Wladimir Kara-Mursa vor Gericht in Moskau im Oktober 2022 / Foto © Sergei Bobylev/IMAGO/ITAR-TASS

Mir Vsem: Sie sind jetzt schon zwei Jahre hinter Gittern. Wie hat sich diese Zeit auf Ihr Selbstverständnis als Christ ausgewirkt, und auf Ihr Verhältnis zum Glauben und zur Kirche? 

Wladimir Kara-Mursa: Mein Verhältnis zum Glauben und mein Selbstverständnis als Christ haben sich nicht verändert. Und das gilt auch für das Verhältnis zur Kirche. Aber natürlich setze ich die Kirche weder mit ihrem Verwaltungsapparat gleich noch mit einzelnen Amtsträgern, auch nicht mit den höchstgestellten. Das hat mich Vater Georgi Edelstein gelehrt, ein sehr weiser und lauterer Mensch und, wie ich finde, ein wirklicher christlicher Geistlicher. Er betont immer – auch in seinen Büchern und in unserem gemeinsamen Film Die Pflicht, nicht zu schweigen von 2019 –, dass man die Kirche Christi nicht nach dem Verhalten einzelner Personen beurteilen darf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Namen auftreten. Diese Personen können sich sehr unwürdig verhalten, aber das macht nicht das Wesen des Glaubens und der Kirche aus. Auch heute sind in meinen Augen die verfolgten Priester, die ihre Stimmen gegen Krieg, Blutvergießen und Brudermord erheben, diejenigen, die das eigentliche Wesen des Christentums und der Orthodoxen Kirche zum Ausdruck bringen – und nicht die kirchlichen Würdenträger, die ihnen deswegen verbieten, Gottesdienste abzuhalten und ihnen das Amt aberkennen. Diese verfolgten Geistlichen, die, um mit Martin Niemöller zu sprechen, nicht bereit sind, „auf menschliche Anordnung hin das zu verschweigen, was Gott uns zu sagen gebietet“, retten heute meiner Ansicht nach die Ehre der Russisch-Orthodoxen Kirche. 

Sie standen vor der Entscheidung zwischen Ihren Prinzipien, die Sie in die Opposition geführt und schließlich ins Gefängnis gebracht haben, und dem nachvollziehbaren Wunsch, das zu vermeiden und Ihren Angehörigen Leid zu ersparen. Ist Ihnen die Wahl schwergefallen?

Es gibt ein großartiges Buch von Ljudmila Ulitzkaja. Es heißt Die Dichterin und ist dem Andenken an die Lyrikerin Natalja Gorbanewskaja gewidmet, mit der sie befreundet war. Gorbanewskaja nahm im August 1968 an der Demonstration der Sieben teil – sieben Menschen [sic!], die auf dem Roten Platz gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestierten. Ulitzkaja schreibt über sie: „Sie wollte Gott keinen Kummer machen. Sie war keine Heldin, sie war nicht auf Märtyrertum und Probleme aus. Sie hatte einfach keine andere Wahl.“ Das trifft es sehr genau. In solchen Zeiten, in denen Böses im Namen des „ganzen Volkes“, des „ganzen Landes“ getan wird, kann man nicht schweigen, sich abwenden, ignorieren – denn das würde bedeuten, dass all diese Taten auch in meinem Namen begangen werden. Deshalb gab es keine Wahl – Schweigen wäre für mich eine Form der Zustimmung gewesen. Und aus sicherer Entfernung zu reden, entspricht nicht meiner Vorstellung von der Verantwortung eines Politikers, der in der Öffentlichkeit steht. Aber Sie haben ganz recht damit, nach den Angehörigen zu fragen. Die Familien der politischen Gefangenen haben an dieser Last viel schwerer zu tragen als wir selbst. 

Mir ist es leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen

Haben Sie die Möglichkeit, die Gefängniskirche zu besuchen oder einen Geistlichen zu sprechen? Wie läuft das ab? Nehmen Sie an den Sakramenten teil?

In den beiden Straflagern, zwischen denen ich in Omsk hin- und her verlegt werde gibt es zwar Kirchen, aber als „böswilliger Regelverletzer“, der im internen Lagergefängnis eingesperrt ist, darf ich sie nicht aufsuchen – so wie ich mich generell nicht auf dem Gelände des Lagers bewegen und keinen Kontakt zu anderen Häftlingen aufnehmen darf. Deshalb ist es mir leider nicht möglich, den Gottesdienst zu besuchen. Wenn ich beichten und das Abendmahl empfangen will, muss ich einen schriftlichen Antrag beim Leiter der Kolonie stellen. Dann sucht mich ein Geistlicher in Begleitung von Mitarbeitern des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN auf und vollzieht die Sakramente – entweder direkt in der Zelle oder in einem Dienstgebäude, zum Beispiel in der Sanitätsabteilung. 
Nach dem Strafgesetzbuch haben Gefangene das Recht, einen Geistlichen ihrer Wahl kommen zu lassen, damit sie auch im Gefängnis die Möglichkeit haben, Verbindung zu ihrem Seelsorger zu halten. Das ist sehr wichtig, doch bisher habe ich diese Möglichkeit nicht nutzen können. Im Moskauer Gefängnis hat mich Vater Alexej Uminski regelmäßig besucht, und im Winter wurden die nötigen Verwaltungsmaßnahmen in Gang gesetzt, damit er hierher kommen kann. Aber um die Weihnachtszeit wurde er dann wegen seiner Antikriegshaltung des Amtes enthoben, und ich erhielt von der Bezirksverwaltung des FSIN eine Absage. Der Rat und die Unterstützung eines Seelsorgers sind für mich schon im normalen Alltag sehr wichtig, und umso mehr im Gefängnis. 

Können Sie in der Zelle beten? Und wie reagieren die Zellengenossen darauf? 

Ich bete täglich, in der Regel morgens und zur Nacht. Alle Gebete verrichte ich hier nur still für mich und nur in der Zelle. Seit meiner Verlegung nach Sibirien im letzten Frühherbst befinde ich mich permanent in Einzelhaft, deshalb stellt sich die Frage nach den Zellengenossen nicht.

Die innere Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen

Es ist immer wieder zu hören und zu lesen, Freiheit sei etwas Inneres, man könne sich auch im Gefängnis frei fühlen. Das klingt gut, aber stimmt es auch?

In gewissem Sinn stimmt es tatsächlich. Wie ich gehört – oder besser gesagt, in einem Brief gelesen – habe, ist kürzlich ein Sammelband mit Schlussworten politischer Gefangener erschienen. Sie wurden eingesperrt, weil sie sich in Russland öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen haben (Anm. der Redaktion: Es geht um den Band Golosa rossiiskogo soprotiwlenija, dt. Stimmen des russischen Widerstands). Und vielen fällt auf, dass sich diese Menschen, die im Gefängnis sitzen, viel freier und offener äußern als diejenigen, die einstweilen in Freiheit sind. So war es auch schon zu Sowjetzeiten: Die Dissidenten sagten vor Gericht Dinge, für die alle andern sofort ins Gefängnis gekommen wären, denn sie waren ja schon dort. Diese innere Freiheit, die Freiheit zu sagen, was du denkst, ist ungeheuer wichtig, und niemand kann sie uns nehmen. Aber die körperliche Unfreiheit in Raum und Zeit, die Tatsache, dass du nicht die Freiheit hast, bei deiner Familie zu sein, spürst du hier jeden Tag und jede Minute. Und das ist sehr belastend. 

Erleben Sie die Unfreiheit als Prüfung für Ihren Glauben?

Es wäre unlauter, wenn ich das vollkommen verneinen würde. Im Großen und Ganzen nein. Aber meine Gedanken und Gefühle haben sich über die letzten gut zwei Jahre gewandelt. Auch wenn ich weiß, dass alles Gottes Wille ist, wie im Buch des Propheten Jeremia (29,11) geschrieben steht, dass nur der Herr weiß, was er mit jedem von uns vorhat, und dass Kleinmut für einen Christen Sünde ist, so ist es nicht immer leicht, gegen die rein menschlichen Empfindungen der Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Schwermut anzukämpfen. Vor allem, wenn man die ganze Zeit völlig allein ist. Und man trägt seine Prüfung nicht immer mit der geschuldeten Demut.

Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat

Der Priester und Märtyrer Wassili Sokolow schrieb seinen Angehörigen 1922 aus dem Gefängnis: „Jedes Leiden gereicht dem Menschen und seiner unsterblichen Seele zum Vorteil.“ Glauben Sie, dass das, was Sie zurzeit durchmachen, gut für Ihre Seele ist?

Ich bin diesem Gedanken bei Menschen, die die Erfahrung der Gefangenschaft gemacht haben, häufig begegnet. Alexander Solschenizyn hat im Archipel GULAG geschrieben, er habe im Gefängnis seine „Seele großgezogen“ und es dafür gesegnet, dass es in seinem Leben gewesen ist. Im Moment kann ich Ihnen nicht antworten: „Ja, das ist es, was ich empfinde.“ Ich möchte gern glauben, dass alles, was im Leben mit uns geschieht, seinen Sinn hat. 

Haben Sie Zugang zu christlicher Literatur? Was lesen Sie gerade, was haben Sie in den beiden letzten Jahren gelesen?

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich in Freiheit wenig in der Heiligen Schrift gelesen habe. Aber während der Haft habe ich alle fünf Bücher Mose, die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und einige weitere Bücher der Bibel gelesen, aus dem Alten und Neuen Testament. Die Bergpredigt, die für mich den Kern des Christentums darstellt, habe ich immer wieder gelesen und lese sie weiterhin. Ich bin mit sieben Jahren Christ geworden. Damals bat ich meine Mutter darum, getauft zu werden. Das war Ende der 1980er Jahre, noch zur Zeit der Sowjetunion. Seither spielt der Glaube eine große Rolle in meinem Leben. Und es ist mir wichtig, jetzt, im fünften Jahrzehnt meines Lebens, bewusst und reflektiert die Bibel zu lesen und die Entscheidung, die ich im Alter von sieben Jahren getroffen habe, nochmals zu bekräftigen. 

Es gibt die russische Gefängnisregel: „Glaube nicht, fürchte dich nicht, bitte um nichts.“ Passt das zu einem gläubigen Menschen?

Im Verhältnis zu Gott natürlich nicht, in keinem dieser drei Punkte. Aber die Regel bezieht sich ja nicht auf das geistliche Leben der Gefangenen. Als praktischer Ratschlag für das Überleben im Gefängnis hat sie nichts an Aktualität verloren.

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Wladimir Kara-Mursa

Das Schicksal von Wladimir Kara-Mursa ist unter Russlands politischen Gefangenen bisher beispiellos: Die russische Staatsmacht hat ihn für 25 Jahre ins Gefängnis geschickt. Das ist die gesetzlich vorgesehene Höchststrafe – mehr, als jemals zuvor im postsowjetischen Russland gegen einen Oppositionellen verhängt wurde.1 Sogar Kara-Mursa selbst, ein erfahrener Oppositioneller und studierter Historiker, hatte nicht damit gerechnet. Wenige Tage vor seiner Verurteilung im April 2023 erklärte er vor Gericht: „Ich war mir sicher, dass mich nach zwei Jahrzehnten in der russischen Politik, nach allem, was ich gesehen und erlebt habe, nichts mehr überraschen könnte. Wie ich zugeben muss, habe ich mich getäuscht. Dass die Undurchsichtigkeit und die Missachtung der Verteidigung in meinem Prozess selbst die ,Prozesse‘ gegen sowjetische Dissidenten in den 1960er und 1970er Jahren übertreffen würde, hat mich doch überrascht. Ganz zu schweigen von der Härte der geforderten Strafe und dem Ausdruck ,Feind‘. Da sind wir nicht mehr in den 1970ern, sondern schon in den 1930ern.“2

Der russländische Staat betrachtet Kara-Mursa schon seit langem nicht als legitimen Gegner, sondern als Feind, den es zu zerstören gilt. Das kommt auch in der Anklage gegen ihn zum Ausdruck: Sie lautete nicht allein auf das Verbreiten von „Fake-News“ über das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine und auf die Zusammenarbeit mit einer „unerwünschten Organisation“, der Stiftung Freies Russland, sondern auf Hochverrat.3 Trotz allem hat Kara-Mursa sich ebenso hartnäckig gezeigt wie der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny. Seine politische Aktivität in Russland hat er selbst nach Moskaus Großangriff auf die Ukraine nicht eingestellt. Was hat ihn dazu angetrieben, und was steht hinter der grausamen Reaktion des Kreml?

Der Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa – Sohn einer Familie der russischen Intelligenzija, Journalist und politischer Aktivist – blieb auch nach dem Großangriff Russlands auf die Ukraine vom Februar 2022 im Land / Foto © Michał Siergiejevicz/wikimedia unter CC BY-SA 2.0

Kara-Mursa ist ein renommierter russischer Oppositioneller. Schon viele Vertreter der liberalen Opposition in Russland haben große Beharrlichkeit, Mut und Talent bewiesen. Auch die grundsätzliche Weigerung, Russland zu verlassen, verbindet Kara-Mursa mit anderen Oppositionellen wie Ilja Jaschin. Kara-Mursa hat dazu erklärt: „Ich glaube, dass ich nicht das Recht hätte, politisch aktiv zu sein, die Leute zum Handeln aufzurufen, wenn ich irgendwo anders in Sicherheit säße.“4 Was Kara-Mursa von seinen Weggefährten unterscheidet, sind seine ausgesprochen elitäre Herkunft sowie seine internationalen Verbindungen und Aktionen.

Die Familie Kara-Mursa führt ihre Herkunft bis auf den Mongolen-Herrscher Dschingis Khan zurück. Aber er gehört auch einer anderen Art von russischem Adel an, der Intelligenzija.5 Sein Vater Wladimir Kara-Mursa senior, in den 1990ern ein bekannter TV-Moderator, studierte bereits in vierter Generation an der Moskauer Staatsuniversität, dem heiligen Gral der russischen Hochschulbildung. Der ethnisch diverse Stammbaum der Familie – sie hat russische, jüdische, lettische und armenische Wurzeln6 – ist durch die zahlreichen Tragödien des sowjetischen Jahrhunderts mitgeformt worden, vom Gulag bis zum herrschenden Antisemitismus. 

Geboren in Moskau, aufgewachsen in London

Kara-Mursa wurde 1981 in Moskau geboren. Nach der Scheidung seiner Eltern ging er im Alter von 14 Jahren mit seiner Mutter nach London, kehrte jedoch immer wieder nach Russland zurück. Sein Geschichtsstudium in Cambridge schloss er Anfang der 2000er Jahre mit dem Master of Arts ab. Nach seiner Verurteilung bekundete Adam Tooze, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Historiker, bei dem Kara-Mursa in Cambridge studiert hatte, seine „Demut [...] angesichts dieses großartigen historischen Zielbewusstseins“ und seine Hochachtung vor Kara-Mursas „außergewöhnlichen Mut“.7 

Kara-Mursa strebte keine Laufbahn als Intellektueller an, auch wenn er 2011 ein kurzes Buch publiziert hat. Darin befasst er sich mit einem der wenigen Versuche einer moderaten Liberalisierung von oben, die es in der russischen Geschichte gab. Das Interesse an dieser Geschichte ist unter den jungen Aktivisten der liberalen Opposition nicht weit verbreitet. Doch Kara-Mursa beschäftigten mit Blick auf das Kabinett der konstitutionellen Demokraten (Kadetten) unter Nikolaus II., das nach der Revolution von 1905 für einige Monate regierte, wohl die historischen Parallelen:8 Der Zar habe die Liberalisierungs- und Demokratisierungsbestrebungen im Ansatz erstickt, „den Weg zu einer friedlichen Reform des Landes versperrt“ und damit weiteren Tragödien den Boden bereitet, schrieb Kara-Mursa. Die Analogien zum modernen Russland waren damals, 2011, ebenso offenkundig wie heute. Trotzdem zeugt sein Buch von einem unbeirrbaren Optimismus, was Russlands Zukunft angeht: „Das Leben ist stärker als der Tod“, lautet sein Fazit. Auch die bolschewistische Revolution sah er lediglich als vorübergehendes Hemmnis auf Russlands Weg hin zu der von ihm angestrebten Demokratie. 

Zwischen Politik und Journalismus

Im engen politischen Sinn war Kara-Mursa ausschließlich dem konservativen Flügel des russischen Liberalismus und dessen verschiedenen Organisationen verbunden: „Demokratische Wahl Russlands“, „Union der rechten Kräfte“ (SPS), „Solidarnost“ und „RPR-Parnas“.9 Boris Nemzow, der an all diesen Parteien führend beteiligt war, stellte ihn während seiner Zeit als Duma-Abgeordneter als Referenten ein und holte ihn so in die Politik. Dank der guten Beziehungen seines Vaters war Kara-Mursa von Kindheit an mit Nemzow bekannt und die beiden wurden gute Freunde. Kara-Mursa hatte verschiedene Funktionen in diesen Bewegungen inne, stellte sich jedoch nur einmal selbst als Kandidat zur Wahl – bei den Wahlen zur Staatsduma 2003 in einem Moskauer Wahlbezirk. Dort wurden massive „administrative Ressourcen“ gegen ihn eingesetzt und er kam – mit offiziell 8,59 % der Wählerstimmen – auf den zweiten Platz. Eine weitere Kandidatur, diesmal für die Regionalduma der Oblast Jaroslawl, ließen die Behörden unter Verweis auf seine doppelte Staatsbürgerschaft nicht zu.

Statt einer wissenschaftlichen oder politischen Karriere schlug Kara-Mursa schließlich eine Laufbahn als Journalist ein und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters. Wladimir Kara-Mursa senior war viele Jahre lang für NTW tätig gewesen – den „größten und erfolgreichsten privaten TV-Sender Russlands“, der damals dem Oligarchen und Medientycoon Wladimir Gussinski gehörte. 2001 wurde der Sender durchsucht und auf Linie gebracht – eine der ersten, entscheidenden Maßnahmen im Zuge der Übernahme der Medien durch Putin. Kara-Mursa senior wechselte zu dem russischen Auslandssender RTVi. 2004, einige Monate, nachdem er seine erste – und letzte – Wahl verloren hatte, fing auch sein Sohn dort an. Schon nach kurzer Zeit wurde ihm die schwierige und ehrenvolle Aufgabe angeboten, das neue RTVi-Büro in Washington aufzubauen und zu leiten.

Kara-Mursa hebt sich vom Gros der liberalen Oppositionellen Russlands ab, weil er viele und tiefgehende Verbindungen zu „den Angelsachsen“ hat, wie die russische Propaganda die USA und Großbritannien heute gern nennt: Er ist nicht nur russischer, sondern auch britischer Staatsbürger, hat einen Abschluss der Universität Cambridge, war Korrespondent verschiedener Nachrichtenmedien in Washington mit ständigem Wohnsitz in den USA, wo seine Frau und seine drei Kinder leben; und er war eng mit dem konservativen US-Senator John McCain befreundet, der ihn zu einem seiner Sargträger bestimmte.10 

Trotz seiner klar pro-westlichen Haltung, die er mit dem Mainstream des russischen Liberalismus teilt, erweckt Kara-Mursa nicht den Eindruck, übermäßig naiv gegenüber dem Westen zu sein. Das liegt vielleicht daran, dass er ihn gut kennt, anders als viele andere russische Oppositionelle vor ihrer notgedrungenen Emigration.11 Er stand auch nicht für eine Haltung, die das Ende des Kalten Krieges als unumschränkten Triumph des Westens sah. Die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene Ordnung betrachtet er als gescheitert. Zwar bezeichnet er die Vergrößerung der NATO als „durchschlagenden Erfolg“, da sie die Grenzen der freien Welt erweitert habe. Doch zugleich sagt er: „Der schwerste Fehler des Westens in den frühen 1990ern war, dass er nicht bereit für die Herausforderung war, ein demokratisches Russland zu integrieren.“12 Die mittel- und osteuropäischen Länder hätten in den frühen 1990ern erhebliche Demokratisierungsanreize von den europäischen und transatlantischen Institutionen erhalten, die russischen Liberalen hingegen nicht. 

Aktivist und Lobbyist für die Magnitski-Liste

Mit seinem Wohnsitz in Washington hatte Kara-Mursa beste Voraussetzungen, um als Lobbyist für Sanktionen gegen russische Amtsträger zu werben, die in Korruption oder Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren. Er trug entscheidend zur Verabschiedung der sogenannten Magnitski-Liste bei.

Die Idee, dass der Westen persönliche Sanktionen gegen die obersten Vertreter des Regimes verhängen und umsetzen sollte, stammt ursprünglich von Boris Nemzow. Den russischen Investigativjournalisten Irina Borogan und Andrej Soldatow zufolge brachte er sie Ende 2007 ins Spiel.13 Sein Motiv für diesen Schritt seid demnach die Verzweiflung angesichts der politischen Situation in Russland gewesen. Die Umsetzung erforderte langfristige Lobbyarbeit, die ganz offen durchgeführt wurde. Neben dem ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Michail Kassjanow und Nemzow selbst, die beide häufig in Washington waren, traf auch Kara-Mursa regelmäßig mit führenden Vertretern des US-Kongresses zusammen.

Die Magnitski-Liste wurde durch Bill Browder ermöglicht, einen Investor, der zum Vorkämpfer für die Verhängung von Sanktionen gegen russische Amtsträger wurde, nachdem er beim russischen Regime in Ungnade gefallen war. Der für Browders Fondsgesellschaft Hermitage Capital Management tätige Moskauer Steuerexperte Sergej Magnitski hatte den russischen Behörden vorgeworfen, den Fonds betrogen zu haben. Der Hintergrund des Falls Magnitski und vor allem Browders Rolle dabei sind bis heute umstritten.14 Außer Frage steht jedoch, dass Magnitski infolge seiner Nachforschungen ins Gefängnis kam und dort furchtbaren Bedingungen ausgesetzt war. Nachdem er erkrankte und nicht ärztlich behandelt wurde, starb er 2009 im Gefängnis. 

Die Magnitski-Liste wurde 2012 vom US-Kongress verabschiedet. Ursprünglich zielte sie nur auf die Personen, die als verantwortlich für Magnitskis Schicksal angesehen wurden. Später fand das Gesetz jedoch breitere Anwendung, sodass potenziell alle russischen Amtsträger betroffen waren – etwas, worauf Kara-Mursa gezielt hingearbeitet hatte. Alexej Nawalny lobte das Gesetz als „ausgezeichnet“, der Kreml reagierte zornig und nannte es „seltsam und barbarisch“.15 Er revanchierte sich mit einem Verbot der Adoption russischer Kinder durch US-Staatsbürger.16

Für Kara-Mursa selbst stand seine Tätigkeit als Journalist nicht im Widerspruch zu seiner aktiven Lobbyarbeit für Sanktionen: „Unter den Bedingungen eines autoritären Regimes [...] ist das weniger eine politische als eine staatsbürgerliche Betätigung“, erklärte er.17 Der Kreml sah dies allerdings anders. Er ließ ihm durch den russischen Botschafter in den USA ausrichten, dass er ihn „nicht mehr als Journalist“ betrachte. Sein Engagement kostete Kara-Mursa seinen Posten bei RTVi.

Wahrscheinlich hat es ihn auch fast das Leben gekostet: Lange vor dem Nowitschok-Angriff auf Nawalny in Sibirien wurde Kara-Mursa 2015 Opfer eines politisch motivierten Giftanschlags – einer der ersten dokumentierten Fälle dieser Art in Putins Russland. Und es blieb nicht bei dem einen Mal: 2017 erlitt Kara-Mursa erneut eine lebensbedrohliche Vergiftung. Er selbst schildert das so: 

„Innerhalb von Minuten wurde ich plötzlich krank [...] Ich konnte meinen Puls spüren, hatte Atemnot, schwitzte und verspürte Brechreiz. Ich ging auf die Toilette, kehrte dann zum Meeting zurück und lehnte mich gegen die Wand. Meine Kollegen legten mich aufs Sofa und riefen den Krankenwagen. In zehn bis fünfzehn Minuten war ich von einem völlig gesunden Menschen zum Todeskandidaten geworden.“18

Kara-Mursa kam ins Krankenhaus, fiel ins Koma und erholte sich wieder. Die russischen Behörden führten nie ernsthafte Ermittlungen zu dem Anschlag auf sein Leben durch. Eine gemeinsame Recherche des Investigativnetzwerks Bellingcat mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel und dem russischen Onlinemedium The Insider brachte ans Licht, dass Kara-Mursa von Mitgliedern des selben FSB-Teams beschattet worden war, das sehr wahrscheinlich auch den Giftanschlag auf Nawalny verübt hatte.19 

Klartext selbst hinter Gittern

In über zwanzig Jahren politischer Tätigkeit hat Kara-Mursa mehr als genug getan, um den Zorn des Kreml auf sich zu ziehen. Er gehört zu denen, die den Kampf gegen Putin auf die internationale Ebene gehoben und speziell in den USA vorangetrieben haben. Zugleich ist er auch einer derjenigen, die sich nicht allein auf Putin beschränkten, sondern auch die kleineren Rädchen im Getriebe ins Visier nahm. Ausgerechnet eines dieser „Rädchen“ sollte schließlich sein eigenes Schicksal besiegeln. Unter den Richtern, die ihn zu 25 Jahren Haft verurteilten, war auch Sergej Podoprigorow, der selbst auf der „Magnitski-Liste“ steht. Er war es, der Sergej Magnitski 2008 in Untersuchungshaft nehmen ließ.

„Ich liebe mein Land und glaube an unsere Menschen“, sagte Kara-Mursa in seinem Schlusswort vor Gericht / Foto © IMAGO / ITAR-TASS

25 Jahre in der winzigen, nur drei mal anderthalb Meter großen Zelle eines Hochsicherheitsgefängnisses sind eine furchtbar lange Zeit, besonders für jemanden wie Kara-Mursa mit angeschlagener Gesundheit.20 Trotzdem hat Kara-Mursa an einem überraschenden Ort Trost gefunden: In der russischen Geschichte. Sogar hinter Gittern spricht er weiter Klartext. In einer schriftlich zwischen zwei Gefängnissen geführten Debatte mit Alexej Nawalny schrieb er im September 2023: „Der politische Wandel kommt in Russland stets unerwartet“ – 1905, 1917 und 1991. Auch wenn die Demokratie dem Land bisher versagt blieb, vertraut Kara-Mursa darauf, dass die nächste Chance kommen wird: „Ich glaube, wir können es schaffen.“ Bei seinem Kampf gegen die Autokratie hat Kara-Mursa stark auf internationale Sanktionen gesetzt. Und Großbritannien, die EU und die USA haben tatsächlich Sanktionen verhängt, vor allem nach dem Großangriff auf die Ukraine. Nach dem Zusammenbruch der Oppositionspolitik bleibt ihm nur die Hoffnung, dass ein solches unerwartetes, dramatisches Ereignis Russland verändern wird – oder dass der Westen ihn rettet, vielleicht durch einen Gefangenenaustausch. Ein anderer Weg aus dem Gefängnis in Omsk, in das man ihn gebracht hat, ist nicht in Sicht.


1. Tatyana Stanovaya, Kara-Murza’s 25 Year Sentence: A New Precedent?, R-Politik, no. 8 (116) (25. April 2023): 21–26. 
2. Vladimir Kara-Murza, Vladimir Kara-Murza’s Final Statement to Russian Court, The Washington Post, 10. April 2023. 
3. ovd.info: Vladimira Kara-Murzu prigovorili k 25 godam kolonii iz-za publičnych vystuplenij c kritikoj vlastej
4. Vladimir Kara-Murza: "Ja ne mog molčatʹ po povodu Putina i ėtoj vojny"
5. Leonid Velechov: Potomok Čingischana. Pamjati Vladimira Kara-Murzy – staršego
6. Elena Gordon, My son, Putin’s prisoner, Prospect, 5. September 2023. 
7. Adam Tooze: Chartbook 208: „as a historian ...“ - the courage of Vladimir Kara-Murza
8. Kara-Murza V.V., Reformy ili revoljucija: K istorii popytki obrazovatʹ otvetstvennoe ministerstvo v I Gosudarstvennoj Dume, M.: Rossijskaja obʺedinennaja demokratičeskaja partija «JABLOKO», 2011. 
9. Interessanterweise ist Kara-Murza deswegen aber nicht mit dem anderen Zweig des russischen Liberalismus in Konflikt geraten: In den Danksagungen seines Buches wird dem Vorsitzenden der Partei Jabloko, Grigori Jawlinski, herzlich gedankt, und im Jahr 2021 hat Jawlinski ihn interviewt
10. Josh Meyer: McCain’s choice of Russian dissident as pallbearer is final dig at Putin, Trump, Politico, 8. August 2018. Siehe auch seine Hommage an den verstorbenen Senator: Wladimir Kara-Mursa: John McCain saw through Vladimir Putin better than anyone, The Washington Post, 27. August 2018. 
11. Siehe z. B. seine Analyse der Aufhebung des Jackson-Vanik-Gesetzes, die seiner Meinung nach durch "realpolitische" Erwägungen seitens der USA ermöglicht wurde, nicht nur durch Ideale. 
12. Oxana Schmies (ed.): NATO’s Enlargement and Russia: A Strategic Challenge in the Past and Future, Ibidem Verlag, 2021. 
13. Borogan and Soldatov, The Compatriots: The Brutal and Chaotic History of Russia’s Exiles, Emigrés, and Agents Abroad, 242–47. 
14. Bidder, Benjamin, The Case of Sergei Magnitsky Questions Cloud Story Behind U.S. Sanctions. Auf Deutsch: Wie wahr ist die Geschichte, auf der die US-Sanktionen gegen Russland beruhen?Der Spiegel, 26. November 2019. 
15. David M. Herszenhorn, Bill on Russia Trade Ties Sets Off New Acrimony, The New York Times, 8. Dezember 2012. 
16. Masha Lipman, What’s Behind the Russian Adoption Ban?, The New Yorker, 21. Dezember 2012. 
17. Natalija Rostova, Kara-Murza-mladšij govorit, čto uvolen iz-za «spiska Magnitskogo», Slon, 14. Juli 2012. 
18. Vladimir Kara-Murza Tailed by Members of FSB Squad Prior to Suspected Poisonings, Bellingcat, 11. Februar 2021. 
19. Ebd. 
20. Mark Trevelyan, Wife of jailed dissident Kara-Murza fears for his life in Siberian penal colony, Reuters, 15. November 2023. 
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