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Foltervideo: Einmaliger Störfall?

Ein Gefangener, der von mehreren Wärtern grausam gequält wird: Sie schlagen ihn, als er das Bewusstsein verliert, kippen sie ihm Wasser ins Gesicht. Dann geht die Folter weiter.

Das Video aus der Jaroslawler Haftkolonie IK-1, das die Novaya Gazeta vergangene Woche veröffentlicht hatte, löste bei vielen Entsetzen aus. Der Film ist von 2017, er zeigt den Häftling Jewgeni Makarow. Im selben Jaroslawler Gefängnis befanden sich auch zwei nach den Bolotnaja-Protesten Verurteilte. Sie hatten ebenfalls Foltervorwürfe erhoben.

Am Montag nach der Veröffentlichung waren bereits sechs Wärter verhaftet und 17 Mitarbeiter der Haftkolonie vom Dienst suspendiert worden. Unterdessen berichtet die Rechtsanwältin Irina Birjukowa, die der Novaya Gazeta die Aufzeichnung übergeben hatte, im Exilmedium Meduza von Morddrohungen. Sie hat Russland inzwischen verlassen. 

Auf Republic kommentiert Oleg Kaschin den Fall – und die Frage, ob nun alles besser wird im russischen Strafvollzug.

Source Republic

Das Video aus der Haftkolonie IK-1 in Jaroslawl ist ein Markstein der landesweiten Bürgerrechtsbewegung, ein technischer Durchbruch, der ganz von allein zum historischen Wendepunkt wird. Mit mündlichen und schriftlichen Zeugnissen über Gefängnisterror haben alle gelernt umzugehen, und das schon vor ziemlich langer Zeit. Der Föderale Dienst für Strafvollzug FSIN, die Staatsanwaltschaft, staatliche Menschenrechtsbeauftragte – alle haben Gewohnheiten und Reflexe entwickelt, haben feste Rollen inne. Und wenn von jener Seite der Gefängnismauer der soundsovielte schockierende Brief eintrifft, haben alle eine ungefähre Vorstellung davon, wem gegenüber sie sagen „Ach, wie schrecklich, was für eine Alptraum“ und wem gegenüber „Wir werden eine Überprüfung veranlassen“.
Die lautesten öffentlichen Beschwerden an den FSIN sind die Briefe von Nadeshda Tolokonnikowa und Ildar Dadin – und die haben, ehrlich gesagt, nur die Menschen beeindruckt, die es auch schon vorher waren. Doch die, die sich nicht beeindrucken lassen wollten, konnten einfach sagen, dass sich hier politische Aktivisten beschweren, die sich mutwillig fragwürdig benommen hätten und jetzt wahrscheinlich irgendwie übertreiben und herumeiern. 

Eine prinzipiell neue Situation

Diese Industrie des Laberns und medialen Verwässerns der schockierendsten Berichte, von denen in anderen Ländern jeder für sich genommen mindestens zu einer Regierungskrise führen würde – diese Industrie ist in Russland unwahrscheinlich hoch entwickelt.

Die Folter von Jaroslawl jedoch lässt diese Gewohnheiten zerbrechen und schafft eine prinzipiell neue Situation.

Statt schriftlicher oder mündlicher Zeugnisse von Gefangenen, Anwälten oder Bürgerrechtlern findet sich hier ein ausführliches Video, das nicht nur einfach Entsetzen und Grauen hervorruft, sondern auf dem man die Namen und Gesichter der Folterer erkennen kann. Man kann sie sogar in Sozialen Medien finden und feststellen, dass vor unseren Augen ganz normale russische Durchschnittsbürger mit Schulterstücken zu sehen sind, die genau das gleiche Leben führen wie Millionen andere – mit Familien, Ferien, Angelspaß, blöden Witzen, Glückwünschen; in einer mit allen Wassern gewaschenen Gesellschaft kann Schock-Realismus auch nur genau so funktionieren: Wenn das Verbrechen auf Video in guter Qualität aufgenommen und festgehalten wird.

Tolokonnikowa und Dadin haben über das Gefängnisgrauen geschrieben – und wenn schon nicht nur für Gleichgesinnte, so doch für Menschen, die in demselben Informationsraum wie sie existieren, grob gesagt dort, wo Nawalnys Blog schwerer wiegt und überzeugender ist als die Fernsehsendung Wremja.
Die Videoaufzeichnung funktioniert anders, sie teilt das Publikum nicht, sie ist an alle gerichtet und spricht eine Sprache, die alle verstehen.

Die Videoaufzeichnung spricht eine Sprache, die alle verstehen

Ein solches Video lässt sich nicht mehr mit einem „Wir werden eine Überprüfung veranlassen“ abtun, und die Kommunikationsabteilung schreibt nichts von wegen „Die Fakten sind bisher nicht bestätigt“ – denn alle haben diese Fakten gesehen, was gibt’s da also zu deuteln.

Doch zu sagen, das Video von Jaroslawl teile das gesellschaftliche Leben in ein Vorher und Nachher, oder es versetze dem System zumindest auf dem Gebiet des Strafvollzugs einen vernichtenden Schlag, oder der Skandal von Jaroslawl bilde den Anfang eines großen Stoffes von historischem Ausmaß, und der werde zu etwas Wichtigem und Schicksalträchtigen führen – jede derartige Prognose klänge gutmenschenhaft und naiv.

Jaroslawl – ein Einzelfall?

Das Video aus Jaroslawl verschiebt den Erzählstrang eines „So eindeutig ist das alles nicht“ weg vom eigentlichen Fakt des Verbrechens, den man nicht bestreiten kann, hin zu der Frage: Wie exemplarisch ist dieses Video? Dies kann man aber mit einem Video allein weder beweisen noch widerlegen. Siebzehn Sadisten in einer beliebig herausgepickten Anstalt – diese Nachricht ist für das System zwar nicht besonders gut, aber insgesamt doch verdaulich.
Ein lokaler Auswuchs, ein einmaliger Störfall, ein Exzess. Ein Strafverfahren ist eingeleitet, die Menschen aus dem Video wurden wohl schon von ihren Posten entfernt, und irgendjemand wurde wohl schon verhaftet. Der Skandal von Jaroslawl hat ein kleines Schlaglicht auf ein riesiges dunkles Feld geworfen. Und alles auf dem restlichen – nicht beleuchteten – Teil des Feldes, das wird nun der Diskussionsgegenstand sein zum Thema „So eindeutig ist das alles nicht“.

Die selektive Rechtsanwendung ist für das russische System zwar nicht die Grundlage, aber zumindest das wichtigste und wesentlichste Prinzip. Sie erlaubt dem System, Gesetze nur zu eigenem Nutzen anzuwenden und dabei unangreifbar zu bleiben.

Jewgeni Makarow, der auf dem Video gefoltert wird, widerfährt nun durch die Strafe für seine Peiniger Gerechtigkeit. Das ist für russische Verhältnisse eine sehr gute Nachricht. Doch Gerechtigkeit, die wie ein Sechser im Lotto daherkommt, wird niemals zu einer guten Nachricht für alle. Das Video aus der Jaroslawler Haftkolonie IK-1 wird nur die Leben der Gefilmten in ein Vorher und ein Nachher einteilen. Sonst keine. 

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Gerechtigkeit (Sprawedliwost)

Gegen die breite Ablehnung in der Bevölkerung und gegen die Stimmen aller anderen Parteien hat die Regierungspartei Einiges Russland am 19. Juli 2018 in der Staatsduma in erster Lesung eine Gesetzesänderung über die Erhöhung des Rentenalters befürwortet. 
In der Sache geht es um die Frage, ob das Rentenalter ab 2019 bis sukzessiv 2034 bei Frauen von 55 auf 63 Jahre und bei Männern von 60 auf 65 Jahre heraufgesetzt werden soll.1 Mehr als 80 Prozent der Bürger äußern sich entschieden gegen diese Pläne2, die sie als äußerst ungerecht empfinden. 
Gerade in der Klage über Ungerechtigkeit scheinen die in einer Gesellschaft geltenden Gerechtigkeitsvorstellungen auf. Und so werfen auch die Reaktionen auf die Erhöhung des Rentenalters ein Schlaglicht darauf, was in der russischen Bevölkerung als gerecht und was als ungerecht gilt.


In Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa

Eine besonders starke Empörung ruft der Umstand hervor, dass die geplanten Reformen auf einer grundlegenden Ebene die Vorstellung von einem gerechten (Tausch-)Verhältnis zwischen Staat und Bürger verletzten. Dieses beruht auf der Idee, dass die Bürger für die Allgemeinheit Leistung erbringen und dafür eine Gegenleistung in Form von Lohn, gesellschaftlicher Anerkennung und Sicherheit im Alter erhalten.
Das Gefühl, es mit Ungerechtigkeit zu tun zu haben, wird unter anderem durch die Art und Weise, wie die Gesetzesreform in Gang gebracht wurde, zusätzlich verstärkt. Einerseits entstand der Eindruck, sie sollte im Schatten der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land unauffällig durchgewinkt werden, andererseits nährte dieser zeitliche Zusammenfall den Verdacht, dass mit der Rentenreform die enormen Kosten der Weltmeisterschaft kompensiert werden sollen. 

Verantwortlich für das zweifelhafte Vorgehen, das vielen als Betrug am Volk gilt, wird die bürokratische Elite gemacht, die traditionell immer der Korruption und des Egoismus verdächtig ist.

Der Bürokratie als Ursache für Ungerechtigkeit steht in der Wahrnehmung der „gerechte Herrscher“ als Hüter der Gerechtigkeit gegenüber. Eben nach diesem Muster hat sich Putin bisher aus der Debatte über die Rentenreform herausgehalten, um eventuell in einem späteren Stadium mit einer Abmilderung der Pläne auftreten zu können. Immerhin steht er im Wort, denn 2005 hat er sich klar gegen die Erhöhung des Rentenalters ausgesprochen.3

Soziale versus politische Gerechtigkeit

Hier nur kurz skizziert, scheinen in diesem Fall einige Besonderheiten des Gerechtigkeitsverständnisses in Russland auf. Zunächst ist auffällig, dass es meist Verletzungen der sozialen Gerechtigkeit sind, die von weiten Teilen der Bevölkerung wahrgenommen werden und zu Protesten führen können. Moralische Gerechtigkeit als Anforderung an das politische Führungspersonal spielt eine wichtige Rolle, und auffällig ist die herausgehobene Stellung des Staatsführers als höchste gerechtigkeitsschaffende Instanz. 
Diese Prioritäten im Verständnis von Gerechtigkeit haben ihre Wurzeln in der politischen Ordnung der Sowjetunion, in der rechtsschaffende Institutionen schwach ausgeprägt und nicht unabhängig waren. Herrschaft durfte nicht in Frage gestellt werden und blieb immer stark personalisiert. Der soziale Status und das materielle Wohlergehen des Einzelnen in der Gesellschaft hingen ausschließlich von der Obrigkeit ab.4

Gleichzeitig bedeutet dies nicht, dass Prinzipien der politischen Gerechtigkeit (wie Gewissens- und Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Kontrolle der Macht) sowie der juridischen Gerechtigkeit (wie Forderung nach unabhängigen Rechtsorgangen und Gleichheit aller vor dem Gesetz) keine Rolle spielen würden. Alle russischen Reformer seit den Dekabristen waren diesen Ideen verpflichtet, und alle politischen Führungen bis heute sehen sich unter dem Zwang, diesen Forderungen wenigstens formal zu entsprechen.

In den verschiedensten konkreten politischen Situationen hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass im Zweifelsfall die soziale Gerechtigkeit gegen die politische ausgespielt wird. Der Mensch lebt zwar „nicht vom Brot allein“5, aber ohne Brot lässt sich auch nicht leben. 
Die Begründung der Ordnung unter Putin folgt dieser Logik, indem permanent der Zusammenbruch der Staatlichkeit in den 1990er Jahren als negatives Gegenbild zur Gegenwart beschworen wird. Es heißt, hätte Putin nicht Anfang der 2000er Jahre das Ruder herumgerissen, so gäbe es heute keinen Staat mehr und damit weder elementare persönliche noch jegliche soziale Sicherheit, die Gesellschaft wäre in einen Urzustand ohne Gerechtigkeit verfallen. Wo es nichts mehr gäbe, ließe sich auch nichts verteilen.
Angesichts dieser elementaren Bedrohung scheint die Sicherung der Ordnung die erste Aufgabe des „gerechten Herrschers“, und dem hat sich im Zweifel alles andere unterzuordnen. Bürger, die in dieser Situation die Einhaltung von Prinzipien politischer Gerechtigkeit einfordern, haben es schwer und sehen sich leicht dem Vorwurf ausgesetzt, die Gesellschaft spalten, den Staat schwächen und die Einheit zerstören zu wollen. Sicherheit ist an die Stelle von Gerechtigkeit getreten.6

Prawda – Wahrheit und Gerechtigkeit

Auch die Frage, ob sich nun das Verständnis von Gerechtigkeit in Russland von dem in Europa unterscheidet, führt letztlich zur Idealisierung von Einheit als idealem, gottgegebenen Zustand. Diese wurzelt in der engen Verbindung von kirchlicher und weltlicher Gewalt, einer harmonischen Einheit, der sogenannten „Symphonia“, die aus der byzantinischen Tradition ins Moskowiter Zarentum übernommen wurde. Die Vorstellungen von einer göttlichen Ordnung des Guten werden mit dem Begriff Prawda beschrieben, der „Wahrheit“ und zugleich „Gerechtigkeit“ bedeutet.7 Der andere Begriff für Gerechtigkeit, Sprawedliwost, bezieht sich ursprünglich eher auf die moralische Integrität des Individuums.8 Heute werden die Begriffe oft synonym benutzt, eine deutliche Abgrenzung der Semantiken fällt schwer. 
Es ist aber zu betonen, dass die doppelte Bedeutung des Worts Prawda als Wahrheit und Gerechtigkeit spätestens seit dem 19. Jahrhundert zum Merkmal der kulturellen Identität Russlands hochstilisiert wurde und bis heute dazu dient, ein spezifisches, russisches Verständnis von Gerechtigkeit zu konstatieren. Dazu gehört auch, dass der Gedanke der Gerechtigkeit kaum mit den Vorstellungen von einem autonomen Recht, von Gesetz, Rechtsgleichheit und Rechtsstaat in Verbindung gebracht wird. Auf dieser Grundlage lässt sich auf populistische Weise ein Gegensatz zum „Westen“ konstruieren, der vergeblich versuche mit dem Rechtsstaat Gerechtigkeit zu verwirklichen, während Russland schon aus Tradition über ein höheres Verständnis von Gerechtigkeit verfüge.

Derartigen Diskursen haftet Beliebigkeit an, oder sie folgen einer bestimmten Intention. Sehr viel greifbarer und „wahrer“ sind dagegen Forderungen nach Gerechtigkeit in konkreten gesellschaftlichen Konflikten. In den vergangenen Jahren waren es meist Verstöße gegen die soziale Gerechtigkeit, die vermochten, die Menschen zu Protesten zu mobilisieren; ob bei der Monetarisierung von Sozialleistungen oder dem Abriss von Plattenbauten, es kommt zu einer explosiven Situation, wenn den Bürgern etwas genommen werden soll, was ihnen verdienter- und damit gerechterweise zusteht. Kritisches Potential und Dynamik entstehen außerdem, wenn die Bürger den Eindruck gewinnen, von einer moralisch zweifelhaften Führung betrogen und für dumm verkauft zu werden. So provozierten allzu offensichtliche Wahlmanipulationen die landesweiten politischen Demonstrationen im Dezember 2011.


1Duma.gov.ru: Odobren v pervom čtenii proekt zakona o soveršenstvovanii pensionnoj sistemy
2.Levada.ru: Pensionnaja reforma
3.Am 27. September 2005 im Rahmen der alljährlichen im Fernsehen übertragenen Fragestunde Primaja linia.
4.vgl. Brewer, Aljona/Lenkewitz, Anna/Plaggenborg, Stefan (Hrsg., 2014): „Gerechte Herrschaft“ im Russland der Neuzeit: Dokumente, München
5.Bibelwort, hier: Bezug auf Titel eines bekannten Romans von Valdimir Dudincev, der in der sowjetischen Tauwetterperiode 1956 erschien und die Wirtschaftsbürokratie kritisierte.
6.vgl. Kuhr-Korolev, Corinna: Gerechtigkeit und Herrschaft. Von der Sowjetunion zum neuen Russland, Paderborn 2015.
7.Der erste Gesetzeskodex der Kiewer Rus aus dem 11. Jahrhundert hieß Russkaja Prawda.
8.vgl. Haardt, Alexander u. a.: Kulturen der Gerechtigkeit: Normative Diskurse im Transfer zwischen Westeuropa und Russland, unveröffentlichter Antrag beim BMBF auf Förderung eines Verbundprojektes

 

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