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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Voucher-Privatisierung

Tschubais ist an allem schuld“, so lautet das geflügelte Wort, das den ehemaligen Vize-Ministerpräsidenten Russlands zum Sündenbock für die Fehlentwicklungen der 1990er Jahre macht. 1992 legte Tschubais den Grundstein für seinen Spitznamen „Vater des russischen Kapitalismus“, indem er die größte Privatisierungsreform der Weltgeschichte in Gang setzte: Der überwiegende Großteil der staatlichen Unternehmen wurde mittels Voucher in Privatbesitz überführt. Es war die wichtigste Marktreform im Russland der frühen 1990er Jahre. 
Durch die Privatisierung sollte die siechende sowjetische Planwirtschaft in eine florierende Marktwirtschaft umgewandelt werden. Die Architekten der Reform beabsichtigten, die Wirtschaft vom Einfluss des Staates und somit von der Politik zu befreien. Die Reform selbst war jedoch im Kern sehr politisch. Ihr Ziel war es, eine breite Klasse von Kapitaleigentümern zu schaffen, eine neue russische Bourgeoisie. Stattdessen ermöglichte sie aber den Aufstieg von Oligarchen.

Am 5. Juni 1992 unterschrieb der damalige russische Präsident Boris Jelzin die Neufassung des Gesetzes „Über die Privatisierung der staatlichen und kommunalen Unternehmen in der Russischen Föderation“. Die eigentliche Privatisierung begann aber am 14. August desselben Jahres mit Jelzins Ukas „Über das Inkrafttreten des Systems von Privatisierungsbons in der Russischen Föderation“. Die daraufhin emittierten Bons wurden als Voucher bezeichnet, in Anlehnung an die Bezeichnung der emittierten Wertpapiere bei der tschechischen Privatisierungsreform.

Jeder Voucher hatte einen Nennwert von 10.000 Rubel, nach damaligem Umrechnungskurs etwas mehr als 30 US-Dollar.1 Dieser Wert ergab sich daraus, dass das zu privatisierende Volkseigentum, das zunächst 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts umfasste, auf 1,5 Billionen Rubel geschätzt wurde. 1,5 Billionen Rubel geteilt durch die Einwohnerzahl von 150 Millionen ergab 10.000 Rubel. In Wirklichkeit waren die einzelnen Voucher jedoch viel weniger Wert, viele Russen verkauften sie für rund sieben US-Dollar. Es befanden sich viel mehr Voucher im Umlauf als geplant und die Anzahl der begehrten Unternehmen war begrenzt, wodurch der Wert von einzelnen Vouchern de facto sank.2

Entpolitisierung der Wirtschaft

Die Reform wurde initiiert, nachdem der Prozess der schleichenden Privatisierung bereits mehrere Jahre im Gange war. Die Direktoren der sowjetischen Unternehmen hatten auch im jungen Russland Kontrolle über selbige behalten und waren mit asset stripping beschäftigt, mit der Ausschlachtung von Anlagen. Mit einer geregelten Privatisierung sollte dieser Prozess nun gestoppt werden.

Die Wirtschaftsberater der russischen Regierung, unter anderem die Harvard-Ökonomen Maxim Boycko, Andrei Shleifer und Robert Vishny, erhofften sich auch eine Zurückdrängung des Einflusses sowjetischer Nomenklatura auf die Unternehmen. Die neuen Eigentümer sollten transparente und effiziente Managementstrukturen schaffen und planwirtschaftliche Dinosaurier tilgen. Laut Boycko und seinen Kollegen waren die „Politiker“ das Hauptproblem der russischen Wirtschaft, der politische Einfluss auf die Wirtschaft sollte auf ein Minimum gesenkt werden.

Demokratische und gerechte Reform?

Die Vorstellungen über die Reform waren zunächst sehr idealistisch. Der damalige Präsident Boris Jelzin stellte sie als demokratisch und gerecht dar. Demnach sollte jeder Bürger in Besitz eines Vouchers kommen, mit dem er an einer beliebigen Privatisierungsauktion teilnehmen konnte. In der Theorie hätte schon ein einziger Voucher in einen Anteil eines Unternehmens umgewandelt werden können, in der Praxis führten aber erst zehntausende Voucher zum Erwerb von nennenswerten Unternehmensanteilen.

Während der Reform waren viele Kleinunternehmer und Gauner, die im Volksmund ironisch als „Investoren“ bezeichnet wurden, damit beschäftigt, Voucher aufzukaufen. Zu solchen Kleinunternehmern gehörte unter anderem auch der spätere Oligarch Oleg Deripaska. Die Armut grassierte und viele Menschen wollten ihre Voucher schnell zu Geld machen, was zu einem massiven Preisrückgang führte. Alternativ gab es die Möglichkeit, Voucher einem Investitionsfonds (Tschekowy Inwestizionny Fond) zu verkaufen, der als ein institutionalisierter Investor während der Privatisierungs-Auktionen auftrat. Es gab ungefähr 600 solcher Fonds. Anatoli Tschubais, der für die Durchführung der Reform verantwortlich war, legte zum Beispiel seinen Voucher im Ersten Voucher-Fonds (Perwy Wautscherny Fond) an. Dieser Fond half ausländischen Holdings, sich in russische Unternehmen einzukaufen.

Neue Schicht Kapitaleigentümer

Geschäfte mit Vouchern und Aktien führten zur Etablierung einer neuen Schicht Kapitaleigentümer. Zu solchen gehörten beispielsweise die als „Spekulanten“ verfemten Händler, die Preisunterschiede innerhalb bestimmter Zeiträume ausnutzten und mit dem Voucher-Handel Gewinne erwirtschafteten.  Die sogenannten „Manager“ (russ. uprawljajuschtschie) wandelten Voucher demgegenüber in Unternehmens- oder Investitionsfonds-Aktien um und verkauften sie anschließend gewinnbringend.3

Anders als von Tschubais und Jelzin geplant, machte die Reform aber nur einen kleinen Teil der russischen Gesellschaft zu Kapitaleigentümern. Die Privatisierung sollte vor allem deshalb „gerecht“ sein, weil alle Bürger voraussetzungslos und nach dem Gleichheitsprinzip jeweils einen Voucher bekamen. Der Verlauf und die Konsequenzen der Reform brachen aber den Gerechtigkeitssinn der Russen, wie Tschubais 2013 selbstkritisch eingestand.4

One Size Doesn't Fit All

Die Wirtschaftsberater der Regierung hatten es abgelehnt, die Reform an Werte, kulturelle Praktiken und den Wissensstand der russischen Gesellschaft anzupassen. Die russischen Bürger würden genauso auf Anreize reagieren und ihre Interessen genauso verfolgen, wie die Bürger in Ländern mit längerer Tradition des Kapitalismus, so die These des Harvard-Ökonoms Maxim Boycko.5

Dies war vor allem deshalb ein Fehlschluss, weil es an institutionellen Instrumenten mangelte, um kriminelle Praktiken bei der Durchführung der Reform zu verhindern. Hinzu kamen gravierende politische Fehler bei der Ausgestaltung der Reform. Schließlich fehlten dem Großteil der russischen Gesellschaft Kenntnisse von marktwirtschaftlichen Mechanismen. Aus diesen Gründen war es für Manager und Oligarchen ein leichtes Spiel, Kontrolle über den Privatisierungsprozess zu erlangen und zu behalten. Sie konnten den Verlauf der Privatisierung nach ihren Interessen gestalten und schafften es bis 1996 18 Prozent der Aktien zu erwerben und weitere 40 Prozent der Aktien im Streubesitz zu kontrollieren.6 Vor allem aus diesem Grund gilt die Voucher-Privatisierung im nationalkonservativen Diskurs als „Raub am Volk“.


1.vgl. Gustafson, Thane (1999): Capitalism Russian-Style, S.41
vgl. o. A. (2002): Theft of the Century. Privatization and the Looting of Russia. An Interview with Paul Klebnikov. In: The Multinational Monitor 23 (1 & 2), Januar/Februar
3.vgl. Baškirova, Valerija; Aleksandr Solov'jov; Vladislav Dorofeev (2012): Geroi 90-ch. Ljudi i den'gi. Novejšaja istorija kapitalizma v Rossii, S. 98
4.vgl. Aven, Pjotr; Al'fred Koch (2013): Revoljucija Gajdara. Istorija reform 90-ch iz pervych ruk
5.vgl. Appel, Hilary (2000): The Ideological Determinants of Liberal Economic Reform: The Case of Privatization. In: World Politics Vol. 52, Nr. 4 (July), S. 520-549, hier S. 538
6.vgl. Aslund, Anders (2007): Russia's Capitalist Revolution: Why Reform Succeeded and Democracy Failed
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