Zehn Jahre ist der belarussische Fotograf Siarhej Leskiec durch seine Heimat gereist, hat recherchiert und fotografiert. So ist ein besonderes Projekt entstanden, das sich mit dem archaischen Heilritus des Flüsterns beschäftigt. Das Projekt und das daraus entstandene Buch haben in Belarus und in der belarussischen Exil-Gemeinschaft sehr viel Aufmerksamkeit erfahren. So ist sogar ein Theaterstück auf Grundlage von Leskiec' Recherchen entstanden, das von den Kupalaucy auf die Bühne gebracht wurde, dem Ensemble, das von den ehemaligen Angestellten des Janka Kupala-Theaters nach ihrer Entlassung infolge der Proteste 2020 gegründet worden war. Das Stück feierte in Stuttgart im November 2022 Premiere.
Wir haben Siarhej Leskiec zu seiner Arbeit und zur Tradition des Flüsterns befragt und zeigen dazu eine Auswahl an Bildern aus dem Projekt.
dekoder: Ihr neuestes Fotoprojekt trägt den Titel Flüstern, auf Belarussisch Schept. Worum geht es in dem Projekt?
Siarhej Leskiec: Dieses Projekt beschäftigt sich mit der sehr alten und verschlossenen Tradition der Heilkunde. Es geht um die Menschen, die dieses Wissen pflegen. Dem Glauben nach besitzen sie alle die höhere göttliche Gabe, Menschen mit Worten und Handlungen zu heilen. Als wäre es nichts Übernatürliches, spricht der Heiler im Flüsterton geheimnisvolle Worte und heilt damit Menschen und auch Haustiere, zum Beispiel Kühe und Pferde. Die Gabe wird immer an die übernächste Generation weitergegeben, von der Großmutter auf die Enkelin, vom Großvater auf den Enkel. Diese Tradition ist fast ohne Unterbrechung aus der Tiefe der Jahrhunderte und Jahrtausende bis zu uns heute durchgedrungen. Diese Tradition ist nie abgebrochen, trotz des jahrtausendelangen Drucks seitens der christlichen Kirche, der Inquisition, des sowjetischen Atheismus und der Repressionen. Das hat mich inspiriert, denn viele bei uns haben schon von dieser Tradition gehört oder sind ihr begegnet, aber noch niemand hat je diese Menschen fotografiert.
Der Fotoapparat war für mich eine Art Eintrittskarte in diese Welt des Geheimnisvollen und Mystischen. Dank der Kamera bekam ich Zugang zu dieser verschwindenden Welt meiner Ahnen. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wovon ich vorher nur in anthropologischen und ethnografischen Büchern gelesen hatte.
Wie sind Sie auf diese Art des Heilens aufmerksam geworden?
Auf die eine oder andere Weise stammen wir Belarussen alle aus dem Dorf und sind dort tief verwurzelt, das ist wie ein genetisches Gedächtnis. Selbst in der Bezeichnung liegt eine tiefere Bedeutung. Babka nennen wir unsere eigene Großmutter, aber auch die Heilerin. Jeder kann eine Geschichte davon erzählen. Wenn zum Beispiel ein kleines Kind schlecht schläft, nachts schreit und die ganze Zeit weint, dann gibt man ihm ein bisschen von dem Wasser zu trinken, das der Heiler mit seinen Worten beflüstert hat. Häufiger behandeln sie Ausrenkungen, Zerrungen, Infektionskrankheiten (Ausschlag, Wundrose), oder sie versuchen, bei Unfruchtbarkeit zu helfen.
Ich selbst hatte schon als Kind davon gehört und gewusst, aber es nie mit eigenen Augen gesehen. Als ich dann zum ersten Mal eine solche Frau besuchte, war ich so aufgeregt, dass ich gar nicht fotografieren konnte. Ich brauchte einige Jahre für die Vorbereitung und das Eintauchen in dieses Thema. Ich habe unheimlich viel gelesen, bin herumgefahren und habe gesucht, wieder und wieder. Und eines Tages gelang es mir dann schließlich, mit dieser ersten Heilerin zu sprechen und ein Porträt von ihr zu machen. Ich wollte eigentlich schon nach Hause fahren, als zu dieser Heilerin Patienten zur Behandlung kamen und mir erlaubten, dabei zu sein. Stellen Sie sich vor, zwei Jahre sitzt du nur da und liest Bücher, und dann kommt der Moment, in dem man dir erlaubt, das zu sehen, was für andere tabu ist. Das war auf eine Art, so seltsam das klingen mag, meine Initiation. Danach war alles einfacher, ich traf öfter die richtigen Leute, und alle waren bereit zu Gesprächen. Denn ich war nicht mehr nur ein neugieriger Mensch, sondern trug schon etwas von ihrem Wissen in mir.
Was passiert beim Flüstern genau?
Wie sie heilen, kann man jemandem, der in der rationalen Welt lebt, nur schwer erklären. Es folgt keiner Logik und auch nicht dem Verständnis der modernen Medizin und Wissenschaft. Die Heiler leben bis heute in einer mystisch-poetischen Welt, einer Welt der Märchen und Legenden, wie unsere Vorfahren sie kannten. Für sie basiert jedes Verständnis der Umwelt auf Empfindungen und Gefühlen.
Früher wurde die Tradition stets an die übernächste Generation weitergegeben, vom Großvater zum Enkel. Der Nachfolger musste der Älteste oder der Jüngste sein, nie der Mittlere. Er musste ein gutes Gedächtnis und einen anständigen Charakter haben, Mitgefühl und den Wunsch, anderen zu helfen. Der zukünftige Heiler wurde von früher Jugend an ausgebildet, ab dem Alter von sieben bis zwölf Jahren. In diesem Alter hat der Mensch ein kristallklares Gedächtnis, was er hört, merkt er sich sein Leben lang. Erst kurz vor dem Tod übergab der alte Heiler dann seine Gabe, ohne die das gesamte Wissen nutzlos wäre. Es gab auch eine andere Kategorie von Heilern, die ihre Gabe nicht durch Erbfolge bekamen, sondern von der Natur. Sie waren mächtiger. Diese Menschen erhielten ihre heilenden Kräfte und Worte im Schlaf, von höheren Mächten.
Wie heilen sie also? Meistens spricht der Heiler flüsternd seine Gebete über Wasser, das er aus dem Brunnen geholt hat. Danach muss der Kranke dieses Wasser trinken oder sein Gesicht damit waschen. Einige Heiler sprechen die Worte auch direkt über dem Patienten.
Es gibt zahlreiche und sehr vielfältige Methoden. Hautausschlag zum Beispiel wird mit Kondenswasser von der Fensterscheibe eingerieben. Dabei werden natürlich die notwendigen Worte geflüstert. Wundrose, eine Infektionskrankheit, wird in der Regel so behandelt: Man legt ein rotes Tuch auf die betroffene Hautstelle und rollt aus Leinenfasern kleine Kügelchen, die man beim Sprechen der Gebete über diesem roten Tuch verbrennt. Bei einigen Krankheiten werden zur Behandlung auch Kräuter eingesetzt. Sie werden entweder als Tee getrunken, in Form einer Tinktur verabreicht oder angezündet, sodass der Qualm die Kranken umhüllt.
Ist diese Tradition in ganz Belarus verbreitet?
Die Tradition verschwindet so schnell wie das Dorf. Schon heute sind diese Bräuche nicht mehr überall gleich stark verbreitet. Im Westen von Belarus zum Beispiel, wo die katholische Bevölkerung überwiegt, gibt es sehr wenige Träger dieser Tradition. Der Katholizismus hat dort gut „gewirkt“. Stärker ist die Heilkunde in den Grenzregionen erhalten, zum Beispiel auf dem Gebiet Palessiens. Dort trifft man noch Heiler an. Früher gab es fast in jedem größeren Dorf eine solche Person.
In den Städten gibt es heute wie überall auf der Welt Vertreter des modernen Neoschamanismus und Heilpraktiker, doch das hat mit unserer Tradition überhaupt nichts gemein.
Wo liegen die Wurzeln dieser Heilpraxis, und wie konnte sie die Zeit der Sowjetunion überdauern?
Man kann heute kaum mehr sagen, in welcher Zeit der Ursprung liegt. Wissenschaftler verorten ihn in der ursprünglichen Magie des Wortes, sehen in dieser Heilmethode eine der ersten Formen der Folklore. Der Ursprung liegt also in der Zeit, in der das Wort selbst entstand und seine sozusagen magischen Kräfte erlangte. Als der Mensch begann, seine Umgebung zu benennen und zu bezeichnen.
In dieser oder anderer Form gab es in allen Völkern in einem bestimmten Entwicklungsstadium Heiler, also Menschen, die dabei halfen, mentale, geistige und körperliche Gesundheit zu erlangen. Während zum Beispiel in Europa die Inquisition diese Menschen weitgehend umgebracht hat, war in unserer Region die Kirche milder eingestellt. Dadurch konnte die Tradition über die tausendjährige Herrschaft des Christentums hinweg bewahrt werden. Als die sowjetische Ideologie an die Macht kam, setzte sich der Druck fort. Die Heiler waren denselben Repressionen wie die Priester ausgesetzt, wurden nach Sibirien deportiert.
Das führte aber nicht zum Abbruch der Tradition, sie fand einfach unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt und wurde geheim gehalten. Die Behandlungen wurden nachts vorgenommen, damit niemand davon erfuhr. Mir ist zu Ohren gekommen, dass beispielsweise ein Kommunist heimlich zu einer Heilerin ging, um einen giftigen Schlangenbiss behandeln zu lassen, da es nicht möglich war, da kein Krankenhaus in Reichweite war. Das war für beide Seiten gefährlich. Die Heilerin konnte verhaftet werden, der Kommunist konnte seinen Status und seine Arbeit verlieren.
Viele Nachkommen weigerten sich, die göttliche Gabe zu übernehmen. Denn natürlich war die damalige Jugend gegenüber solchen Kenntnissen eher skeptisch. Auch das hat zum langsamen Verschwinden der Tradition beigetragen.
Alles in allem hat die Sowjetmacht ein System errichtet, das zum katastrophalen Verschwinden des belarussischen Dorfes führte. Während 1970 noch 75 Prozent der belarussischen Bevölkerung in Dörfern lebte, sind es heute nur noch 25 Prozent, und auch diese Zahl sinkt weiterhin.
Wie sind Sie fotografisch an das Projekt herangegangen?
Das mag vielleicht unglaublich klingen, aber die visuelle Sprache hat sich während der Arbeit am Projekt von selbst entwickelt. Ich wollte im Mittelformat arbeiten und habe zu Beginn noch Buntfilm verwendet. Die Digitalkamera hielt ich hier für überflüssig. Doch nach einigen Expeditionen waren die Filme einfach leer geblieben, ohne ein einziges Bild. Magie also …
Beim nächsten Mal verwendete ich Schwarzweißfilm und entwickelte die Negative selbst, mit allen chemischen Prozessen. Das kam mir wie eine besondere Alchimie vor, ein Spiel mit den Sinnen. Meine fotografische Magie hält die Magie der Heilerinnen fest. Das Licht in den Dorfhäusern ist zudem oft sehr schwach, sodass die Arbeit mit Schwarzweißfilm einfacher war. Es gab auch einen lustigen Vorfall: Verwandte hatten mich gebeten, etwas besprochenes Wasser mitzubringen. Auf dem Heimweg verwechselte ich vor Müdigkeit die Flaschen, füllte meinen Verwandten meine Chemikalien zum Film-Entwickeln ein und verwendete das Heilwasser dann zum Entwickeln der Negative. So liegen die geheimnisvollen Gebete nun als unsichtbare Schicht über den Porträtfotos.
Wie reagieren die Ausstellungsbesucher in Belarus auf das Projekt?
Die Reaktion der Belarussen hat mich schlichtweg schockiert. Ein solches Maß an Aufmerksamkeit bin ich nicht gewohnt. Die Buchveröffentlichung war für mich ein Abenteuer. Ich bin ja kein Schriftsteller, sondern habe einfach meine Eindrücke des Gehörten und Gesehenen auf Papier festgehalten. Zehn Jahre Reisen, Recherchen, Entdeckungen. Die gesamte Auflage des Buchs war innerhalb von sechs Monaten ausverkauft.
Auch die Ausstellung sorgte für viele erfreuliche Momente. Wir mussten fünf Lesungen machen, weil immer wieder Leute in der Galerie anriefen und nachfragten. Wir mussten sogar Voranmeldungen aufnehmen, weil nicht genug Platz für alle Interessierten war. Die Ausstellung wurde drei Mal verlängert, sie war letztlich drei Monate lang zu sehen. Doch auch nach Ende der Ausstellung rufen die Leute noch in der Galerie an und wünschen sich weitere Lesungen.
Das ist aber alles gar nicht so sehr mein Verdienst, sondern vielmehr das meiner Heldinnen, ihres Schicksals, ihrer Bestimmung. Manche Leute lasen das Buch und kamen dann in die Ausstellung, um die Porträts zu betrachten, bei anderen war es umgekehrt, sie kauften das Buch nach der Ausstellung. Hier kommt wieder das genetische Gedächtnis ins Spiel, viele hatten von den Heilerinnen gehört, manche hatten welche in der Verwandtschaft, aber niemand kannte die Geheimnisse der Tradition. Mein Buch und die Ausstellung haben Einblick in die vergessene und verschwindende mystische Welt der belarussischen Heiltradition eröffnet. Wahrscheinlich war das der Grund für den Erfolg.
Das Frauenkreuz und die Flüsterin Babka Fedora. Jedes Jahr werden an dem Kreuz Stoffe und Ruschniki geopfert. Nach einem Jahr werden sie verbrannt und neue aufgehängt. Dies ist ein Heil- und Opferritual, das dafür sorgen soll, dass das ganze Dorf von schrecklichen Krankheiten verschont bleibt / Foto © Siarhej Leskiec
links: Eines der Heilungsrituale besteht darin, durch eine Baum- oder Tierhöhle zu klettern, eine Höhle, die an der Grenze zwischen Wald und Feld gegraben wurde / rechts: Wandas Großmutter stammte aus einem alten Hexengeschlecht. Doch ihre Mutter gab diese Tradition auf und praktizierte nur noch Heilung. Ihre Tochter führt die Tradition ihrer Mutter im Alter von 92 Jahren fort / Fotos © Siarhej Leskiec
Holzglut in einer Tasse. Durch die Glut wird Wasser gefiltert oder ein in der Kirche gesegnetes Kraut wird in die Glut geworfen, mit dem Rauch wird die kranke Person geräuchert / Foto © Siarhej Leskiec
Elenas Großmutter flüstert Zaubersprüche. Sie trägt mehrere Kreuze und Amulette auf der Brust, die ihrer Meinung nach ihre Heilkraft verstärken / Foto © Siarhej Leskiec
Brotopfer für ein Erntejahr (Pilze, Beeren). Eine der Heilerinnen zeigt, was sie tut. Auf einem Tuch bringt sie ein Stück Brot dar und legt es auf eine Lichtung / Foto © Siarhej Leskiec
links: Großmutter Anna lebt in Podlasie (was seit 1945 zu Polen gehört), sieht sich aber als orthodoxe Belarussin. Die Heilworte, so sagt sie, seien ihr von den verstorbenen Heiligen Kuzma und Demjan beigebracht worden / rechts: Heilerin mit neun unterschiedlichen Ähren. Es gehört zu ihrer Familientradition, auf Kupalle neun unterschiedliche Ähren zu sammeln und sie in der Kirche zu weihen. Sie helfen ihr bei der Heilung von Kranken / Fotos © Siarhej Leskiec
Papier mit Beschwörungsformeln. In verschiedenen Traditionen werden sie verbrannt und geräuchert, oder sie werden in Wasser eingeweicht und das Wasser dann getrunken, womit der Mensch die Worte in sich aufnehmen soll / Foto © Siarhej Leskiec
Laut Legende ist der Sumpf vom Teufel erschaffen worden, der die Samen des Lebens aus dem Mund Gottes nahm, woraufhin diese zu wachsen begannen und der Teufel sie ausspucken musste. Deswegen ist der Sumpf also das Gegenteil von Frieden und Harmonie – ursprüngliches Chaos. Dorthin verbannen die Heilerinnen alle Krankheiten. Dort wohnt nach ihrer Vorstellung der Teufel und dort haben Krankheiten ihren Ursprung / Foto © Siarhej Leskiec
Direkt am Haus der Flüsterin Elena befindet sich der Dedowa Gora, der Berg der Ahnen, wo die Einheimischen seit jeher Kupalle feiern. Wissenschaftler meinen, dass ein Ort mit solch einem Namen in der Vergangenheit ein heidnischer Tempel gewesen sei / Foto © Siarhej Leskiec
links: Mütterchen Elena zeigt die Kräuter, die sie zum Heilen verwendet / rechts: Eine der wenigen Heilerinnen, die - so wird es überliefert - Epilepsie bei Kindern heilen konnte / Fotos © Siarhej Leskiec
Der Wald ist seit Jahrtausenden Nahrungsgeber und Lebensraum der Belarussen. Deswegen kommt er so oft in Märchen, Bylinas und Beschwörungen vor / Foto © Siarhej Leskiec
Die Buchstaben der Heiligen Drei Könige gelten in der Heiltradition als Talisman. Kreide gilt als heiliges Attribut und kann zur Heilung und zum Hexenaustreiben verwendet werden / Foto © Siarhej Leskiec
links: „Die andere Welt ist nicht darstellbar oder beschreibbar, sondern ist ein Spiegelbild unserer eigenen.“ / rechts: Mütterchen Elena – Gott, so erzählt sie, sei ihr im Traum erschienen und habe ihr Worte gegeben, um Menschen und Tiere zu heilen / Fotos © Siarhej Leskiec
Fotos: Siarhej Leskiec
Bildredaktion: Andy Heller
Übersetzung: Tina Wünschmann
Veröffentlicht am 03.01.2023