„Die bestialischen Comics sind eine tödliche Gefahr für die geistige und physische Gesundheit der Nation“ – diese Meinung stammt nicht aus der Zeit der UdSSR, in der die westliche Kultur oft per se gebrandmarkt wurde. Sie wurde 2002 von einer Teilnehmerin der Gesprächsrunde über das Thema Comics im Schulunterricht geäußert, die von der Zeitschrift Narodnoje obrasowanije organisiert wurde. Comics führen zu kriminellem Verhalten, sexueller Perversion, Diskreditierung klassischer Literatur und zur Ersetzung realer Fakten durch gefälschte, argumentierte eine Teilnehmerin.1 Auch wenn diese Stimme in der zeitgenössischen russischen Kultur eher eine Nebenrolle spielt, spiegelt sie doch Vorurteile gegenüber der westlichen Comic-Kultur wider, die in der Sowjetunion weit verbreitet waren. Auch heute erschweren diese Vorurteile eine Entwicklung der Comicszene in Russland.
Nur wegen Tim und Struppi, so besagt die Legende, sei in der Sowjetunion ein totales Comic-Verbot erlassen worden – nachdem der belgische Zeichner Hergé in seinem Comic-Heft Tim im Lande der Sowjets (1930) den Kommunismus und die sowjetische Realität humoristisch kritisiert hatte. Einer anderen weit verbreiteten Theorie nach wurden Comics in der Sowjetunion allgemein als feindliches, staatszersetzendes, vor allem aber als US-amerikanisches Phänomen diskreditiert. Sie seien Pseudo-Literatur für den hohlen kapitalistischen Verstand, der Bilder brauche, um Inhalten zu folgen, so der Tenor.2
Propaganda und Kinderliteratur
Desungeachtet war die sowjetische Kultur voll mit Bildern, Karikaturen und Comicstrips. Sie erzählten auch Geschichten: in der frühen Sowjetzeit zu Propagandazwecken für die kaum alphabetisierte Bevölkerung, später dann zu erzieherischen Zwecken für Kinder. Diese beiden Pole – Propaganda und Kinderliteratur – bestimmten auch über das Ende der Sowjetunion hinaus die Wahrnehmung von Comics im heutigen Russland.
Durch die Perestroika wurden auch Comics aus ihrem Nischendasein in die Öffentlichkeit geholt. Das in der UdSSR herrschende Verlagsmonopol wurde aufgehoben, wodurch jeder ungehindert publizieren durfte. Nun konnte nach Herzenslust mit der Kadrierung der einzelnen Bilder gearbeitet werden, mit Sprechblasen und ihren verschiedenen inhaltsvermittelnden Formen, mit lautmalerischen Effekten wie „Zack! Uff! Bam!“ und mit der Verschmelzung von Text und Bild zu einer ästhetischen Einheit.
Mursilka vs. Spiderman
Die sowjetische Direktive für Kinderbücher und -zeitschriften, die eine positive Grundstimmung, Partei-Werte, Kollektivismus, Optimismus und Heimatliebe propagierte, war hinfällig geworden.3 Die stets hilfsbereiten und freundlichen Helden aus Zeitschriften wie Mursilka (seit 1924) oder Wesjolyje kartinki (dt. Lustige Bilder, seit 1956) wichen Ende der 1980er Jahre ersten Reprints von Mickey Mouse, Spiderman oder Batman. Sowjetische Bildergeschichten für Kinder, wurden weitgehend abgelöst von westlichen und asiatischen Comics für alle Altersgruppen.4
Eine eigenständige russische Comic-Industrie entwickelte sich jedoch nur schleppend. Einige wenige Verlage und Studios, darunter das Moskauer Comic-Studio KOM, Mucha in Ufa und Tema in Nowosibirsk, widmeten sich ausschließlich russischen Comics. Sie konnten sich jedoch wegen der mangelnden Nachfrage nicht lange halten. Spätestens die Finanzkrise 1998 setzte ihren Aktivitäten ein Ende. Bis dahin waren Comics hauptsächlich als Ein- bis Vierseiter in Zeitschriften oder im Samisdat erschienen. Künstlerisch orientierte Comics fanden sich im Moscow Art Magazine, das sich wie viele andere Zeitungen und Zeitschriften nach westlichem Vorbild eine Comic-Rubrik zugelegt hatte. Einige Künstler wie Ilja Kitup nutzten Mitte der 1990er Jahre den bis dahin ungekannten freien Zugang zu Kopiergeräten, um eine Do-it-yourself-Ästhetik zu erzeugen. Kitup kommentierte treffend, dass sein im Eigenverlag erschienenes Kitup’s Own Propeller Comic Monthly anderswo als Underground gelten würde, nur nicht in Russland, wo der Mainstream fehlt.5
Zufluchtsort Internet
Um die Jahrtausendwende waren Comics in Russland vor allem im Internet zu finden. Für viele russische Comiczeichner war (und ist) dies oftmals die einzige Publikationsmöglichkeit überhaupt. Der ehemalige KOM-Künstler Andrej Ajoschin (aka Tzratzk) begründete 1999 die Website Komiksoljot – ein umfangreicher Internet-Fundus russischer Comics seit der Perestroika. Seit 2009 existieren die Chroniki Tschedrika, die sich eher als comic-theoretisches Web-Journal verstehen. Weit verbreitet ist die sogenannte Scanlation: Scannen und Übersetzen (engl. translation) von Comics. Ungeachtet der Urheberrechtsverletzungen war dies lange Zeit die einzige Möglichkeit, um Zugang zu seltenen oder älteren Comics zu bekommen.6
Comics als allgemein anerkannte Kunstform
Erste Plattformen für Austausch, Geschäftsanbahnung und auch Aus- und Weiterbildung tauchten erst Anfang der 2000er Jahre auf. 2002 gründete Pawel Suchich (aka HeeHoos) – eine der Gallionsfiguren der russischen Comicszene – in Moskau das erste russische Comic-Festival KomMissija. 2007 folgte das Festival Boomfest in Sankt Petersburg, das Mitglieder der Gruppe Spb. Nouvelles Graphiques initiierten. HeeHoos, der als Jugendlicher nach Dänemark emigrierte und dort mit Comics in Kontakt kam, ging es vor allem darum, Comiczeichner aus den GUS-Ländern zusammenzubringen, um überhaupt eine Comicszene ins Leben zu rufen.7 Auch die 2001 gegründete Gilde der Comic-Verleger (GIK) hatte ein ähnliches Ziel. So konnten größere Netzwerke entstehen. Mit Dimitri Jakowlews Verlag Boomkniga, hervorgegangen aus dem Boomfest, wurde schließlich eine Institution begründet, die russische Graphic Novels verlegt und auch Werke internationaler Autoren wie Mawil, Uli Lust oder Joe Sacco auf Russisch herausbringt. Sie alle haben sich auf die Fahnen geschrieben, Comics als allgemein anerkannte Kunstform in Russland zu etablieren.
Doch das Vorurteil, dass Comics lediglich etwas für Kinder seien, hält sich hartnäckig. In der Gesprächsrunde Comics im Schulunterricht8 attestierten Lehrer, Kinderpsychologen, Literaturkritiker und Verleger den Comics einen positiven Einfluss auf die Lerngeschwindigkeit. Sie hoben hervor, dass Schüler sich Lerninhalte deutlich besser merken können, wenn sie über Bild und Text gleichermaßen vermittelt werden. Sie versuchten zudem, Schluss mit den sowjetischen Stereotypen zu machen, Comics seien lediglich ein Propagandamittel für Gewalt und Sex. Doch der Einsatz eines solch bekannten Werks wie Art Spiegelmans Maus über die traumatischen Erlebnisse seiner Eltern während der Shoah in Polen wäre in Russland nach wie vor undenkbar, obwohl das Werk in zahlreichen Ländern Schullektüre ist. Stattdessen konnte Maus 2015 wegen des Hakenkreuzes auf dem Cover nur unter dem Ladentisch verkauft werden.9
Zwischen Professionalisierung und staatlicher Angst
In den letzten Jahren hat sich die Ausbildungssituation für angehende Comic-Künstler deutlich verbessert. Mittlerweile gibt es an der privaten Moskauer Universität für Industrie und Finanzen Synergy einen Comic-Studiengang, und die Russische Staatliche Jugendbibliothek hat ein Comic-Zentrum eingerichtet. Auch einige Buchhandlungen, beispielsweise Chook and Geek in Moskau, haben sich ausschließlich auf Comics spezialisiert.
Mit dem Aufkommen von Comics für ein explizit nicht kindliches Publikum haben sich sowohl die Comics als auch die Leserschaft verändert. Neben klassischen Romanen wie zum Beispiel Anna Karenina von Leo Tolstoi erscheinen mittlerweile auch reflexive autobiographische Sujets als Comics. Zu den bekanntesten Beispielen zählen die künstlerische und persönliche Selbstfindung von HeeHoos sowie der Künstlerinnen Anna Sutschowka (aka Lumbricus Terrestris), Jelena Ushinowa/Aljona Kamyschewskaja.
Zudem haben sich neue, spezifisch russische Genres entwickelt, wie zum Beispiel die dokumentarisch-journalistische Graphic Reportage. Deren Hauptvertreterin Victoria Lomasko macht in ihren gesellschaftskritischen Arbeiten Anleihen bei den frühsowjetischen Foto-Essays. Dies sind zwar nicht mehr Comics im klassischen Sinn, doch es zeigt sich, wie alte sowjetische Formate eigenständige grafisch-erzählerische Formen hervorbringen können. Diese reportageartigen Arbeiten finden sich allerdings vornehmlich im Internet oder werden im Ausland publiziert – nicht zuletzt aus Angst der Verleger vor Repressionen.
1.Zit. nach Alaniz, José (2010): Komiks. Comic Art in Russia, Jackson, MS, S. 110. Der Beitrag von Natalia Markowa wurde wegen seiner radikalen und aggressiven Position nicht veröffentlicht. Diese Rhetorik lässt vermuten, dass Markova eine der Gutachterinnen der Anklage im Prozess gegen die Organisatoren der Ausstellung Achtung, Religion! von 2003–2005 war, in dem eine Gutachterin gleichen Namens mit einer deckungsgleichen Rhetorik die Gegenwartskunst als der russischen Kultur fremdes Phänomen bezeichnete.
2.Vgl. Alaniz, S. 69
3.Vgl. ebd., 90.
5.Zit. nach Alaniz, 99.
8.Siehe Maksimova, Svetlana (2002): Komiks v obrazovanii: est’ li pol’za ot dela?, in Narodnoe obrazovanie 9/1322, 131-135