Am 3. März 1918 schied Russland aus dem Großen Krieg aus, wie der Erste Weltkrieg damals genannt wurde. Der Krieg, in dem Russland an der Seite der Alliierten gegen die Mittelmächte – vor allem gegen Deutschland – seit August 1914 gekämpft hatte, überforderte das Land in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht. Und er ist einer der Auslöser der revolutionären Ereignisse 1917.
Seit der Februarrevolution war die Friedensfrage von entscheidender Bedeutung. Die Provisorische Regierung sagte den Alliierten zu, nicht aus dem Krieg auszuscheiden. Diese Entscheidung spaltete die Gesellschaft und führte zu einer Regierungskrise.
Die Forderung nach Frieden war der wichtigste Programmpunkt der Bolschewiki, die seit dem Oktoberumsturz an der Macht waren. Tatsächlich war das Dekret über den Frieden das erste der neuen bolschewistischen Regierung. Es war gleich am Tag nach der Machtübernahme verabschiedet worden. Ende Dezember trafen sich die Vertreter der Bolschewiki und der Mittelmächte in Brest-Litowsk, um über die Friedensbedingungen zu verhandeln. Die Forderungen der Bolschewiki nach einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen waren jedoch unannehmbar für alle Beteiligten. Und so mündeten die Verhandlungen, die mehr als zwei Monate andauerten, in ein Abkommen, wonach Russland mehr als ein Viertel seines europäischen Territoriums verlor – und damit 60 Millionen Menschen, große Industriebetriebe und landwirtschaftliche Flächen.
War es ein taktischer Zug der bolschewistischen Regierung? Ein Selbstmord der Revolution? Ein Triumph der deutschen Armee oder eine gewaltige geschichtliche Tragödie?
Zum 100. Jahrestag des Friedensvertrags von Brest-Litowsk bringt dekoder in Kooperation mit dem Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin historische Debatten-Ausschnitte: Kontroverse Meinungsstücke, die in russischen und deutschen Medien in den ersten Tage nach der Vertragsunterzeichnung erschienen sind.
Prawda: Ein unausweichlicher taktischer Zug
In der Prawda, dem zentralen Organ der Bolschewiki, begründet der führende Parteifunktionär Karl Lander die Notwendigkeit, den schmählichen Friedensvertrag zu unterzeichnen. Es sei ein taktischer Zug, dem eine Offensive folgen soll:
Wir schließen diesen Vertrag, weil wir die Pflicht haben, den Feind [die deutsche Bourgeoisie] richtig einzuschätzen. [...] Der Vertrag ist ein unvermeidbarer taktischer Schritt, [...], den die Interessen einer echten Klassenpolitik erfordern.
erschienen am 5. März 1918, Nr. 41 (267)
Nowaja Shisn: Selbstmord der Revolution
Diese offizielle Position der Bolschewiki kritisiert Nikolaj Suchanow in der Nowaya Shisn und meint, dass der Frieden mit Deutschland der Sowjetmacht im Gegenteil keine Atempause verschaffe:
Lenin und seine Gefährten beziehen sich in ihrer Arbeit als Desorganisatoren auf die Notwendigkeit einer „Atempause“ für die Revolution, um danach den Kampf wieder aufzunehmen. In Wahrheit ist dieses Argument ungeheuer naiv und unaufrichtig. Lenin geht davon aus, dass seine Berliner Kontrahenten, im Wissen um seine Absichten, ihm eine „Atempause“ gönnen und ihm gestatten werden, Waffen gegen sie zu schmieden. […] Nein, jede Atempause bedeutet den Tod. Nicht nur durch die deutsche Faust, sondern auch durch den Weltimperialismus.
Ленин и его соратники, в своей дезорганизаторской работе, ссылаются на необходимость «передышки» для революции, чтобы потом возобновить борьбу. Наивность или неискренность этого аргумента, по истине, превышают всякое вероятие. Ленин полагает, что его берлинские контрагенты, зная его намерения, действительно дадут ему «передышку» и действительно позволят добровольно выковать оружие против себя. […] Нет, всякая передышка есть смерть. Не только от немецкого кулака, но и от мирового империализма.
erschienen in Petrograd am 5. März 1918, Nr. 34 (248)
Wetschernjaja Sarja: Russland ohne Verhandlung erschossen
Auch die Zeitung Wetschernjaja Sarja (dt. „Abendrot“), die von den Menschewiki in Samara herausgeben wird, kritisiert Lenins Regierung für die Unterzeichnung des Friedensvertrags:
Russland, ungehorsam gegenüber dem Rat der Volkskommissare, wurde in Brest ohne Gerichtsverfahren erschossen. Allerdings ist die Erschießung noch nicht erfolgt, bisher wurde nur ein Todesurteil ohne Gerichtsverfahren unterzeichnet und genehmigt. Aber Russland war schließlich gar nicht in Brest, es wurde in Abwesenheit mit stummer Beteiligung zum Tode verurteilt, in Anwesenheit mehrerer ihm völlig unbekannter Personen, die Lenin jedoch wohl bekannt waren und die verräterisch ihre Hand nach dem Judasbrief ausgestreckt haben. Wer hat diesen abscheulichen Alptraum in eine reale Tatsache verwandelt? Wer hat diesen gemeinen Verrat, diese feige Heimtücke begangen? Sowjetrussland? Das stimmt nicht. Die große Mehrheit, eine überwältigende Anzahl der bolschewistischen Räte – und in den gegenwärtigen Räten sind die Bolschewiki fast ausschließlich in der Mehrheit – hat sich scharf gegen die Unterzeichnung des Friedens und gegen Lenin vorauseilenden Gehorsam ausgesprochen.
Россия, неповинующаяся совету народных комиссаров, расстреляна в Бресте без суда. Расстрел, правда, еще не совершен, подписан и утвержден без суда только смертный приговор. Но ведь России не было в Бресте, ее заочно приговорили к казни при безмолвном участии и в присутствии нескольких, совершенно ей неизвестных, но зато хорошо известных Ленину, лиц, предательски приложивших руку к иудиной грамоте. Кто претворил этот гнусный кошмар в реальный факт? Кто совершил эту подлую измену, это трусливое вероломство? Советская Россия? Неправда. Огромное большинство, подавляющее количество большевистских советов, – а в нынешних советах почти сплошь преобладают большевики, – резко высказались против подписания мира и против ленинской услужливой расторопности.
erschienen am 4. März 1918, Nr. 40
Nasch Wek: Allumfassende Verzweiflung
Die liberale Zeitung Nasch Wek (dt. „Unser Jahrhundert“), die der Partei der Kadetten nahe stand, kritisiert das Abkommen genauso und meint, dass der Kampf gegen Deutschland noch nicht zu Ende ist:
Der große Kampf auf der Welt geht weiter, und noch ist Deutschland nicht überall Sieger.
Как чуждо нам всем то ощущение облегчения, которое должна была вызвать весть о мире! Наряду с отчаянием, охватывающим всех, любящих родную страну, при мысли о грядущих судьбах России, отдаваемой на порабощение Германии, царит еще и полная неопределенность того, что нам привезет делегация, каковы подлинные условия мирного трактата, продиктованного победителями беззащитной России. [...] Положение, созданное брестским миром, неприемлемо для страны, не отказавшейся от идеи государства, и Россия не может примириться с брестским договором. [...]
Великая мировая борьба продолжается, и Германия еще не является победительницей везде и всюду
erschienen in Petrograd am 5. März 1918, Nr. 40 (64)
Zeitung der 10. Armee: Sonntagsgeschenk
Die deutsche Zeitung der 10. Armee, die täglich in dem von deutschen Truppen besetzten Wilna erschien, ist begeistert vom Friedensvertrag und der Reichsvergrößerung, was ausschließlich der deutschen Armee zu verdanken sei:
erschienen am 5. März 1918, Nr. 509, 3. Jahrgang
Vossische Zeitung: Östliche Kriegszielpolitik vorläufig erledigt
Georg Bernhard, der deutsche Publizist und Chefredakteur der Vossischen Zeitung, die damals als eines der wichtigsten liberalen Blätter Berlins gilt, meint, mit dem Friedensvertrag handle es sich um eine Momentaufnahme. Und er nimmt die Möglichkeit eines erneuten Treffens der Verbündeten Russland, Frankreich und England vorweg – was knapp zwei Jahrzehnte später während des Zweiten Weltkriegs Wirklichkeit wird:
Die einzelnen Kriegsschauplätze stehen nicht nur militärisch in Verbindung, sondern sind auch politisch nicht gesondert zu betrachten. […] Der Krieg im Osten ist nun erledigt und damit vorläufig auch die von Deutschland betriebene östliche Kriegszielpolitik. Nun aber verlangen wir, dass man wenigstens nach dem Westen eine Friedenspolitik auf der Grundlage eines tieferen Erschaffens deutscher Lebensnotwendigkeiten treibt.
erschienen am 4. März 1918, Montags-Ausgabe Nr. 145
Berliner Tageblatt: Sicherungsfrieden statt Verständigungsfrieden
Der deutsche Journalist Josef Schwab meint im Berliner Tageblatt, das damals eine der auflagenstärksten deutschen Zeitungen war, der Vertrag von Brest-Litowsk könne zur Grundlage für eine dauerhafte Friedensordnung im Osten werden:
erschienen am 6. März 1918, Wochen-Ausgabe für Ausland und Übersee, Nr. 10, VII. Jahrgang
Vorwärts: Gewaltige geschichtliche Tragödie
Die Parteizeitung der SPD Vorwärts kritisiert das Abkommen als Gewaltfrieden, der die Nationen im Gefühle tödlicher Feindschaft voneinander trenne:
erschienen am 6. März 1918, Nr. 65, 35. Jahrgang
Volksstimme: Der Schwertfriede
Noch schärfere Kritik am Abkommen, aber auch ernste Besorgnis über die langfristigen Folgen äußert die sozialdemokratische Volksstimme aus Magdeburg:
erschienen am 5. März 1918, Nr. 54, 29. Jahrgang
zusammengestellt von Sofia Artemova & Maria Rupp