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Endlich: Die Fußball–WM in Russland wird am 14. Juni 2018 feierlich eröffnet, das Gastgeberland stellt sich in der Hauptstadt Moskau vor. Doch bevor das Eröffnungsspiel beginnen kann, wird die Flagge der Russischen Föderation auf dem Feld präsentiert. Langsam färbt sich auch die russische Fankurve in den Farben Weiß, Blau und Rot. Der mächtige Anfangsakkord der Hymne der Russischen Föderation ertönt. Und während die russischen Fans einstimmig die erste Zeile – „Russland, unser geheiligter Staat“ – anstimmen, werden die Zuhörer unbewusst Zeugen einer musikalischen Zeitreise: Das klangmächtige Laudato im Stadion verknüpft den gegenwärtigen Nationalstolz mit dem schwierigen Verhältnis zur eigenen sowjetischen Vergangenheit.
Was heute die Stadien erfüllt, ertönte im Jahr 2000 zum ersten Mal im Kremlpalast – als neue Hymne der Russischen Föderation. Neu ist sie aber nur bedingt: Die majestätische Hymne in C-Dur mit dem markant punktierten Rhythmus komponierte Alexander Alexandrow bereits in den 1940er Jahren. Sie diente über 50 Jahre lang als Hymne der UdSSR. Untermalt mit den Worten des Schriftstellers Sergej Michalkow besang sie die „unzerbrechliche Union freier Republiken“ und die Partei Lenins, die das sowjetische Volk „zum Triumph des Kommunismus führt“.
Der Wiedereinzug der Hymne in das Reservoir russischer Staatssymbole war eine der ersten Amtshandlungen des frischgekürten Präsidenten Putin. Mit dieser akustischen Rolle rückwärts setzte Wladimir Putin eines der ersten Signale seiner Amtszeit. Die sowjetische Vergangenheit betrachtete er nicht länger als aufzuarbeitende, abgeschlossene Epoche, sondern als historisches Erbe und sinnstiftendes Element für die Herrschaftsinszenierung in der Russländischen Föderation der Gegenwart. Damit untermauerte Putin einen neuen Kurs: Nach den wilden 1990ern unter Boris Jelzin sollte eine neue, alte Ära der Stabilität und Größe angestrebt werden.
Die 1990er Jahre klangen noch ganz anders. Zu Beginn des Jahrzehnts – als die Auflösung der „sicheren Festung der Völkerfreundschaft“ (UdSSR) denkbar wurde – standen die Erbverwalter des Imperiums in Moskau und Leningrad vor einem handfesten Problem: Die Russische Sowjetrepublik (RSFSR) war die einzige Nation der Sowjetunion gewesen, der es im Vielvölkergebilde neben der übergeordneten Sowjethymne an einer eigenen mangelte. Als „Großer Bruder“ der Völkerfamilie und unbestrittener primus inter pares war es den Staatslenkern in Moskau bisher nicht nötig erschienen, eine eigene Staatssymbolik für Russland zu propagieren. 1990 trat dann das Patriotische Lied, eine lang vergessene Komposition Michail Glinkas (1804–1857), der als Ahnherr der russischen Musik gilt, in Erscheinung.
Während einer Sitzung des Obersten Sowjets der RSFSR spielte ein Blasorchester die kurz zuvor entdeckte Komposition, die Glinka mutmaßlich als Hymne für das Zarenreich seiner Zeit angedacht, jedoch letztendlich nie vollendet und publiziert hatte. Weil das Musikstück dem beisitzenden Jelzin so gut gefiel, bat er das Orchester, das Stück erneut vorzutragen. Wie es normalerweise nur bei Nationalhymnen üblich ist, erhoben sich einige der Anwesenden zu den Klängen von Glinkas Patriotischem Lied, woraufhin dessen Status als Nationalhymne besiegelt schien.1
Im Jahr 1993, als die Sowjetunion bereits aufgelöst worden und die RSFSR zur Russischen Föderation übergegangen war, griff Jelzin bei der Auswahl der Hymne auf eben jene Komposition zurück und entschied Glinkas Patriotisches Lied per Dekret zur Hymne der jungen Nation.
Dies sollte nun eine doppelte Leerstelle füllen: Auf der einen Seite führte es zur musikalischen (Re-)Nationalisierung Russlands im postsowjetischen Raum, auf der anderen Seite sollte das Werk angesichts der in Abwicklung begriffenen Sowjetunion neue Sinninhalte stiften. In den 1990er Jahren hatte das Patriotische Lied jedoch einen schweren Stand. Es wurde unfreiwillig zum Soundtrack von Turbokapitalismus und Hyperinflation, die vielen ehemaligen Sowjetbürgern den wirtschaftlichen und moralischen Boden unter den Füßen wegzogen. Außerdem fehlte es der Hymne an einem entscheidenden Detail: Glinka selbst hatte das Klavierstück instrumental komponiert und nicht mit Text unterlegt. Wer in die Melodie einstimmen wollte, dem blieb also nur das Mitsummen. Sehr spät, im Jahr 1999, suchte ein Wettbewerb nach Worten zur Melodie. Viktor Radugin gewann mit seinem Vorschlag Slawsja Rossija (dt. „Ruhm dir, Russland“), die Zeilen des Textes wurden jedoch letztendlich nicht zur Hymne hinzugefügt.
Als Wladimir Putin im Mai 2000 das Präsidentenamt übernahm, vergingen nur ein paar Wochen, bis sich Athletinnen und Athleten angesichts der Olympischen Sommerspiele in Sydney an den neuen Machthaber wandten. Sie gaben zu Protokoll, wie sehr es sie gekränkt habe, im Gegensatz zu ihren Mitstreitern nicht ihre Hymne mitsingen zu können. Das Ersuchen nahm Putin als Steilvorlage, um mit der Einsetzung der neuen Hymne ein erstes Zeichen zu setzen.
Putin verzeichnete mit der Einführung der „neuen alten“ Hymne einen wichtigen Erfolg. Sie war ein kulturelles Vorzeichen für die in den folgenden Jahren dominante Erinnerungspolitik, die den Stolz auf das sowjetische Erbe über- und die Schattenseiten der eigenen Vergangenheit unterbetonte. Die Aneignung der Hymne in den folgenden Jahren machte jedoch auch die Widersprüchlichkeit dieser besonderen „akustischen Politik“ deutlich. Nicht wenigen dürfte das Erklingen der Hymne zur Beerdigung von Boris Jelzin im Jahr 2007 merkwürdig erschienen sein. Eine Umfrage aus dem Jahr 2009 behauptete, dass 56 Prozent der Befragten „stolz“ seien, wenn sie die Nationalhymne hörten. Gleichzeitig war es damals weniger als der Hälfte der Befragten möglich, die erste Zeile des Textes zu zitieren.2
Zehn Jahre später wird vielen jungen Menschen in den Stadien des eigenen Landes der sowjetische Kontext der Hymne kaum mehr präsent erscheinen. Als musikalischer Zeitsprung verknüpft sie jedoch bis heute russische Gegenwart unmittelbar mit sowjetischer Vergangenheit.