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In Russland wurden seit Beginn der Invasion zahlreiche Gesetze verschärft, um Proteste zu unterdrücken – mit Gummi-Paragraphen, die willkürlich ausgelegt werden. So droht Lagerhaft all jenen, die offen von Krieg sprechen, angeblich Falschinformationen verbreiten oder die – in den Augen der Sicherheitsorgane – die russischen Streitkräfte diskreditieren.
Trotzdem gibt es Andersdenkende, die zeigen, dass sie nicht einverstanden sind. Die Formen, wie sie das tun, haben sich in den Monaten des Krieges verändert. Viele agieren anonym, um sich zu schützen, andere haben sich radikalisiert und wenden Gewalt an.
Die Gesetze, die die „Verbreitung von Falschinformationen“ über die russische Armee unter Gefängnisstrafe stellen, haben zur Folge, dass in zahlreichen öffentlichen Antikriegsbotschaften kodierte Sprache verwendet wird. Die prominenteste und am häufigsten kreativ umschriebene Botschaft ist dabei „Net Woine“ - „Nein zum Krieg“. Statt diese beiden Worte selbst aufs Plakat zu schreiben fanden sich zum Beispiel Botschaften wie „Zwei Worte“ oder „*** ****“ - und alle wissen, was gemeint ist.
Bekannt wurde eine Aktivistin aus Sibirien, die „Net w***e“ geschrieben hatte, verklagt wurde und dann das Gericht überzeugen konnte, sie habe „Net Woble“ gemeint – Nein zur Wobla. Die Wobla ist laut Wikipedia „eine endemisch im Kaspischen Meer und an der unteren Wolga vorkommende Fischart“. Doch die Geschichte geht nicht so lustig weiter, denn das Verfahren wurde mittlerweile wieder aufgerollt. Ein Urteil ist wahrscheinlich.
Die zahlreichen Repressionen gegen führende Köpfe verschiedener oppositioneller Organisationen und Strömungen, die teils zu Gefängnisstrafen und teils zu Auswanderung führten, haben die Organisation von Widerstand enorm erschwert. Auch aus diesem Grund ist die Antikriegsbewegung kein kollektiver Akteur. Das bedeutet aber keineswegs, dass es keinen Widerstand gibt. Auch jenseits gewaltsamer Aktionen, wie den Brandanschlägen auf Einberufungsämter oder Attentaten auf Kriegspropagandisten, gibt es immer wieder Individuen, die sich dem Krieg friedlich entgegenstellen – auf ganz unterschiedliche Art. Wichtig sind nach wie vor die Einzelproteste mit Antikriegsbotschaften, teils in Coded Language. Aber es gibt immer wieder auch andere kreative Wege des Protests, bei denen jedoch immer die Möglichkeit im Raum steht, dass sie mit Repressionen beantwortet werden. In Wologda stand etwa im Dezember 2022 der 61-jährige Wladimir Rumiantsew vor Gericht, weil er mit Hilfe eines selbstgebauten Radiosenders im Umkreis seiner Wohnung kritische Radioprogramme, unter anderem vom sonst nur noch online zu hörenden Sender Echo Moskwy, weiterverbreitet hatte. Der Staatsanwaltschaft war es zwar nicht gelungen, eine Person aufzuspüren, die diese Programme empfangen hatte. Das hinderte sie jedoch nicht daran, ihn anzuklagen. Rumiantsew wurde wegen der Verbreitung von „Falschinformationen“ über die russische Armee zu drei Jahren Strafkolonie verurteilt.
Als weniger gefährliche Variante, Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, gilt noch immer die direkte Kontaktaufnahme mit Politiker:innen und Ämtern. So berichtet der Duma-Abgeordnete der Kommunistischen Partei Michail Matwejew regelmäßig bei Telegram von Bürger:innen, die ihn um Hilfe ersuchen – im Herbst 2022 etwa ging es oft um Ausnahmen von der Mobilisierung, die Frauen und Mütter für ihre Männer und Söhne erwirken wollten. Solche individuellen Maßnahmen haben einerseits mitunter größere Chancen auf Erfolg, weil sich Abgeordnete mit der Unterstützung Einzelner profilieren können und sie das System nicht viel kosten. Sie können aber andererseits genau deshalb wenig gegen den Krieg ausrichten und helfen sogar dabei, eine mögliche kollektive Organisation von Unmut zu zerstreuen – weil Einzelnen auf diese Weise manchmal geholfen wird.
Etwas anders gelagert ist das Projekt des Aktivisten Michail Pletnjew, der zu Beginn der russischen Invasion ein System programmierte, das die Kontaktaufnahme zu Abgeordneten technisch stark erleichtert und vorformulierte Texte zu verschiedenen kriegskritischen (aber gleichwohl „erlaubten“) Themen anbietet – etwa zur Unterstützung von Geflüchteten aus der Ukraine, zur atomaren Deeskalation oder zur Forderung an Putin, eine Anordnung zum offiziellen Ende der Mobilisierung zu unterzeichnen. Die meisten Eingaben auf der Website des Projekts – 14.900 im April 2023 – hat die Forderung nach der Umsetzung des in der Verfassung festgeschriebenen zivilen Ersatzdienstes für alle, die der Mobilisierung unterliegen.
Seit Beginn der Invasion haben hunderttausende junge bis mittelalte, gut ausgebildete Stadtbewohner:innen das Land verlassen. Einige haben dies mit Blick auf die eigenen ökonomischen Entwicklungsperspektiven getan – andere aus regimekritischen Gründen, aus Furcht vor Einberufung, manchmal ist es auch beides zusammen. Teile dieser neuen Emigrationsbewegung organisieren – zusammen mit anderen, bereits im Ausland ansässigen Russinnen und Russen – seitdem immer wieder Anti-Kriegs-Proteste außerhalb Russlands. Häufig beteiligen sich daran auch prominente Exil-Oppositionelle wie Garri Kasparow oder Michail Chodorkowski.
Die Proteste finden oft vor den diplomatischen Vertretungen Russlands im Ausland statt, oder an anderen zentralen Orten der westlichen Hauptstädte. Damit sollen Forderungen direkt an die russische Führung adressiert werden, die zumeist ungehört verhallen, bestenfalls in Stellungnahmen, Tweets oder Telegram-Posts ironisch kommentiert werden.
Proteste an symbolträchtigen Orten sollen auch den im Westen teils bestehenden Eindruck einer lethargischen bis kriegsstützenden russischen Gesellschaft zerstreuen, der angesichts der Kriegsverbrechen russischer Soldaten und der zahlenmäßig schwachen Proteste innerhalb Russlands bei vielen entstanden ist. Das hat zwei Effekte: Die Proteste tragen im Westen tatsächlich zur Aufklärung bei. Sie unterstreichen, dass die vielen Kriegsgegner:innen in Russland vor allem aufgrund der exorbitanten Repression so wenig sichtbar sind. Zugleich bedienen diese Exilproteste ein Bild „guter Russen“ und tragen so ihrerseits dazu bei, der (im Land verbliebenen) russischen Bevölkerung eine Kollektivschuld zuzuschreiben.
Trotzdem liegt in den Protesten eine Chance, nämlich das Bild eines positiven, zukunftsgewandten, neuen Russlands ohne geopolitische Minderwertigkeitskomplexe und imperiale Ansprüche zu begründen. Als visuelles Symbol eines solchen „generalüberholten“ Russlands dient die weiß-blau-weiße Flagge. Ihr fehlt das Rot der russischen Flagge, das laut Aktivisten als „Farbe des Blutes“ die russische Trikolore als positives Identifikationssymbol spätestens seit der Invasion diskreditiert habe1.
Die Gruppe gründete sich im Februar 2022 unmittelbar nach der Invasion. Auf Telegram wuchs sie schnell zu einer der größten Communities des Antikriegs-Protests heran. Die Aktivisten sprayen Graffiti, halten Einzelproteste ab, verteilen Flyer und organisieren andere Formen des Protests. Eine wichtige Protagonistin der Gruppe ist die Aktivistin, Lyrikerin und Kuratorin Daria Serenko. Bekannt unter anderem für das Projekt FemDatscha, ein 2020 gegründetes queer-feministisches Projekt außerhalb Moskaus, rief sie drei Tage nach der Invasion die Russinnen und Russen zum Widerstand auf:
„[...] Hört auf, erbärmliche Feiglinge, Konformisten, geduldige Leidtragende, loyale Bürger zu sein, hört auf, unpolitisch zu sein.
Die Welt hat sich verändert. Unsere Apathie könnte die Ursache für die Zerstörung einer großen Zahl von Menschen sein, einschließlich unserer Kinder und Angehörigen.
Hört auf, in Cafés zu sitzen. Hört auf, Urlaube zu planen. Hört auf, der Propaganda zuzuhören. Sterbt nicht als Idioten. Hört auf, Angst vor Gefängnis und Festnahmen zu haben, ich schwöre bei Gott, das sind nicht die schlechtesten Optionen.
Schließt euch Antikriegsaktivist:innen und -bewegungen an. Protestiert gegen diesen Krieg. [...]“
Während sich eine internationale Gruppe von Feministinnen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen hatte und sich in ihrem Manifest auf den FAS bezogen hatte, stellt die Gruppe in ihren Statements häufig klar, dass Gewalt dann als legitimes Mittel anzusehen sei, wenn es um die „Befreiung von der Unterdrückung“ gehe2. So solidarisierte sich der FAS auch mit den ukrainischen Feminist:innen, die in ihrem Manifest wiederrum erklärten:
„Ein abstrakter Pazifismus, der alle am Krieg beteiligten Seiten verurteilt, führt in der Praxis zu unverantwortlichen Lösungen. Wir bestehen auf dem wesentlichen Unterschied zwischen Gewalt als Mittel der Unterdrückung und als legitimes Mittel der Selbstverteidigung.“
Am 20. August 2022 kam Daria Dugina, konservative Aktivistin und Tochter des faschistischen Philosophen Alexander Dugin, bei einem Anschlag auf Dugins Auto bei Moskau ums Leben. Kurz darauf reklamierte der russische Exiloppositionelle Ilja Ponomarjow den Anschlag für die von ihm angeblich unterstützte Partisanengruppe „Nationale Republikanische Armee“. Die Existenz dieser Gruppe ist jedoch zweifelhaft; unabhängige Bestätigungen ihrer Aktivitäten und ihrer Zusammensetzung fehlen.
Am 2. April starb der ukrainische Staatsbürger Maxim Fomin bei einem Attentat in Sankt Petersburg. Fomin war ein glühender Unterstützer des Krieges und hatte unter dem Pseudonym Wladlen Tatarski als „Militärblogger“ bei Telegram vom Krieg berichtet. Fomin war am Rande der Zeremonie im Kreml zur Annexion der vier ukrainischen Oblasten im September 2022 durch die Äußerung aufgefallen, nun werde man „alle besiegen, alle töten [...]. Alles wird kommen, wie wir es lieben.“ Er starb durch eine Bombe, die mutmaßlich in einer Büste versteckt war und die eine junge Frau ihm anlässlich eines Auftritts in einem Sankt Petersburger Café überreicht hatte. Die Frau, Daria Trepowa, wurde zwei Tage später verhaftet. Sie soll laut Behörden Alexej Nawalnys FBK nahegestanden haben.
Die Umstände beider Anschläge sind ungeklärt, Spekulationen reichen von Aktionen des ukrainischen Geheimdienstes über False-Flag-Aktionen der russischen Geheimdienste bis zur Existenz von oppositionellen Untergrundnetzwerken in Russland. Wenngleich nichts davon gesichert ist, ist es doch nicht unmöglich, dass sich der russische Widerstand in geheimer und dezentraler Form auch in gewaltsamen Aktionen gegen die Propagandisten des Krieges äußert.
Es gibt immer wieder Brandanschläge auf die Strukturen der Armee, insbesondere auf die Einberufungsämter. Der erste dieser Art fand schon drei Tage nach dem russischen Einmarsch statt. Der Attentäter veröffentlichte dazu ein Manifest, unter anderem mit den Worten „Die Ukrainer werden wissen, dass Russen für sie kämpfen; nicht alle haben Angst, nicht jedem ist [der Krieg] gleichgültig.“ Insgesamt schätzt das Online-Medium Mediazona die Zahl der Anschläge bis Ende 2022 auf etwa 77.
Die Anschläge stehen für einen kleinen Teil der Kriegsgegner, die sich – infolge der Radikalisierung des Regimes – ebenfalls radikalisieren. Anstatt bei Straßenprotesten „nur“ ihre Meinung zu äußern und damit letztlich an die Herrschenden zu appellieren, versuchen sie, die Kriegsmaschinerie so zu beschädigen, dass die materiellen Kosten für diesen Krieg steigen. Sabotage kann sehr effektiv sein, ist aber naturgemäß eine gefährliche Angelegenheit und wird daher nur für eine verschwindend geringe Minderheit in Frage kommen.
In einigen Telegram-Chats haben sich lokale Freiwillige zusammengefunden, um Hilfe für ukrainische Geflüchtete zu organisieren, die weiter nach Europa reisen wollen. Nicht alle Russinnen und Russen, die sich für Geflüchtete aus der Ukraine engagieren, sind gegen den Krieg. Doch Interviews zeigen, dass die Flüchtlingshilfe für viele, die aufgrund der immensen Repressionen vor radikalerem Widerstand zurückschrecken, eine willkommene Möglichkeit ist, sich einzubringen und auch das eigene Gewissen zu entlasten.
Auch Künstlerinnen und Künstler sahen sich mit Beginn der Invasion vor die Frage gestellt, ob sie dagegen Position beziehen und damit den Ausschluss aus der Kulturszene oder andere Konsequenzen riskieren, oder ob sie stattdessen versuchen, den Krieg zu ignorieren – oder ihn sogar positiv in ihr Werk einzubeziehen. Beispiele gibt es für jede dieser Varianten.
Gleich nach der Invasion äußerten sich zum Beispiel die Sängerin Zemfira, der Sänger Waleri Meladse, der Comedian Maxim Galkin oder der Talkshow-Host Iwan Urgant unmissverständlich gegen den Krieg. Sie alle (und viele weitere) beendeten damit faktisch ihre Karriere in Russland. Urgants beliebte Prime-Time-Show im staatlichen Ersten Kanal wurde abgesetzt, Zemfira und Galkin emigrierten und treten nur noch im Ausland auf.
Der Sänger und Satiriker Semjon Slepakow versuchte es zunächst mit vorsichtigeren Tönen. Er erklärte, dass Frieden nötig sei, sparte aber zunächst mit direkter Kritik. Im Herbst 2022 veröffentlichte er schließlich einen kritischen Song und emigrierte nach Israel. Auch die große Alla Pugatschowa gab sich lange zurückhaltend, bis sie mit einer klaren Antikriegsposition längst nicht nur Beifall sondern viel Kritik und Schmähung erntete.
Auch abseits der großen Bühnen setzten sich viele Künstler:innen gegen den Krieg ein. Beispielhaft steht dafür die Sankt Petersburger Musikerin Sascha Skotschilenko, der als eine der ersten ein Verfahren über das Verbreiten von „Falschinformationen“ über die russische Armee angehängt wurde, weil sie Preisschilder im Supermarkt gegen kleine Zettel mit Informationen zu zivilen Kriegsopfern ausgetauscht hatte.
Die anderen Haltungen zum Krieg sind jedoch nicht weniger zahlreich zu finden: Viele lassen sich in die Propaganda einspannen und leihen den Kriegszielen ihren Namen. Im Herbst veröffentlichte ein Kollektiv, bestehend aus bekannten Sänger:innen wie zum Beispiel Stas Michailow, einen gemeinsamen Clip zum Titel Wstanem („Wir stehen auf“) des Sängers Shaman (Jaroslaw Dronow). Der Song handelt von den Helden des Zweiten Weltkriegs, im Clip sind aber zu Worten wie „solange Gott und die Wahrheit mit uns sind“ immer wieder aktuelle Szenen des Krieges gegen die Ukraine zu sehen.
Gleich nach dem Einmarsch haben sich einige wenige Politiker der systemischen Opposition, vor allem der Kommunistischen Partei, zu Wort gemeldet. Darunter war der Duma-Abgeordnete Michail Matwejew, der sagte, er habe bei der Abstimmung über die Anerkennung der ukrainischen Donbas-Republiken als unabhängige Staaten mit seinem Ja „für Frieden“ gestimmt, und „nicht dafür, Kiew zu bombardieren“3. Es gab auch einige regionale Abgeordnete, die sich gegen den Krieg aussprachen. Einen solchen Fall gab es zum Beispiel in Wladiwostok mit zwei Abgeordneten, die beide sofort aus ihrer Fraktion ausgeschlossen wurden. Solche Stimmen sind jedoch Einzelfälle.
Anders ist das bei der liberalen Partei Jabloko. Sie hat sich als einzige der offiziell zugelassenen Parteien offen gegen den Krieg positioniert und hält diese Position seit Kriegsbeginn durch. Für die öffentliche Meinung spielt sie indes so gut wie keine Rolle: Die Partei ist seit Jahren komplett marginalisiert. Sie ist außerdem unter der nicht-systemischen Opposition, also den kompromissloseren Regimegegnern, weitgehend diskreditiert – weil sie als zahnlos gilt, ohne nennenswerten Einfluss gegen das System Putin.
Einer der letzten prominenten Politiker dieser demokratischen nicht-systemischen Opposition, Ilja Jaschin, hat sich ebenfalls deutlich gegen den Krieg ausgesprochen. In einem YouТube-Livestream sprach er über die getöteten Zivilisten in Butscha, woraufhin die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen der „Verbreitung von Falschinformationen“ über die russische Armee eröffnete. Er hat das Land nicht verlassen und wurde im Dezember 2022 zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt.
Ähnlich erging es dem liberalen Lokalpolitiker Alexej Gorinow. Er hatte im März bei der Sitzung eines Moskauer Stadtteilparlaments dazu aufgerufen, die russische Armee abzuziehen und hatte die „Spezialoperation“ einen Krieg genannt. Gorinow wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt.
Der Name der Organisation OWD leitet sich von der Bezeichnung „organy wnutrennych del“ – „Organe des Inneren“ – ab, die die Einheiten der Polizei und weiterer Behörden zur Wahrung der inneren Sicherheit umfasst. Die Organisation besteht seit 2011 und widmet sich der juristischen Unterstützung für Menschen, die von Repression betroffen sind, außerdem der Aufklärung über politische Repression. Dazu stellt sie hilfreiche Informationen für politische Aktivist:innen zusammen, bietet juristische Beratung an und vermittelt anwaltliche Unterstützung. Sie hat zudem ein Netz von Korrespondent:innen in den russischen Regionen, die von Repressionsfällen berichten. OWD-Info sammelt systematisch Daten zu politisch motivierten Gerichtsverfahren und Verurteilungen: Sie zählt zum Stand August 2023 19.786 Festnahmen im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten, 7683 eingeleitete Verfahren zur „Diskreditierung der Streitkräfte“ (darunter auch Ordnungswidrigkeiten) sowie 663 Strafverfahren gegen Personen für ihre Antikriegsposition.4
Zu Beginn der Invasion setzten verschiedene Gruppen offene Briefe und Petitionen gegen den Krieg auf. Neben allgemeinen Antikriegs-Petitionen, wie es sie vom Feministischen Widerstand (rund 110.000 Unterschriften, Stand September 2023) und von dem Menschenrechtler Lew Ponomarjow (rund 1,3 Millionen Unterschriften, Stand September 2023) gab, waren dies häufig Offene Briefe von bestimmten Berufsgruppen oder anderer klar umrissener Kollektive. Darunter war zum Beispiel ein Brief, der von über 8000 ganz überwiegend in Russland ansässigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, ein offener Brief von Kino- und Filmschaffenden sowie ein Brief russischer Ärztinnen und Ärzte. Internationale Aufmerksamkeit erregte auch die Stellungnahme regionaler Abgeordneter aus Sankt Petersburg, die im September 2022 aufgrund des Krieges eine Petition der Staatsduma gegen Wladimir Putin wegen Hochverrats forderten.5 Die beteiligten Abgeordneten leben teils inzwischen im Exil, teils wurden strafrechtliche Verfahren eröffnet wegen „Diskreditierung der Streitkräfte“.
Ähnlich wie die Proteste von Russinnen und Russen im Ausland dienen diese Stellungnahmen weniger der direkten Beeinflussung der Politik in Russland, sondern mehr der Signalisierung, dass es noch zahlreiche kritische Geister gibt, die in einer möglichen Post-Putin-Ära als Repräsentanten eines möglichen neuen Russlands (das zur Zeit freilich nicht mehr ist als ein Wunschtraum) zur Verfügung stehen.
Im Rückblick ist die große Repressionskampagne des russischen Staates gegen Alexej Nawalnys Organisationen und gegen unabhängige Medien im Jahr 2021 fast zweifelsfrei als Kriegsvorbereitung zu interpretieren. Der organisierte Widerstand, dessen ressourcen- und reichweitenstärkster Repräsentant die Gruppe um Nawalny war, sollte präventiv zerschlagen werden. Trotzdem sind gleich zu Beginn der russischen Invasion zahlreiche Menschen in spontanen Aktionen auf die Straßen gegangen. Einzelne Politiker:innen riefen zum Protest auf, wie auch die Aktivistengruppe Wesna, die im April 2022 die vorletzte Protestwelle organisierte – zu der aber kaum noch jemand kam. Die letzten größeren Demonstrationen mit einigen hundert bis tausend Menschen gab es dann im September 2022 nach Ausrufung der „Teilmobilmachung“ in verschiedenen Landesteilen. So bleibt der Protest anonym, unorganisiert, und schwach. Das bedeutet nicht, dass er wirkungslos wäre; aber unmittelbare Auswirkungen auf die großen Entscheidungen in Bezug auf den Krieg sind von möglichen Protesten nicht zu erwarten.6
Pikety sind kleine Protestkundgebungen ohne Bühne und Lautsprecher, die sich – im Gegensatz zum Demonstrationszug – nicht von der Stelle bewegen. Der „odinotschny piket“, der Einzelprotest, hat in den letzten Jahren eine immer wichtigere Rolle im russischen Repertoire des Protests eingenommen, denn er ist immer noch die öffentliche Protestform, die nicht grundsätzlich der Absprache (das heißt einer de-facto Genehmigung) der Behörden bedarf. Als die spontanen Kundgebungen und Demonstrationen nach Russlands Einmarsch immer gefährlicher wurden, waren Einzelproteste zunächst für viele das Mittel der Wahl. Es gibt sie immer noch zuweilen, an U-Bahn-Stationen und anderen belebten Orten, auch wenn man mittlerweile grundsätzlich mit Verhaftung und Gefängnis rechnen muss. Denn jede Antikriegsäußerung in der Öffentlichkeit kann grundsätzlich als Begründung für ein Strafverfahren wegen „wissentlicher Verbreitung von Falschinformationen“ herangezogen werden.
Wesna ist eine politische Jugendgruppierung, die aus der liberalen Partei Jabloko in Sankt Petersburg hervorgegangen ist. Im Jahr 2012 gab es einen innerparteilichen Streit zwischen zwei aufstrebenden Abgeordneten, die sich weigerten, ihre erfolgreich errungenen Mandate an die Altvorderen abzutreten. Das führte zum Ausschluss, dem weitere Parteianhänger folgten. Daraus formierte sich unter anderem auch Wesna. Die Gruppe hat seither zahlreiche Protestaktionen organisiert, die in Petersburg für Aufsehen gesorgt haben.
Wesna hat auch zum Antikriegsprotest nach dem 24. Februar 2022 beigetragen, gilt als eine der wenigen Kräfte, die überhaupt noch Menschen mobilisieren können. Zu Beginn des Krieges hat Wesna mehrmals zu Straßenprotesten aufgerufen, zuletzt im April 2022. Danach verlegten sie sich auf die Ermunterung zu weniger gefährlichen Einzelaktionen, wie das Verteilen von Flyern und Graffiti. Sie posten auch regelmäßig Bilder von visuellen Antikriegsbotschaften aus ganz Russland und organisieren juristische Unterstützung für verfolgte Antikriegsaktivist:innen. Ihre Aktivitäten bei Social Media sind wichtig, um im Inland zu demonstrieren, dass Menschen mit ihrer Haltung nicht allein sind – und ins Ausland das Signal zu senden, dass nicht nur viele Russen gegen den Krieg sind, sondern sich auch trauen, dies mehr oder weniger offen zu zeigen.