Um den 20. Februar 2014 eskalierten die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan. Was genau damals geschehen ist, bleibt bis heute in Vielem unklar und gibt Anlass zu Spekulationen, die unversöhnlich aufeinanderprallen. So wird die Verantwortung für die Gewalt und die Opfer oft ausschließlich auf der Seite der Regierungskräfte oder der Demonstranten verortet, obwohl die Realität wesentlich komplizierter ist.
Kurz vor dem Jahrestag der Ereignisse hat 2016 im russisch- wie ukrainischsprachigen Internet ein Interview mit einem Maidan-Aktivisten für Aufruhr gesorgt, der berichtet, wie er am 20. Februar 2014 aus dem besetzten Kiewer Konservatorium das Feuer auf die Regierungskräfte eröffnet hat. Die Aussagen des Interviews rücken viele allzu einfache Versionen gerade, lassen selbst aber auch zahlreiche Fragen offen: Welche Rolle haben diese Schüsse gespielt? Waren sie es, die – nach bereits zwei vorhergehenden Tagen voller Gewalt und mit insgesamt 39 Todesopfern – dann weitere Angriffe der Sondereinheit Berkut provoziert haben? Inwieweit sind die Aussagen, die im übrigen mit den später rekonstruierten Fakten im Wesentlichen übereinstimmen (siehe unsere Links unter dem Text), vom Wunsch des Befragten beeinflusst, seine eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen?
Das Interview führte Iwan Sijak von bird in flight, einem Internetmagazin, das auf Russisch in der Ukraine erscheint und eine länderübergreifende Leserschaft besitzt. Das Magazin leitet den Text folgendermaßen ein:
„In der Geschichte der modernen Ukraine existiert kein wichtigeres Datum als der 20. Februar 2014. Damals wurden auf den Kiewer Straßen 48 Maidan-Aktivisten und vier Milizionäre erschossen. Bald darauf verließ Präsident Janukowitsch fluchtartig das Land, es begann die Krim-Annexion, dann der Krieg im Donbass. Im weiteren Sinne brachte dieser Tag den ersten Schritt zum Verlust von sieben Prozent des ukrainischen Territoriums und von vielen Tausend Leben.
Am frühen Morgen des 20. Februar konnte man keines dieser Ereignisse vorausahnen. Es hatte bereits schwere Kämpfe gegeben, bei denen 31 Aktivisten und 8 Sicherheitskräfte umgekommen waren, die Miliz [bis September 2014 war das die Bezeichnung der Polizei – dek] hatte die Protestierenden massiv zurückgedrängt und bezog schon Position auf dem Maidan. Auf dem Platz waren bloß noch einige hundert erschöpfte Aktivisten. Es bestand kein Zweifel, dass der nächste Sturm das Ende des Aufstandes bedeuten würde und dieser als schlichte ‚Massenunruhen‘ in die künftigen Lehrbücher eingehen würde.
Seine präzisen taktischen Aktionen schlugen die Sicherheitskräfte in die Flucht und verhinderten den Untergang der Revolution der Würde – mit solch vagen Worten beschreibt die ukrainische Wikipedia die Rolle Iwan Bubentschiks in der Geschichte. Zum ersten Mal erzählte er über die Ereignisse an diesem Tag im Film von Volodymyr Tykhyy Branzi (Die Gefangenen). Im Vorfeld der Premiere traf unser Korrespondent Iwan Sijak den aus Lwiw stammenden Maidan-Aktivisten, um dessen Version der Ereignisse zu erfahren.“
Iwan spricht Ukrainisch, bird in flight gibt seine Worte auf Russisch wieder.
„Ich möchte eine Angelschule für Kinder aufmachen. Das war es, worum ich mich vor dem Maidan gekümmert habe. Als in Lwiw die Studenten anfingen gegen Janukowitsch zu protestieren, bin ich hingefahren, um sie zu unterstützen. Alle sagten, man müsse nach Kiew, also bin ich hin. Schwer zu sagen, an welchem Datum genau, aber es war der erste Tag. Ich war vom ersten Tag an auf dem Maidan.
Zunächst standen wir an der Säule [Denkmal für die Unabhängigkeit der Ukraine], haben die Studenten beschützt. Dann bildeten sich die sogenannten ‚Hundertschaften‘, ich bin der Neunten beigetreten. Wir wohnten in der Gontschar-Straße, im Haus der Partei Narodny Ruch, und sind jede Nacht um halb zwölf runter zur Metrostation unter dem Maidan, als Wachen. Wir hielten alle Ausgänge unter unserer Kontrolle, denn von dort konnten die Sondereinsatzkräfte auftauchen, für Sabotageaktionen oder um die Proteste aufzulösen.
Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan.
Ich erinnere mich, an der Gruschewskaja Straße standen die Sicherheitskräfte des Innenministeriums, die ließen uns nicht durch [zum Regierungsviertel]. Wir hatten einen Brief dabei, dass wir Bürger der Ukraine seien und das Recht hätten, uns frei zu bewegen. Haben gesagt, wenn sie unser Recht darauf bis zum nächsten Tag nicht wiederherstellen, werden wir stürmen. Und so kam es auch. Am nächsten Tag flogen schon Steine und Molotow-Cocktails.
– In den Tagen vor dem 20. Februar haben die Spezialeinheiten von Janukowitsch alles unternommen, um den Maidan zu zerschlagen. Sie legten das Gewerkschaftshaus, das sehr wichtig für uns war, in Schutt und Asche. Wir haben dort gewohnt, geschlafen, haben die Toilette dort benutzt, dort Essen bekommen und medizinische Versorgung. Danach, am nächsten Morgen, gab uns Gott die Chance, ins Konservatorium hineinzukommen. Wir haben einen Roma-Jungen zum Fenster hochgehievt, er hat von innen die Türen geöffnet. Dort konnten wir ein bisschen Schlaf kriegen. Jemand schlief eine Stunde, jemand eine halbe, je nachdem wie viel man eben konnte während der furchtbaren Attacken, die gegen uns im Gang waren. Viele waren verzweifelt, ich aber nicht. Ich glaube fest an die Kraft Gottes und an die Gerechtigkeit.
Im Konservatorium gab es Jungs mit Jagdgewehren. Die schossen mit Schrot auf die Spezialkräfte, die knapp 70 Meter von uns entfernt waren. Aber ich habe sie von den Fenstern vertrieben, denn als Antwort begann die Miliz das Haus mit Molotow-Cocktails zu bewerfen, sie wollten unseren einzigen Zufluchtsort in Brand setzen. Der Schrot ging denen nur auf die Nerven.
Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich zu viel verlange. Also habe ich für 20 gebetet. Und gegen Morgen tauchte dann ein junger Kerl auf mit einer Kalaschnikow und 75 Patronen in einer Tennistasche. Viele würden gerne hören, dass wir die Maschinenpistole den Tituschki abgenommen haben, während der Kämpfe am 18. Februar. Sie hatten damals Waffen erhalten, um uns zu töten. Aber so war das nicht.
– Ich schoss aus dem vom Maidan aus gesehen letzten Fenster im zweiten Stock, hinter den Säulen hervor. Von hier aus waren die Milizionäre beim Denkmal mit ihren Schilden gut zu sehen. Sie standen gedrängt hinter Sandsäcken, rund 200 Mann, mehr hätten dort nicht hingepasst. Immer wieder stießen Trupps mit Pumpguns vor. Die schossen direkt auf die Barrikaden, knallhart.
Ich habe auf die gezielt, die das Kommando hatten. Hören konnte ich nichts, aber ich sah sie gestikulieren. Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse. Schießen habe ich in der Sowjetarmee gelernt. Ich habe auch eine Ausbildung beim Militärgeheimdienst gemacht. Wir wurden dort für Einsätze in Afghanistan und anderen Konfliktgebieten trainiert.
Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse.
Ich habe sie im Genick getroffen, heißt es, und das stimmt. Sie standen zufällig mit dem Rücken zu mir. Ich konnte nicht warten, bis sie sich umdrehen. So hatte Gott sie hingestellt, so geschah es.
Die anderen musste ich nicht töten, nur auf die Beine zielen. Ich verließ das Konservatorium und bewegte mich entlang der Barrikaden. Schoss, um den Eindruck zu erwecken, wir hätten 20 bis 40 Maschinengewehre. Bat die Jungs, einen schmalen Schlitz zwischen den Schutzschilden für mich offen zu lassen. Das wird jetzt mancher nicht gern hören ... Die weinten vor Freude. Die wussten, dass wir das unbewaffnet nicht schaffen.
– Ich kam bis zum Gewerkschaftsgebäude, dann hatte ich keine Patronen mehr. Aber es hatte sich bereits herumgesprochen, und die Sicherheitskräfte rannten davon. Sie warfen alles hin. Sie kletterten übereinander weg wie die Ratten.
Nicht alle ihre Einheiten schafften es, den Maidan-Aktivisten zu entkommen. Unsere Jungs kletterten über die Barrikaden und sind hinter ihnen her. Sie nahmen Gefangene, Gruppen von zehn, zwanzig Leuten und führten sie hinter den Maidan, Richtung Kiewer Stadtverwaltung. Die aktivsten von unseren Helden verfolgten sie bis zur Institutsstraße, und dann kam bald der Befehl, auf die Demonstranten zu schießen.
Mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig.
Das war ein schwerer Moment, denn ich wusste, dass ich die Schüsse gegen unsere Jungs aufhalten konnte. Auf dem Maidan versprachen mir ein paar Leute, Patronen zu bringen – ich sage nicht, wer, aber es waren Personen mit einigem Einfluss. Ich glaubte ihnen, lief hin und her ... Das waren die schwersten Minuten meines Lebens, ich war völlig hilflos. Es heisst immer, auf dem Maidan gab es viele Waffen. Aber das stimmt nicht. Niemand hätte sonst zugelassen, dass die Miliz auf unsere Leute schießt. Aus meiner Hundertschaft auf der Institutsstraße sind Igor Serdjuk und Bogdan Wajda umgekommen.
– Ich verteidige meine Heimat, mein Volk. Als ich keine Patronen mehr hatte, war das für mich, als hätte man einem Chirurgen das Skalpell genommen. Ein Patient braucht dringend Hilfe, doch der Chirurg hat kein Skalpell ... Und der Mensch stirbt vor den Augen des Arztes.
Ich habe in der ATO-Zone Berkut-Leute getroffen, die für die Ukraine kämpfen. Aber ich will nur mit Leuten zu tun haben, die wie ich sind, oder besser. Es gab gewisse brenzlige Momente ... Wenn sie bewusst Krieg führen, und nicht für Orden oder Privilegien, dann kann der Krieg eine Läuterung für sie sein. Zu tun haben will ich trotzdem nichts mit ihnen.
Auf dem Maidan sind wir einen Schritt in die richtige Richtung vorangekommen und um eine Erfahrung reicher geworden, die uns weitermachen lässt. Aber mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig. Deswegen will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Und sie mit mir? Nach der Premiere des Films wahrscheinlich schon.
Meine Opfer sind Verbrecher, Feinde. Ich muss reden, damit die anderen wissen, was mit Feinden zu tun ist.“
Informationen und Links:
Bei der Diskussion darum, wer wann auf wen geschossen hat, darf eines nicht vergessen werden: Gegen friedliche Demonstrationen im November und Dezember 2013 setzten Polizei, Spezialeinheiten und der Geheimdienst SBU brutale Gewalt ein. Währenddessen schwollen die kleinen, pro-europäischen Proteste im November zu einer riesigen, landesweiten Protestbewegung an. Ziviler Widerstand und Selbstorganisation kennzeichneten diese größtenteils gewaltfreie Bewegung, an der russischsprachige Ukrainer genauso ihren Anteil hatten wie ukrainischsprachige. Politiker aus Janukowitschs Lager liefen zur Opposition über, seine Machtbasis bröckelte bereits vor dem 20. Februar. All das kann und soll den Einsatz von Gewalt seitens einiger Demonstranten nicht rechtfertigen. Die Ereignisse müssen aber im Zusammenhang gesehen werden.
Daher hier einige Links zu Artikeln und Dokumentationen, die die Proteste und ihre Eskalation zu rekonstruieren versuchen. Die Redaktion beabsichtigt dabei keine einheitliche, widerspruchsfreie Darstellung. Angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Ereignisse ist das auch kaum möglich.
Die Proteste:
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Ein Artikel aus den Ukraine-Analysen zum Verhältnis von zivilem und gewaltsamem Widerstand http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen130.pdf
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Eine Übersicht zu den verschiedenen Spezialeinheiten und inoffiziellen Truppen der Regierung sowie zu deren gewaltsamen Aktionen gegen Demonstranten http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/ukraine-janukowitschs-willige-und-weniger-willige-helfer-12812695.html
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Eine soziologische Analyse der Maidan-Aktivisten im Vergleich zur Orangenen Revolution 2004 http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen128.pdf, S. 14-17.
Der 20. Februar 2014:
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Dieser BBC-Bericht stützt die Schilderungen aus dem vom bird in flight publizierten Interview https://web.archive.org/web/20160331194300/https://www.bbc.com/news/magazine-31359021
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Eine Chronik der Ereignisse vom 11. bis 23. Februar, zusamengestellt aus im Internet frei zugänglichen Quellen: http://www.laender-analysen.de/ukraine/pdf/UkraineAnalysen128.pdf, S. 24-32.
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Dieser Artikel referiert die offizielle Darstellung zu den Schüssen vom 20. Februar http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/ukraine-regierung-behindert-aufklaerung-der-majdan-morde-13515455.html
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Eine Auswertung großer Datenmengen und zahlreiche Belege gegen die Version der offiziellen Ermittlung, nach der die Spezialeinheit Berkut für den Tod von 39 Demonstranten am 20. Februar verantwortlich sei https://www.academia.edu/8776021/The_Snipers_Massacre_on_the_Maidan_in_Ukraine
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Eine Rekonstruktion im Spiegel zu Schüssen von Demonstranten auf Regierungskräfte http://www.spiegel.de/politik/ausland/maidan-jahrestag-in-kiew-das-unaufgeklaerte-massaker-a-1019044.html